Wir befinden uns im Jahr 20__. Die Ressourcen der Erde gehen zuende, Atomkriege haben die Atmosphäre verseucht. Eine Gruppe »Auserwählter« wird in einer gewaltigen Raumflotte zur Rettung der Menschheit entsandt. Die »Zurückgebliebenen« fühlen sich im Stich gelassen, sie leben unter chaotischen und ärmlichen Verhältnissen. Nach zehn Jahren kehren die »Auserwählten« zurück und stellen mit Erstaunen fest, dass die »Zurückgebliebenen« nicht nur überlebt, sondern sogar mit dem Wiederaufbau begonnen haben. Schnell übernehmen die »Auserwählten« die Herrschaft, um die »Zurückgebliebenen« zu unterdrücken. In Form einer spannenden Science Fiction thematisiert Kenzaburo Oe die Gefahr ökologischer Zerstörung sowie die Ambivalenz unserer Gesellschaftssysteme.
Ein spannender und gesellschftskritischer Science Fiction Roman von Kenzaburo Oe.
Ein spannender und gesellschftskritischer Science Fiction Roman von Kenzaburo Oe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.1996Fachleute fliegen im All
Belehrend und grotesk: Kenzaburô Ôe schreibt einen Zukunftsroman
In seiner Dankrede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1994 sagte der japanische Schriftsteller Kenzaburô Ôe, er gehöre zu den allerletzten Überlebenden der Nachkriegszeit. Er erklärte seinem Stockholmer Publikum, warum er - ganz im Gegensatz zu den Jüngeren, die sich des Politischen fast einhellig enthielten - nicht müde wurde, als gewissenhafter Außenseiter von der fernen Insel Shikoku über Nation und Geschichte nachzudenken und Bedrohungen entgegenzuarbeiten, die alle anständigen Menschen ohne Unterschied gefährdeten. Mit sechzig Jahren befindet er sich nun in der wenig beneidenswerten Situation eines phantasiereichen Anarchisten, der die Empfindungskräfte seiner widerstrebenden Mitbürger noch immer wandeln möchte - im kollektiven Japan eine noch schwierigere Aufgabe als in den Demokratien der westlichen Industriestaaten.
Er will einer skeptischen Leserschaft nicht mit radikalen Polemiken oder erneuerten alten Mythen kommen, wie er es früher unternahm, und bedient sich neuer literarischer Instrumente. Warum nicht Raumschiffe und Laserpistole, aus dem Reiche Godzillas? Sein Roman "Therapiestation", der zum ersten Male vor fünf Jahren in Fortsetzungen in einer japanischen Zeitschrift erschien, hat keine Scheu, "eine Geschichte aus der nahen Zukunft" zu erzählen. Das Buch schließt sich, zumindest durch seine Kulissen und Requisiten, den Traditionen der Sciene-fiction an, die in Ôes Herkunftsland in Literatur und Film immer wirkungskräftiger waren als in Deutschland.
Allerdings: so ganz zukunftsträchtig geht es in seinem Futurum auch wieder nicht zu, und Ôe hat das Risiko auf sich genommen, mehr von einem geradezu zärtlichen Humanismus zu bewahren, als es diese Gattung sonst toleriert. Weltraumschiffe und kosmische Raketen sind wie Spielzeug in den Händen eines kindlichen und imaginativen Mannes, der lieber den fragilen Geschöpfen des Waldes (wenn es noch einen gäbe) zuhören möchte.
Mit der Erde steht es, drei oder vier Jahrzehnte nach dem Jahr 2000, nicht zum Besten. Lokale Atomkonflikte und rücksichtslose Industrien haben die Kontinente verseucht; und nach einer Zeit brutaler Wirren hat sich die Menschheit entschlossen, einen "Großen Aufbruch" in den Kosmos zu unternehmen, um eine "Neue Erde" zu bewohnen. Eine Million der klügsten Fachleute hat die Erde in Raumflotten verlassen, und die Zurückgebliebenen, die sich in ihrer grollenden Selbstironie die "Versager" nennen, leben in kleinen Nestern, so gut es geht, oder schließen sich zu Widerstandsgruppen gegen das abstrakte Raumfahrtdenken zusammen - da kehren die "Auserwählten" nach zehn Jahren aus dem Weltraum zurück, eine neue, merkwürdig jugendfrische Elite, die sogleich versucht, die lockeren Lebensformen der Zurückgebliebenen in ihre effizienteren Arbeitsprogramme zu zwingen.
