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Fragen der Gerechtigkeit und des Sozialstaats. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit ist eine der Herausforderungen der gegenwärtigen politischen Philosophie. Der Band stellt die unterschiedlichen Theorien und Grundlagen der sozialen Gerechtigkeit vor, verfolgt die aktuelle Diskussion der Verteilungsgerechtigkeit bis hin zu Fragen nach Bürgereinkommen, Bürgerarbeit etc. und entwirft schließlich eine eigene Theorie politischer Solidarität.

Produktbeschreibung
Fragen der Gerechtigkeit und des Sozialstaats. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit ist eine der Herausforderungen der gegenwärtigen politischen Philosophie. Der Band stellt die unterschiedlichen Theorien und Grundlagen der sozialen Gerechtigkeit vor, verfolgt die aktuelle Diskussion der Verteilungsgerechtigkeit bis hin zu Fragen nach Bürgereinkommen, Bürgerarbeit etc. und entwirft schließlich eine eigene Theorie politischer Solidarität.
Autorenporträt
Wolfgang Kersting; Professor für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel; Buchveröffentlichungen zu Platon, Machiavelli, Hobbes, Rawls, zu Kants Rechts- und Staatsphilosophie, zur Philosophie des Gesellschaftsvertrags sowie zu verschiedenen Aspekten von Recht und Gerechtigkeit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Nein, du nicht, Obelix
Wolfgang Kersting kritisiert die Verteilungsgerechtigkeit / Von Gerd Roellecke

Der Titel erinnert an ein rechtsphilosophisches Ereignis, an John Rawls' "Eine Theorie der Gerechtigkeit" (1971, deutsch 1975). Mit dem Adjektiv "sozial" gibt er der Gerechtigkeit aber einen spannenden politischen Dreh. Gleichzeitig kündigt er mit dem Plural "Theorien" fundamentalen Widerspruch an. Raffiniert. Und dann hält das Buch, was der Titel verspricht. Freilich muss man Geduld aufbringen. Kersting kennt sich genau aus, schreibt zupackend, ihm gelingen subversive Wortschöpfungen wie "wohlfahrtsstaatliche Wählerbewirtschaftung" oder "Alleinerziehungsduale". Aber es gibt vermeidbare Längen und Wiederholungen. Philosophie als Passion hat eben ihren Preis.

Mit "sozialer Gerechtigkeit" meint Kersting das Gleiche wie die Politiker: Umverteilung, Sozialstaat. Anders als die Politiker fragt er aber, ob Umverteilung überhaupt gerecht ist. Eigentlich erlaubt Gerechtigkeit so wenig Abwandlungen wie Wahrheit. Über "soziale Wahrheit" würde jeder lächeln. Über "soziale Gerechtigkeit" lächeln wir nicht, weil wir uns an das Wort gewöhnt haben, einen drohend-fordernden Ton mit ihm verbinden und uns vielleicht etwas von ihm versprechen.

Kersting präzisiert den Begriff, indem er die aristotelische Unterscheidung zwischen ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit aufnimmt. Ausgleichende Gerechtigkeit stellt eine gestörte Ordnung durch Entschädigung und Entschuldung wieder her. "Das Vergessen ist hier moralische Pflicht. Derjenige, der nach der Entscheidung wieder die Schuldgeschichte aufs Tapet bringt, an seine moralische Kränkung erinnert und dem Schuldner seine Wunden zeigt, hat sich nicht an die Spielregeln gehalten. Er gefällt sich in der Rolle des moralischen Gläubigers und münzt die ihm zugefügte Kränkung in moralische Macht um." Bei der austeilenden Gerechtigkeit geht es, wie Aristoteles schreibt, um die "Verteilung von öffentlichen Anerkennungen, von Geld und sonstigen Werten, die den Bürgern eines geordneten Gemeinwesens zustehen", also nicht mehr nur um die Erhaltung einer gegebenen Ordnung, sondern um ihre Verbesserung. Deshalb stellt sich für die austeilende Gerechtigkeit die Frage nach dem Maßstab. Anders als die ausgleichende Gerechtigkeit hat sie ein "Kriterienproblem".

