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Was wissen wir eigentlich wirklich von den Menschen, denen wir täglich begegnen und wie beeinflussen wir ihr Leben?

Produktbeschreibung
Was wissen wir eigentlich wirklich von den Menschen, denen wir täglich begegnen und wie beeinflussen wir ihr Leben?
Autorenporträt
Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt heute in Cambridge. Sie hat bisher drei Romane und drei Erzählbände veröffentlicht und schreibt regelmäßig für verschiedene Zeitungen. Sie stand bereits zweimal auf der Shortlist des Booker Prize und einmal auf der Shortlist des Orange Prize.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2012

Mit der Falltür ins Vergnügen

Die mehrfach für den Booker Prize nominierte Schottin Ali Smith springt in ihrem Roman "Es hätte mir genauso" mit ihren Lesern im Dreieck zwischen Pop- und Subkultur.

Die Schottin Ali Smith hat nach einer Sammlung wunderbarer Kurzgeschichten wieder einen Roman geschrieben. Weil das unbestreitbar eine gute Nachricht ist, verwundert es, wie wenig Beachtung er bislang gefunden hat. Vielleicht, weil Smiths Literatur so unprätentiös ist und scheinbar mühelos zusammengefaltet wie der aus einer Buchseite gebastelte Papierflieger eines Kindes.

Jedenfalls gibt es in "Es hätte mir genauso" einen Prolog, der sich poetologisch deuten lässt. Er beginnt mit dem widersinnigen Satz "Tatsache ist, denk dir einen Mann . . ." Was denn nun, ist der Mann "Tatsache" oder "Idee"? Und dann geht es weiter mit diesem phantastischen Sachverhalt, denn der Mann sitzt auf einem Hometrainer und hat seltsame Metallabdeckungen vor den Augen und über dem Mund. Ein kleiner Junge befreit ihn von seinen Scheuklappen. Als Nächstes holt er ein Blatt Papier hervor und bringt dem Mann auf dem Hometrainer bei, es so zu falten, dass es ein gutes Flugobjekt abgibt. "Dann zielt der Mann mit seinem Flugzeug auf die Ecke gegenüber, die an der Tür. Der Flieger folgt exakt der anvisierten Flugbahn. Fast schon dreist, diese Exaktheit."

Ob derlei Selbstbeschreibung bewusst angelegt wurde oder nicht: Die "dreiste Exaktheit" bringt ziemlich genau zum Ausdruck, was Ali Smiths Prosa kann. Mit vermeintlich einfachen Mitteln, der entwaffnenden Weltklugheit eines Kindes oder mit schwatzhaften Engelszungen schafft die mehrfach für den Booker Prize nominierte Autorin literarische Kunstflugobjekte. Und der Leser, gut angeschnallt, fliegt voller Vertrauen in diese virtuose Pilotin jeden noch so kühnen Looping mit.

Folgende Ausgangslage bringt ihn zuvor auf Kurs: Ein gewisser Miles Garth war einer Einladung zum Abendessen nach Greenwich gefolgt, hatte sich zwischen dem Hauptgang und dem Dessert kurz in Richtung Badezimmer absentiert und schließlich die Tür des angrenzenden Gästezimmers hinter sich verschlossen. Dort hockt er zu Beginn des Romans auf einem Hometrainer und weigert sich, Gründe für seine Verbarrikadierung anzugeben. Die Lees, Gastgeber wider Willen, sind mit den Nerven am Ende. Im Handy des Fremden finden sie als einzigen Kontakt den Namen einer Frau, die Garth vor Jahrzehnten auf einer Europa-Reise kennengelernt hat und die die Lees nun um Hilfe bitten. Kommuniziert wird unterdessen durch den Türspalt, den gelegentlich auch Truthahnaufschnitt passiert. "Voluminöseres können wir ihm nicht bieten, weil der Spalt zwischen Tür und Boden sehr schmal ist. (Die Tür unseres Gästezimmers, genaugenommen alle Türen im Obergeschoss unseres Hauses sind angeblich achtzehntes Jahrhundert, das Haus selbst wurde allerdings in den Zwanzigern des neunzehnten Jahrhunderts gebaut, und Sie verstehen sicher, dass ich beunruhigt bin, zumal die Türangeln innen sind. Ich habe Grund zu der Annahme, dass er einen unserer Sessel unter den Türgriff, ebenfalls achtzehntes Jahrhundert, geklemmt hat.)"