Ôe arbeitet mit einem Minimum an technologischem Hokuspokus, erspart uns eine genauere Abhandlung darüber, wie "Raketenschubkraft durch das Zusammenspiel eines Magnetfeldes und einer Neutronenemission" entsteht, und richtet sein Augenmerk lieber auf zwei Liebende. Ritchan, eine junge Irdische (die eigentliche Erzählerin der Geschichte), und Sakuchan, ein selbstdenkender Weltraumpilot, stehen unter dem Schutz aller Widersacher der raumfahrenden Starship Company. Der Liebe wird ein Kind entsprießen, das die Bestimmung hat, die Menschheit wieder ins rechte Lot zu rücken - kein Wunder, daß auch die japanischen Kritiker seit jeher Probleme mit Ôes Romanschlüssen hatten.
Diese Liebe ist wahrhaftig eine Himmelsmacht, denn die beiden gehören eigentlich ganz anderen literarischen Epochen an. Er, introvertiert und empfindsam, wie aus der Wertherzeit; und sie "eine eingefleischte Realistin", wie sie von sich selber sagt, aus der hartgekochten Epoche der Street kids und der Comic strips. Sie sitzen auf einem alten Stein, inmitten einer verwitterten Raketenbasis, und Ôe nützt die Gelegenheit, ihre so verschiedenen Erfahrungen Schritt für Schritt und spannend zu enträtseln.
Ritchan wurde in der Zeit der Wirren von einer Gangsterbande gefangengehalten und wochenlang mißbraucht (sie tröstete sich mit dem prosaischen Gedanken, jeder Mann "müsse einmal fertig werden"), bewundert den muskulösen Körper ihres Geliebten ohne Sentimentalität, und freut sich: "die Spitze des Kondoms füllte sich, stellte sich flutsch! gerade auf und berührte mich im Innersten".
Sakuchan, der im Kosmos moderne irische Lyrik übersetzte, findet es schwieriger, von sich zu erzählen und die Geheimnisse der "Neuen Erde" zu artikulieren. Er versucht es zunächst mit einer schönen Interpretation eines Gedichtes von W. B. Yeats (Ôes Lieblingsdichter) und gesteht ihr dann, die "Auserwählten" hätten auf der "Neuen Erde" merkwürdige und wie von einem "kosmischen Willen" über die Wüste hingestreute Bauten vorgefunden, die als Therapiestationen dienten. Wer dort eintrat und ruhte, wurde von Krankheiten und Verletzungen geheilt und gewann seine strahlende Jugend wieder, im wahren Sinne des Wortes, denn die verjüngten Körper, auch der seine, strömen fortan ein schwimmendes Licht aus. Schade nur, daß die beiden Liebenden in höflichen und formalen Monologen sprechen, wie Herzog und Edelfräulein in Adalbert Stifters "Witiko", mehr für das Publikum als füreinander.
Auf der alten Erde stehen sich also noch immer zwei Parteien gegenüber, die wir zumindest seit unseren sechziger Jahren kennen: die jugendfrischen Technokraten und die vielen Gruppen der Alternativen, Grünen (wenn es noch Grüne gäbe) und die Neinsager, die in den zerfallenden Fabriken alte Waschmaschinen mit improvisierten Reparaturteilen instand setzen, in rustikalen Wohngemeinschaften leben und ihre organischen Mahlzeiten an guten Holztischen einnehmen; man vermißt nur die tägliche Reiki-Seelenmassage.
In einer dieser "sanften Farmen", in welchen die Liebenden vorübergehend Schutz finden, nimmt sich Ôe die Freiheit, die Erzählerin zu überspielen und plötzlich selbst als Vater und Autor zu sprechen. In der Gestalt des Musikers Hikari, der mit einer entsetzlichen Schädeldeformation geboren wurde und an epileptischen Anfällen leidet, zeichnet Ôe ein authentisches Bildnis seines wirklichen Sohnes, dessen Behinderungen ihn jahrzehntelang beschäftigten; er wollte das Kind töten lassen, und es dauerte lange, ehe er sich mit seinem Schicksal versöhnte. Hikari, der über den Wortschatz eines stammelnden Kindes verfügt, ist längst, in Roman und Realität, zu einem begabten Komponisten herangewachsen, dessen neoklassische Musik nicht nur die fiktive Kommune erfreut.
