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Der dritte Teil der Theorie und Geschichte der Reformpädagogik behandelt staatliche Schulreformen und reformpädagogische Schulversuche aus der Zeit von 1945 bis zur Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Der Band 3.1 konzentriert sich auf Reformentwicklungen in der SBZ und in der DDR. Sie wurden eingeleitet durch das "Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" von 1946 und führten zum Aufbau einer Einheitsschule, in der Erziehung und Schule in den Dienst einer sozialistischen und kommunistischen Erziehung traten. Vorgestellt werden Konzepte und Erfahrungen aus Reform-,…mehr

Produktbeschreibung
Der dritte Teil der Theorie und Geschichte der Reformpädagogik behandelt staatliche Schulreformen und reformpädagogische Schulversuche aus der Zeit von 1945 bis zur Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Der Band 3.1 konzentriert sich auf Reformentwicklungen in der SBZ und in der DDR. Sie wurden eingeleitet durch das "Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" von 1946 und führten zum Aufbau einer Einheitsschule, in der Erziehung und Schule in den Dienst einer sozialistischen und kommunistischen Erziehung traten. Vorgestellt werden Konzepte und Erfahrungen aus Reform-, Versuchs- und Forschungsschulen in Drosedow, Mosel, Kalkreuth, Haubinda,Wesenberg, Seewalde, Rackwitz, Berlin Marzahn sowie aus reformpädagogischen Initiativen der Wende-Zeit. Der Band zeigt, dass das Bildungssystems der DDR keineswegs ohne reformpädagogische Anstrengungen auskam, sondern eine spezifische Variante sozialistischer Reformpädagogik hervorgebracht hat.
Autorenporträt
Dr. Dietrich Benner, Professor für Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2003

Emile und die Pädagogen

Je desolater die Lage an den normalen Schulen erscheint, desto attraktiver erscheint die Reformpädagogik. Doch ihr Erfolg verdankt sich einem Mißverständnis.

VON JÜRGEN KAUBE

Sonnenstich war der Rektor. Was Affenschmalz und Knüppeldick unterrichteten, ist nicht überliefert. Aber Professoren am Gymnasium waren sie auch, so wie Fliegentod und Zungenschlag, der stotterte. An den Wänden hingen die Bildnisse von Pestalozzi und Rousseau. Mahnend, wie man sagen darf, und zugleich als Ausweis von Heuchelei. Denn die Szene aus Frank Wedekinds Drama "Frühlings Erwachen" von 1891 gehört in den Kontext der damaligen Kritik an einer Schule, die an den pädagogischen Idealen der Klassiker Verrat geübt habe. Statt Bildung Buchwissen, statt Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden die Anstalt, statt Gespräch Drill. Als Reaktion auf diesen Zustand entstand, was später unter dem Titel "Reformpädagogik" zusammengefaßt wurde: Landerziehungsheime, Waldorf-, Jena-Plan- und Odenwaldschulen.

Gemeinsam war diesen und anderen Versuchen zweierlei. Zum einen die Forderung, Erziehung müsse "vom Kinde aus" erfolgen. Zum anderen die Kombination dieser Forderung mit allerlei Zusatzideologien, beispielsweise der Anthroposophie, dem Sozialismus, der Freikörperkultur oder mit Thesen über den Vorzug des Lebens im Grünen gegenüber der Stadt. Diese Ideologien werden von vielen, die auch heute noch die Ideen der Reformschulen mustergültig finden, nicht mehr geteilt. Das Argument lautet, daß sich die Pädagogik solcher Schulen von den merkwürdigen Ansichten ihrer Gründer trennen läßt. Gut sei der erzieherische Kern: die Idee vom "schülerzentrierten Unterricht" in Projekten, von der Ausschöpfung kindlicher Kreativität und davon, daß Erziehung die natürlichen Anlagen des Kindes sich entfalten lassen solle. Man schlage eine beliebige Eltern-Zeitschrift auf - in jedem Heft sind solche Wendungen zu finden.

Aber handelt es sich bei der "Erziehung vom Kinde aus" nicht ebenfalls um eine Ideologie? In ihrer Geschichte der Reformpädagogik, deren zweiter Band jetzt vorliegt, weisen die Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner und Herwart Kemper jetzt auf einen interessanten Befund hin. Viele Reformpädagogen hätten die Vorstellung vom Kind als einem Organismus gepflegt, den es zu entwickeln gelte. Alle Keime seien darin schon angelegt, man müsse das Kind nur in eine natürliche Umgebung bringen und ihm möglichst wenig einengende Vorgaben machen. Darum seien zweifelhafte zivilisatorische Errungenschaften wie Plastik, Süßwaren und elektronische Geräte von ihm fernzuhalten. Mit der aufklärerischen Pädagogik des natürlichen Menschen hatte das aber nichts zu tun. "Wir wissen nicht, was unsere Natur uns zu sein erlaubt", heißt es in Rousseaus "Emile". Bildsamkeit des Kindes meinte damals nicht: Erziehung zu etwas Ganzheitlichem, Vollentwickelten. Von "Anlagen", die freizusetzen wären, wußte die erste moderne Pädagogik nichts.

Die Reformpädagogen um 1900 wußten ihrerseits nichts von der unbestimmten Lernfähigkeit des Menschen. Sie ersetzten "Bildung" durch "Entwicklung", und es ist kein Zufall, daß manche von ihnen ausgesprochen biologistische, ja eugenische Motive pflegten. Sie vergaßen, so Benner und Kemper, aber nicht nur die Bildung, sondern auch den Lehrer und die Schule: Daß Kinder zur Selbsttätigkeit aufgefordert werden müssen; und daß die Schule nicht nur die Funktion hat, Erzieher und Zöglinge zueinander zu bringen. Der Wunsch, zwischen beiden eine "Gemeinschaft" oder auch nur "Freundschaft" herzustellen, beruht auf diesem Mißverständnis - so als wäre die Klassenfahrt (ein Projekt!) das Ideal des gelingenden schulischen Unterrichts und das Internat seine ideale Organisationsform. Es ist allerdings bis heute auch ein produktives Mißverständnis. Denn bis heute stehen viele Reformschulen deshalb in gutem Ruf, weil ihre Lehrerschaft aus solchen Idealen die Motive eines beträchtlichen Engagements zieht.

Literaturhinweis: Dietrich Benner und Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, Beltz Verlag, Weinheim 2003.

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