"Das existentiell Bedrohendste für ein Volk ist der Verlust von Selbstachtung und Würde" sagt der nigerianische Autor Chinua Achebe, und so verteidigt Okonkwo, die Hauptperson dieses Romans, bis zum Schluss unbeirrt die moralische Integrität und die Würde der traditionsreichen Ibo-Kultur gegen die militärische und physische Machtausübung der eindringenden englischen Kolonialherren. Vor unseren Augen entfaltet sich der Reichtum der Lebensweise der Ibo zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ihre Feste, ihre religiösen Riten, ein vielfältiges System sozialer und geistiger Beziehungen mit seinen eigenen Gesetzen: Führerschaft erwirbt, wer sich durch körperliche und geistige Überlegenheit auszeichnet. Privilegien durch Zugehörigkeit zu einflussreichen Personengruppen oder Familien sind unbekannt. Die englische Kolonialmach t brachte als "Kulturgüter" militärisches Machtgebaren und die christiliche Mission ins Land, die der mehr diesseitigen Lebensphilosophie der Ibo nur das Versprechen auf ein besseres Leben im Jenseits entgegenzusetzen wusste. Mit dieser Schilderung des Zusammenpralls zweier unvereinbarer Kulturen widerlegt Achebe die These, dass Afrika vor Ankunft der Europäer keine eigenständige Kultur besaß, sondern erst mit Hilfe Europas zivilisiert wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2000Dichter einer auseinanderfallenden Welt
Der Schriftsteller, der die Krise seines Kontinents auf den Begriff brachte: Der afrikanische Autor Chinua Achebe wird siebzig
Er habe der Welt Afrika gebracht: Kürzer und eindrücklicher könnte es kaum jemand sagen. So würdigte Nelson Mandela, der große alte Mann der afrikanischen Politik, Chinua Achebe, den großen alten Mann der Literatur seines Kontinents. Mandela berichtete, er habe als Häftling auf der Robbeninsel oft in Achebes Werk gelesen, und durch diesen seien seine Gefängnismauern gefallen. Ein Land, das einen Achebe hervorgebracht habe, könne nicht ohne Hoffnung sein, ergänzte der nigerianische Präsident Olusegun Obasanjo. Seit zwei Wochen bereits wird der Schöpfer und Patriarch der modernen afrikanischen Novelle bei Symposien und Buchmessen in den Vereinigten Staaten und in seinem heimatlichen Nigeria gefeiert zu seinem siebzigsten Geburtstag am heutigen Donnerstag.
Mit seiner ersten Novelle wurde der junge Achebe mit einem Schlag berühmt. Der - einem Yeats-Gedicht entnommene - Titel "Things Fall Apart" ("Okonkwo oder Das Alte stürzt") wurde zum Schlagwort der Krise Afrikas. Mehr als zehn Millionen Exemplare wurden verkauft, Übersetzungen erfolgten in mehr als fünfzig Sprachen: Kein anderes Werk afrikanischer Literatur hat auch nur annähernd einen solchen Erfolg gehabt wie dieses zweimal ins Deutsche übersetzte Buch, das durch das afrikanisierte Englisch des Originals jeden Übersetzer vor eine große Herausforderung stellt. Noch heute, 42 Jahre nach seinem Erscheinen, ist es das meistgelesene afrikanische Werk in einer europäischen Sprache. In Afrika ist es Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten. Es legte als erstes Werk, das den Kolonialismus aus afrikanischer Perspektive schildert, den Keim für die postkoloniale Literatur, und das noch in der Sprachweise, die Afrikaner zu nutzen pflegen.