Der Vorsitzende dieses sanften Kolchos heißt Mr. Grass, aber das Amerikanische ist nur leicht aufgetragen, denn er ist, wie Ôes Danziger Kollege, "kleinwüchsig", aber "kräftig gebaut", und wer noch zweifeln wollte, bemerkt seine "sich nach unten neigenden tiefen, faltenähnlichen Augen" und seine "seltsam kleinen, viereckigen und randlosen Brillengläser". Das ist nicht nur ein Kompliment, sondern ein Zeichen der Solidarität. Ôe und Grass, die frühen Meister der dunklen Groteske, sind ja, nehmt alles nur in allem, die letzten Präzeptoren ihrer störrischen Nationen, die sich nicht mehr am politischen Gängelband ihrer Erzähler führen lassen wollen, und wären sie poetisch noch so erfindungsreich.
Ungeachtet aller rustikalen Nostalgie lebt Ôe mit seiner Familie in Tokio und denkt eben daran, für ein Jahr nach Princeton zu gehen und dort in aller Ruhe zu lesen und darüber nachzudenken, ob er sich nicht in Zukunft darauf beschränken sollte, Kinderbücher zu produzieren. Als gelehrter Romanist schrieb er eine Dissertation über Sartre, und auch seinen Raumfahrern kommen Zitate aus Villiers de l'Isle Adam, Lévy-Strauss und Tschechov leicht von den Lippen; und obgleich er in jüngeren Jahren zu den radikalsten linken Antiamerikanern zählte, hat er sich zeitlebens zu Mark Twain und Hermann Melville bekannt.
Er ist allzu freien und quirligen Geistes, um sich mit den Konventionen der Science-fiction-Gattung zu begnügen. In der "Therapiestation" ist zuviel durcheinandergeraten, Gattungsstruktur und autobiographisches Interesse, Imitation und Intelligenz, Programm und Phantasie; und selbst die pazifistische Großmutter, die den Repräsentanten der Macht mit seinem Schuß aus der Laserpistole außer Gefecht setzt, bezeugt eher die besten Absichten des Autors als, in diesem Falle, sein Vermögen, lebhafte Charaktere zu bilden. Das Unvereinbare drängt sich heftig hervor, ähnlich wie in Fritz Langs "Metropolis", draußen die futuristische Szenerie aus Stahl und Maschinen und drinnen, in der Welt der großen Liebe, die utopisch rosa Zuckerwatte. Zum Glück hat Ôe viele andere Bücher geschrieben, so "Eine persönliche Erfahrung" oder "Der kluge Regenbaum", und die eröffnen uns einen ungestörteren Zugang in die Mitte seiner tragischen, grotesken und provozierenden Romanwelt. PETER DEMETZ
Kenzaburô Ôe: "Therapiestation. Roman aus der nahen Zukunft". Aus dem Japanischen übersetzt von Verena Werner. Edition q, Berlin 1995. 234 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Belehrend und grotesk: Kenzaburô Ôe schreibt einen Zukunftsroman
In seiner Dankrede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1994 sagte der japanische Schriftsteller Kenzaburô Ôe, er gehöre zu den allerletzten Überlebenden der Nachkriegszeit. Er erklärte seinem Stockholmer Publikum, warum er - ganz im Gegensatz zu den Jüngeren, die sich des Politischen fast einhellig enthielten - nicht müde wurde, als gewissenhafter Außenseiter von der fernen Insel Shikoku über Nation und Geschichte nachzudenken und Bedrohungen entgegenzuarbeiten, die alle anständigen Menschen ohne Unterschied gefährdeten. Mit sechzig Jahren befindet er sich nun in der wenig beneidenswerten Situation eines phantasiereichen Anarchisten, der die Empfindungskräfte seiner widerstrebenden Mitbürger noch immer wandeln möchte - im kollektiven Japan eine noch schwierigere Aufgabe als in den Demokratien der westlichen Industriestaaten.
Er will einer skeptischen Leserschaft nicht mit radikalen Polemiken oder erneuerten alten Mythen kommen, wie er es früher unternahm, und bedient sich neuer literarischer Instrumente. Warum nicht Raumschiffe und Laserpistole, aus dem Reiche Godzillas? Sein Roman "Therapiestation", der zum ersten Male vor fünf Jahren in Fortsetzungen in einer japanischen Zeitschrift erschien, hat keine Scheu, "eine Geschichte aus der nahen Zukunft" zu erzählen. Das Buch schließt sich, zumindest durch seine Kulissen und Requisiten, den Traditionen der Sciene-fiction an, die in Ôes Herkunftsland in Literatur und Film immer wirkungskräftiger waren als in Deutschland.