Kersting meint, und der Rezensent pflichtet ihm weitgehend bei, die philosophische Tradition habe das Verteilungsproblem verdrängt, indem sie seine Lösung der göttlichen Gerechtigkeit oder der unsichtbaren Hand von Markt und Geschichte überlassen habe. Unter den Liberalen, die das Gesetz der gesellschaftlichen Entwicklung nicht kennen und deshalb bei der gegebenen Ordnung ansetzen, ist Rawls der erste, der "den Begriff der Verteilungsgerechtigkeit ins Zentrum seiner Gerechtigkeitstheorie gerückt" hat. Rawls' "Gerechtigkeit als Fairness" seziert Kersting deshalb als Erstes. Dann macht er sich über Abwandlungen her, über die Ressourcengleichheitskonzeption von Ronald Dworkin, den Unparteilichkeitsegalitarismus von Thomas Nagel, die Eigentumstheorie von Robert Nozick - ein Glanzstück der Analyse - und über einige Konzepte, die die Gerechtigkeit für verwirklicht halten, wenn jeder den gleichen Ressourcensockel erhält.

Das Ergebnis ist vernichtend: "Der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit ist weder ein notwendiger Legitimationsbegriff noch ein sinnvoller Orientierungsbegriff politischen Handelns und gesellschaftlicher Gestaltung." Der politische Glaube an eine Verteilungsgerechtigkeit führe nur zur ungerechten Ausbeutung der weniger Viven durch die Viveren wie im Falle der Finanzierung des Studiums oder der Jüngeren durch die Älteren wie im Falle der Renten oder zur Ausschließung der Arbeitslosen vom Arbeitsmarkt durch die Arbeitsplatzbesitzer. Dem deutschen Sozialstaat sei "vorzuwerfen, dass er sich durch Ersatzzahlungen von seiner strukturpolitischen Gerechtigkeitsverantwortung und seiner bürgerlichen Solidarität freikauft".

Den wichtigsten Grund für das Scheitern der Formeln für die Verteilungsgerechtigkeit sieht Kersting mit Recht in der "Entkoppelung von normativen und personentheoretischem Individualismus". Was heißt das? Grundlage der ausgleichenden Gerechtigkeit ist das Prinzip: Leistung gegen Leistung. Mit diesem Prinzip lässt sich leicht begründen, dass jeder Einzelne aus seinem Vermögen zur Aufrechterhaltung eines Minimums an Leistungsfähigkeit aller beitragen muss. Grundlage der austeilenden Gerechtigkeit ist das Prinzip: Leistung ohne Gegenleistung. Eine Leistung ohne Gegenleistung hält der liberale Egalitarismus für gerecht, wenn und so weit sie die Nachteile kompensiert, mit denen die Natur oder die Gesellschaft die Individuen geschlagen hat. Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, Langsamkeit, Weiblichkeit und die kürzere Lebenserwartung des Mannes müssen entschädigt werden. Eine solche Kompensation wäre aber nur möglich, wenn die Philosophie (und die Politik) zwischen Natur und Gesellschaft auf der einen und individuellen Leistungsmöglichkeiten auf der anderen Seite unterscheiden könnte.

Das setzte indessen voraus, dass die Philosophie die Natur oder die Gesellschaft kennt. Eine solche Kenntnis können jedoch Philosophen nicht haben, die, wie Rawls, über alles den Schleier der Unwissenheit werfen. Das Philosophem, die Gerechtigkeit gebiete, natürliche Benachteiligungen mit politischen Entscheidungen auszugleichen, hebt daher den Liberalismus auf. Wenn man sich die schöne neue Welt vergegenwärtigt, die Rawls als Gerechtigkeit ausgibt, fragt man sich, ob man nicht besser im realen Sozialismus lebte. Mehr noch. Wenn die Natur ihre Güter ungerecht verteilt und deshalb der Korrektur bedarf, dann muss es moralisch sein, der Natur mit Genmanipulationen so lange in den Arm zu fallen, bis alle Menschen gleich schön, gleich intelligent und gleich schnell sind.