In der vom Umfang her schmalen Novelle voller Bilder greift Achebe das Thema auf, das in anderer Form auch im Mittelpunkt seiner weiteren vier Novellen - darunter die Satire "A Man of the People" ("Ein Mann des Volkes", deutsch 1990) - steht: die Krise Afrikas im Umschwung von einer dörflich-traditionellen zu einer verstädterten westlichen Gesellschaft und der Verfall der Werte. Am Ende, nachdem christliche Missionare und dann Kolonialbeamte seine Heimat und seine Welt umgekrempelt haben und andere Dorfbewohner sich seinen Versuchen, sich zu wehren, nicht anschließen, begeht der Krieger und Dorfälteste Okonkwo (für die afrikanische Gesellschaft ungewöhnlich) Selbstmord.
In "Das Alte stürzt" schildert Achebe die Welt seines Volkes, der Igbo (Ibo) im Südosten Nigerias: Regen, Naturkreislauf, Ernten, Ahnen, Geschichtenerzählen. Er verklärt diese Welt nicht und verweist auch auf die altafrikanische Tradition der Gewalt gegen Gegner, gegen Frauen und gegen Außenseiter. Ende der sechziger Jahre begann mit dem Bürgerkrieg in seiner Heimat, bei dem er aktiv an der Seite Biafras stand, eine Schaffenskrise. Achebe wandte sich Essays, Gedichten, Kurzgeschichten, Kinderbüchern und Buchkritiken zu und schrieb mit "Anthills of the Savannah" ("Termitenhügel in der Savanne", 1987), einer Geschichte von Macht und Enttäuschung, nur noch einen Roman, in dem er erstmals - inspiriert vermutlich von Frau und Töchtern - die Rolle der Frau hervorhob. Seine Ferne von Afrika, dem Quell seiner Eingebung, erzwang die politische Lage, die vor zwei Jahren gestürzte Militärdiktatur, aber auch ein Autounfall in Lagos 1990, der ihn an den Rollstuhl band. Seitdem lebt er in der Nähe von New York und kehrte bislang nur einmal nach Afrika zurück.
Achebe sehnt sich nach Nigeria, auch wenn das Heimatland ihn bis vor kurzem schlecht behandelte. Noch nach fast zwanzig Jahren wird sein einleitender Satz einer Analyse zum Niedergang Nigerias oft zitiert: Der Ärger mit Nigeria sei schlicht ein Versagen seiner Führung. Auch wenn Achebe Militärherrschern, Korruption und Verfall Widerstand bot, erlag er nie ideologischen Schlagworten oder radikalen Versuchungen. In Nigeria sei es wie bei Hamlets Dänemark, sagt er: Falls der König, die Quelle der Gerechtigkeit, korrupt sei, sei auch das Volk vergiftet.
Der neuen Führung unter Obasanjo will Achebe trotz Skepsis "eine Chance" zugestehen. Zurück zu seinen Wurzeln kann er nur, falls sich dort die medizinische Versorgung nachhaltig bessert. Achebe lehrt seit knapp einem Jahrzehnt Literatur am Bard College, wo ihn zu Monatsbeginn andere Große der Literatur würdigten, darunter Toni Morrison und sein Landsmann Wole Soyinka. Beide haben jene Auszeichnung erhalten, die Chinua Achebe bisher trotz einer Fülle von Literaturpreisen und mehr als zwanzig Ehrendoktortiteln verwehrt blieb, den Nobelpreis für Literatur.
Die Schleusen für die afrikanische Literatur hat Chinua Achebe gleich zweimal geöffnet: als wegweisender Autor und als Förderer und Lektor. Achebe, der mit seiner Kunst auch erziehen will, begründete und betreute ohne Entlohnung beim britischen Heinemann Verlag die Reihe "African Writers Series", die der Literatur Afrikas das Tor zum Westen öffnete. Später gründete er selber einen Verlag und gab die Literaturzeitschrift "Okike" heraus, um jüngere afrikanische Schriftsteller, denen er stets selbstlos Hilfe anbot, zu fördern.