Allerdings: so ganz zukunftsträchtig geht es in seinem Futurum auch wieder nicht zu, und Ôe hat das Risiko auf sich genommen, mehr von einem geradezu zärtlichen Humanismus zu bewahren, als es diese Gattung sonst toleriert. Weltraumschiffe und kosmische Raketen sind wie Spielzeug in den Händen eines kindlichen und imaginativen Mannes, der lieber den fragilen Geschöpfen des Waldes (wenn es noch einen gäbe) zuhören möchte.
Mit der Erde steht es, drei oder vier Jahrzehnte nach dem Jahr 2000, nicht zum Besten. Lokale Atomkonflikte und rücksichtslose Industrien haben die Kontinente verseucht; und nach einer Zeit brutaler Wirren hat sich die Menschheit entschlossen, einen "Großen Aufbruch" in den Kosmos zu unternehmen, um eine "Neue Erde" zu bewohnen. Eine Million der klügsten Fachleute hat die Erde in Raumflotten verlassen, und die Zurückgebliebenen, die sich in ihrer grollenden Selbstironie die "Versager" nennen, leben in kleinen Nestern, so gut es geht, oder schließen sich zu Widerstandsgruppen gegen das abstrakte Raumfahrtdenken zusammen - da kehren die "Auserwählten" nach zehn Jahren aus dem Weltraum zurück, eine neue, merkwürdig jugendfrische Elite, die sogleich versucht, die lockeren Lebensformen der Zurückgebliebenen in ihre effizienteren Arbeitsprogramme zu zwingen.
Ôe arbeitet mit einem Minimum an technologischem Hokuspokus, erspart uns eine genauere Abhandlung darüber, wie "Raketenschubkraft durch das Zusammenspiel eines Magnetfeldes und einer Neutronenemission" entsteht, und richtet sein Augenmerk lieber auf zwei Liebende. Ritchan, eine junge Irdische (die eigentliche Erzählerin der Geschichte), und Sakuchan, ein selbstdenkender Weltraumpilot, stehen unter dem Schutz aller Widersacher der raumfahrenden Starship Company. Der Liebe wird ein Kind entsprießen, das die Bestimmung hat, die Menschheit wieder ins rechte Lot zu rücken - kein Wunder, daß auch die japanischen Kritiker seit jeher Probleme mit Ôes Romanschlüssen hatten.
Diese Liebe ist wahrhaftig eine Himmelsmacht, denn die beiden gehören eigentlich ganz anderen literarischen Epochen an. Er, introvertiert und empfindsam, wie aus der Wertherzeit; und sie "eine eingefleischte Realistin", wie sie von sich selber sagt, aus der hartgekochten Epoche der Street kids und der Comic strips. Sie sitzen auf einem alten Stein, inmitten einer verwitterten Raketenbasis, und Ôe nützt die Gelegenheit, ihre so verschiedenen Erfahrungen Schritt für Schritt und spannend zu enträtseln.
Ritchan wurde in der Zeit der Wirren von einer Gangsterbande gefangengehalten und wochenlang mißbraucht (sie tröstete sich mit dem prosaischen Gedanken, jeder Mann "müsse einmal fertig werden"), bewundert den muskulösen Körper ihres Geliebten ohne Sentimentalität, und freut sich: "die Spitze des Kondoms füllte sich, stellte sich flutsch! gerade auf und berührte mich im Innersten".
Sakuchan, der im Kosmos moderne irische Lyrik übersetzte, findet es schwieriger, von sich zu erzählen und die Geheimnisse der "Neuen Erde" zu artikulieren. Er versucht es zunächst mit einer schönen Interpretation eines Gedichtes von W. B. Yeats (Ôes Lieblingsdichter) und gesteht ihr dann, die "Auserwählten" hätten auf der "Neuen Erde" merkwürdige und wie von einem "kosmischen Willen" über die Wüste hingestreute Bauten vorgefunden, die als Therapiestationen dienten. Wer dort eintrat und ruhte, wurde von Krankheiten und Verletzungen geheilt und gewann seine strahlende Jugend wieder, im wahren Sinne des Wortes, denn die verjüngten Körper, auch der seine, strömen fortan ein schwimmendes Licht aus. Schade nur, daß die beiden Liebenden in höflichen und formalen Monologen sprechen, wie Herzog und Edelfräulein in Adalbert Stifters "Witiko", mehr für das Publikum als füreinander.