Kersting selbst vertritt daher einen "Liberalismus ohne Umschweife", der in dem beeindruckend kargen Satz gipfelt: "Der Sozialstaat ist dazu da, dass jeder Bürger genug bekommt." Nach Kerstings Buch kann der mehr an der alteuropäischen Tradition orientierte Philosoph den zeitgenössischen, amerikanischen, liberalen Egalitarismus abhaken und einfach auf das Buch verweisen.

Das Verteilungsproblem hat sich damit freilich nicht erledigt. Seine weitere Bearbeitung könnte bei der Frage ansetzen: Versteht sich Gleichbehandlung nicht von selbst? Ist die Rechtfertigung von Ungleichbehandlung nicht geistig anspruchsvoller und politisch wichtiger, weil Ungleichbehandlung die gesamte Gesellschaft vorantreibt? Als ersten Schritt könnte man die Unterscheidung zwischen ausgleichender und austeilender Gerechtigkeit problematisieren. Kersting weist darauf hin, dass die ausgleichende Gerechtigkeit den Sinn hat, Unrecht ungeschehen zu machen, gleichsam die Zeit zu überlisten. Muss man nicht die ausgleichende Gerechtigkeit als Vergangenheits- und die austeilende Gerechtigkeit als Zukunftsbewältigung verstehen, und wäre die austeilende Gerechtigkeit dann nicht mit dem Prognoseproblem belastet?

Unter dem Aspekt der Güter setzt Verteilungsgerechtigkeit die Verteilungsfähigkeit und Verteilungsfähigkeit die Übertragbarkeit von Gütern, mindestens ihre Entschädigungsfähigkeit voraus. Die Schmerzensgelddiskussion lehrt indessen, dass der Verlust besonders wichtiger Güter wie des Augenlichtes im Prinzip nicht kompensiert werden kann. Es wäre daher zu prüfen, welche Güter verteilungs- und substitutionsfähig sind und welche nicht. Kersting erörtert das Problem unter dem Titel "Takt". Aber es steckt im Güterbegriff. Wahrheit, Liebe, Glaube, Glück, Schönheit, auch die Gerechtigkeit, sind unbestritten wertvolle Güter. Aber kann man sie verteilen? Kann man dem einen mehr, dem anderen weniger Gerechtigkeit geben? Kann der Sozialstaat einem Mädchen monatlich zweihundert Markt mit der Begründung überweisen, bedauerlicherweise sei es viel hässlicher als die anderen? Wenn nicht, besteht dann nicht ein begründeter Anfangsverdacht, dass sich die meisten und wichtigsten Güter dieser Welt überhaupt nicht verteilen lassen und deshalb auch nicht Gegenstand politischer Entscheidungen sein können? Wirklich reich ist jedenfalls der, der den liberalen Egalitarismus aufs Trockene setzt, indem er auf Geld und Sachen pfeift.

Wolfgang Kersting: "Theorien der sozialen Gerechtigkeit". Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2000. 410 S., geb., 78,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Michael Schefczyk hat dem Buch vieles vorzuwerfen und findet kaum ein gutes Haar daran. Er mokiert sich über die "heißgelaufene Rhetorik" des Textes, die seiner Ansicht nach eine differenzierende Untersuchung des Themas ausschließt und ärgert sich wiederholt über die unbestimmten Schlagwörter, mit denen der Autor seine Ausführungen instrumentiere. Damit gewinne das Buch den Ton der "politisches Stimmungsmache", das einem politikphilosophischen Text durchaus nicht angemessen sei, so der verstimmte Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Kersting kennt sich genau aus, schreibt zupackend." - Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Anregend und ansteckend argumentierend, anspruchsvoll." - ekz-Informationsdienst

"Mit der vorliegenden Monographie hat Kersting ein ebenso spannendes wie engagiertes, gelegentlich auch provozierendes Buch geschrieben. Wie nur wenigen Vertretern der deutschsprachigen politischen Gegenwartsphilosophie gelingt es ihm, ein hohes Maß an systematischer Klarheit und begrifflicher Präzision mit eindeutigen, sozialpolitischen Reformvorschlägen zu verbinden." - Theologie und Philosophie, Verlag Herder