Dann wird die Lage unübersichtlich: Brooke, ein neunjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft, dessen Eltern offenbar an der Universität arbeiten, schleicht sich koboldhaft ins Geschehen. Sie redet altklug und verdächtig elaboriert daher. Als Miss Lee sie nach Hause schicken will und das bourgeois verklausuliert mit "Ich glaube, du wirst anderweitig gewünscht" zum Ausdruck bringt, antwortet Brooke vergnügt: "Worte, Worte, Worte." Das sei aus Hamlet, "einem Stück von Shakespeare, aber das wissen Sie bestimmt".

Der naseweiße Unschuldsengel gehört fest ins Figurenrepertoire dieser Autorin. In ihrem Roman "Die Zufällige" stört ein himmlischer Besucher eine englische Mittelstandsfamilie auf. In der Kurzgeschichte "Das Kind" findet eine Büroangestellte in ihrem Supermarktwagen ein Baby. Da es niemandem zu gehören scheint, legt sie es in ihr Auto, da reißt der Balg vom Rücksitz aus doch tatsächlich einen chauvinistischen Witz nach dem anderen. Diese Erwartungsverfremdung hat den schönen Effekt, dass gewohnte Sprecherrollen, die Babys, Frauen oder Professoren vorbehalten sind, unterlaufen werden können. Chauvinistenwitze sind einfältig und dumm. Aus dem Mund eines Säuglings werden sie auf einmal komisch.

Dass der Nennwert des Gesagten immer davon abhängt, wer spricht und mit welcher Legitimation, ist eines jener kommunikationstheoretischen Probleme, die Ali Smith in jedem ihrer Bücher erforscht. Sprache macht einen Heidenspaß, aber die clevere Brooke hat sie längst als Spiel um Status und Selbstermächtigung entlarvt. Zu ihren Spezialitäten gehören Wortspiele, Witze oder Floskeln ("Tatsache ist, . . ."). Doch auch die anderen Figuren des Romans haben sich in den Netzen der Sprache verstrickt. Es herrscht Sprachverwirrung und Sprachverzauberung, und es geht dabei immer wieder um die Frage, wie wahrheitsfähig Worte unabhängig von ihrem Sprecher, aber auch ihrem Empfänger sind.

Und wie determinierend. Nachdem man bis fast zum Ende des Buchs meinte, in der Akademikertochter Brooke ein weißes Mittelstandsmädchen vor sich zu haben, entlarvt das Attribut "schwarz" das soziale Arrangement schlagartig als Hirngespinst des Lesers. Smith macht in all ihren Texten von solchen Falltüren in die Untiefen des Klischees Gebrauch - keineswegs schulmeisterlich, sondern immer so, dass man es wie bei einer Zaubervorführung staunend zur Kenntnis nimmt.

Kindermund tut dabei meistens Wahrheit kund. Das ist zwar selbst ein Klischee, doch Brooke erhält Schützenhilfe von ihren sprachklugen Eltern. Sie steht nämlich selbst vor der Schwierigkeit, eine Geschichte schreiben zu wollen, die aus "wahren Tatsachen" und "erfundenen Sachen" besteht. Etwa die Geschichte eines Mannes, der sich in einem Zimmer einsperrt und dort Tausende Meilen auf seinem Hometrainer zurücklegt, so lange, bis er "mit dem Fahrrad über die Dächer von London fahren kann". Aber wie soll sie das hinkriegen, dass es realistisch klingt.

"Du möchtest also sprechende Zauberfrösche und Realismus", sagt ihr Vater. Und ihre Mutter ergänzt: "Sie meint, sie möchte ein Werk der Einbildungskraft, das gleichzeitig im strengen Sinne wahr ist." Das Wunderbare an Ali Smith ist, dass ihr selbst dieser Balanceakt spielend gelingt. In der deutschsprachigen Literatur gibt es im Moment nur Silvia Bovenschen, die ähnlich überzeugend intellektuelles Dandytum mit Jargonparodie und Sprachkritik verbindet.

KATHARINA TEUTSCH

Ali Smith: "Es hätte mir genauso". Roman.

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand Literaturverlag, München 2012. 316 S., geb., 19,99 [Euro].

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