'Gemeinschaft' gehört zu den schillernden Vokabeln der Moderne. Das Aufeinanderprallen einer vermeintlich warmen Gemeinschaft mit einer als kalt empfundenen Gesellschaft steht sinnbildlich für die Geburt soziologischen Denkens am Ende des 19. Jahrhunderts. In diesem Begriff spiegelt sich beinahe idealtypisch das Unbehagen an der Moderne. Im semantischen Speicher der Lebenswelt erscheint Gemeinschaft als Schlüssel zu einer Sozialität, die im Prozess der Modernisierung verdrängt, ausgelöscht, verhindert oder verbannt wurde. Diese positiven Konnotationen sind im Laufe der Geschichte indes zunehmend verblasst. Spätestens im Anschluss an die erschreckenden Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts, in deren Epizentrum die verhängnisvolle Idee der Volksgemeinschaft zirkulierte, hat der Begriff seine vormalige Unschuld endgültig verloren. Diese Kontamination der Gemeinschaftsidee macht bis heute eine neutrale Annäherung an die Thematik unmöglich. Der sozialwissenschaftliche Diskurs zeigt sich entsprechend gehemmt, erst in jüngster Zeit rückt das Thema erneut in den Mittelpunkt eines dezidiert systematischen Denkens. Dieser Band begibt sich auf Spurensuche in einem faszinierenden, aber unwegsamen Gelände.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2010Gemeinschaften
Was könnte politischer sein als die Frage nach dem "Wir"? Der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa hat in der angesehenen Einführungsreihe des Junius Verlags einen Band zu dem umkämpften Begriff der Gemeinschaft verfasst. Das Unternehmen gehorcht einem entschieden normativen Interesse: Die Debatten um den Gemeinschaftsbegriff hätten es immer mit Maximen zu tun, die unser Zusammenleben gestalten, schreibt Rosa und fragt: "Lässt sich die Frage, welche Rechte und Pflichten Mitbürger sich schulden, überhaupt unabhängig von einer durch geteilte Werte, Traditionen und Praktiken geprägten Kollektividentität beantworten?" Gegen den methodologischen Individualismus in den Sozialwissenschaften wird das kollektive setting, in dem der Einzelne lebt, als vorgängiges Muster beschrieben, das wie eine Färbung Denken, Fühlen und Handeln prägt - und zwar unabhängig davon, ob dieses Muster von der jeweiligen Person bestätigt oder negiert wird. Auch als Negativfolie, von der man sich abzulösen sucht, ist die Gemeinschaft permanent präsent: von der Liebes- zur Fahr- und Wohngemeinschaft, von der Glaubens- zur Volks- und Schicksalsgemeinschaft. Der Band ist insoweit ein Glücksfall, als er philosophische und sozialpsychologische Aspekte höchst fruchtbar miteinander in Beziehung bringt. (Hartmut Rosa: "Theorien der Gemeinschaft". Eine Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2010. 208 S., br., 13,90 [Euro].) gey
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Was könnte politischer sein als die Frage nach dem "Wir"? Der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa hat in der angesehenen Einführungsreihe des Junius Verlags einen Band zu dem umkämpften Begriff der Gemeinschaft verfasst. Das Unternehmen gehorcht einem entschieden normativen Interesse: Die Debatten um den Gemeinschaftsbegriff hätten es immer mit Maximen zu tun, die unser Zusammenleben gestalten, schreibt Rosa und fragt: "Lässt sich die Frage, welche Rechte und Pflichten Mitbürger sich schulden, überhaupt unabhängig von einer durch geteilte Werte, Traditionen und Praktiken geprägten Kollektividentität beantworten?" Gegen den methodologischen Individualismus in den Sozialwissenschaften wird das kollektive setting, in dem der Einzelne lebt, als vorgängiges Muster beschrieben, das wie eine Färbung Denken, Fühlen und Handeln prägt - und zwar unabhängig davon, ob dieses Muster von der jeweiligen Person bestätigt oder negiert wird. Auch als Negativfolie, von der man sich abzulösen sucht, ist die Gemeinschaft permanent präsent: von der Liebes- zur Fahr- und Wohngemeinschaft, von der Glaubens- zur Volks- und Schicksalsgemeinschaft. Der Band ist insoweit ein Glücksfall, als er philosophische und sozialpsychologische Aspekte höchst fruchtbar miteinander in Beziehung bringt. (Hartmut Rosa: "Theorien der Gemeinschaft". Eine Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2010. 208 S., br., 13,90 [Euro].) gey
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