Auf der alten Erde stehen sich also noch immer zwei Parteien gegenüber, die wir zumindest seit unseren sechziger Jahren kennen: die jugendfrischen Technokraten und die vielen Gruppen der Alternativen, Grünen (wenn es noch Grüne gäbe) und die Neinsager, die in den zerfallenden Fabriken alte Waschmaschinen mit improvisierten Reparaturteilen instand setzen, in rustikalen Wohngemeinschaften leben und ihre organischen Mahlzeiten an guten Holztischen einnehmen; man vermißt nur die tägliche Reiki-Seelenmassage.
In einer dieser "sanften Farmen", in welchen die Liebenden vorübergehend Schutz finden, nimmt sich Ôe die Freiheit, die Erzählerin zu überspielen und plötzlich selbst als Vater und Autor zu sprechen. In der Gestalt des Musikers Hikari, der mit einer entsetzlichen Schädeldeformation geboren wurde und an epileptischen Anfällen leidet, zeichnet Ôe ein authentisches Bildnis seines wirklichen Sohnes, dessen Behinderungen ihn jahrzehntelang beschäftigten; er wollte das Kind töten lassen, und es dauerte lange, ehe er sich mit seinem Schicksal versöhnte. Hikari, der über den Wortschatz eines stammelnden Kindes verfügt, ist längst, in Roman und Realität, zu einem begabten Komponisten herangewachsen, dessen neoklassische Musik nicht nur die fiktive Kommune erfreut.
Der Vorsitzende dieses sanften Kolchos heißt Mr. Grass, aber das Amerikanische ist nur leicht aufgetragen, denn er ist, wie Ôes Danziger Kollege, "kleinwüchsig", aber "kräftig gebaut", und wer noch zweifeln wollte, bemerkt seine "sich nach unten neigenden tiefen, faltenähnlichen Augen" und seine "seltsam kleinen, viereckigen und randlosen Brillengläser". Das ist nicht nur ein Kompliment, sondern ein Zeichen der Solidarität. Ôe und Grass, die frühen Meister der dunklen Groteske, sind ja, nehmt alles nur in allem, die letzten Präzeptoren ihrer störrischen Nationen, die sich nicht mehr am politischen Gängelband ihrer Erzähler führen lassen wollen, und wären sie poetisch noch so erfindungsreich.
Ungeachtet aller rustikalen Nostalgie lebt Ôe mit seiner Familie in Tokio und denkt eben daran, für ein Jahr nach Princeton zu gehen und dort in aller Ruhe zu lesen und darüber nachzudenken, ob er sich nicht in Zukunft darauf beschränken sollte, Kinderbücher zu produzieren. Als gelehrter Romanist schrieb er eine Dissertation über Sartre, und auch seinen Raumfahrern kommen Zitate aus Villiers de l'Isle Adam, Lévy-Strauss und Tschechov leicht von den Lippen; und obgleich er in jüngeren Jahren zu den radikalsten linken Antiamerikanern zählte, hat er sich zeitlebens zu Mark Twain und Hermann Melville bekannt.
Er ist allzu freien und quirligen Geistes, um sich mit den Konventionen der Science-fiction-Gattung zu begnügen. In der "Therapiestation" ist zuviel durcheinandergeraten, Gattungsstruktur und autobiographisches Interesse, Imitation und Intelligenz, Programm und Phantasie; und selbst die pazifistische Großmutter, die den Repräsentanten der Macht mit seinem Schuß aus der Laserpistole außer Gefecht setzt, bezeugt eher die besten Absichten des Autors als, in diesem Falle, sein Vermögen, lebhafte Charaktere zu bilden. Das Unvereinbare drängt sich heftig hervor, ähnlich wie in Fritz Langs "Metropolis", draußen die futuristische Szenerie aus Stahl und Maschinen und drinnen, in der Welt der großen Liebe, die utopisch rosa Zuckerwatte. Zum Glück hat Ôe viele andere Bücher geschrieben, so "Eine persönliche Erfahrung" oder "Der kluge Regenbaum", und die eröffnen uns einen ungestörteren Zugang in die Mitte seiner tragischen, grotesken und provozierenden Romanwelt. PETER DEMETZ
Kenzaburô Ôe: "Therapiestation. Roman aus der nahen Zukunft". Aus dem Japanischen übersetzt von Verena Werner. Edition q, Berlin 1995. 234 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Tiefgründig durchdacht, hervorragend komponiert und feinsinnig geschrieben.« Sächsische Zeitung