Achebe schreibt dicht, ironisch, voller Weisheit und Humor, und trotz allen Anspruchs einfach. Wenn er spricht - leise, bescheiden (er nennt sich selber einen "faulen Dichter"), stets begleitet von Gesten der Hände -, malt er Bilder. Er wäre zufrieden, sagt Chinua Achebe, falls seine Werke dazu beitrügen, seinen Lesern zu zeigen, daß Afrikas Vergangenheit "nicht eine lange Nacht der Barbarei" gewesen sei, von denen erst die Europäer sie befreit hätten.
ROBERT VON LUCIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schriftsteller, der die Krise seines Kontinents auf den Begriff brachte: Der afrikanische Autor Chinua Achebe wird siebzig
Er habe der Welt Afrika gebracht: Kürzer und eindrücklicher könnte es kaum jemand sagen. So würdigte Nelson Mandela, der große alte Mann der afrikanischen Politik, Chinua Achebe, den großen alten Mann der Literatur seines Kontinents. Mandela berichtete, er habe als Häftling auf der Robbeninsel oft in Achebes Werk gelesen, und durch diesen seien seine Gefängnismauern gefallen. Ein Land, das einen Achebe hervorgebracht habe, könne nicht ohne Hoffnung sein, ergänzte der nigerianische Präsident Olusegun Obasanjo. Seit zwei Wochen bereits wird der Schöpfer und Patriarch der modernen afrikanischen Novelle bei Symposien und Buchmessen in den Vereinigten Staaten und in seinem heimatlichen Nigeria gefeiert zu seinem siebzigsten Geburtstag am heutigen Donnerstag.
Mit seiner ersten Novelle wurde der junge Achebe mit einem Schlag berühmt. Der - einem Yeats-Gedicht entnommene - Titel "Things Fall Apart" ("Okonkwo oder Das Alte stürzt") wurde zum Schlagwort der Krise Afrikas. Mehr als zehn Millionen Exemplare wurden verkauft, Übersetzungen erfolgten in mehr als fünfzig Sprachen: Kein anderes Werk afrikanischer Literatur hat auch nur annähernd einen solchen Erfolg gehabt wie dieses zweimal ins Deutsche übersetzte Buch, das durch das afrikanisierte Englisch des Originals jeden Übersetzer vor eine große Herausforderung stellt. Noch heute, 42 Jahre nach seinem Erscheinen, ist es das meistgelesene afrikanische Werk in einer europäischen Sprache. In Afrika ist es Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten. Es legte als erstes Werk, das den Kolonialismus aus afrikanischer Perspektive schildert, den Keim für die postkoloniale Literatur, und das noch in der Sprachweise, die Afrikaner zu nutzen pflegen.
In der vom Umfang her schmalen Novelle voller Bilder greift Achebe das Thema auf, das in anderer Form auch im Mittelpunkt seiner weiteren vier Novellen - darunter die Satire "A Man of the People" ("Ein Mann des Volkes", deutsch 1990) - steht: die Krise Afrikas im Umschwung von einer dörflich-traditionellen zu einer verstädterten westlichen Gesellschaft und der Verfall der Werte. Am Ende, nachdem christliche Missionare und dann Kolonialbeamte seine Heimat und seine Welt umgekrempelt haben und andere Dorfbewohner sich seinen Versuchen, sich zu wehren, nicht anschließen, begeht der Krieger und Dorfälteste Okonkwo (für die afrikanische Gesellschaft ungewöhnlich) Selbstmord.
In "Das Alte stürzt" schildert Achebe die Welt seines Volkes, der Igbo (Ibo) im Südosten Nigerias: Regen, Naturkreislauf, Ernten, Ahnen, Geschichtenerzählen. Er verklärt diese Welt nicht und verweist auch auf die altafrikanische Tradition der Gewalt gegen Gegner, gegen Frauen und gegen Außenseiter. Ende der sechziger Jahre begann mit dem Bürgerkrieg in seiner Heimat, bei dem er aktiv an der Seite Biafras stand, eine Schaffenskrise. Achebe wandte sich Essays, Gedichten, Kurzgeschichten, Kinderbüchern und Buchkritiken zu und schrieb mit "Anthills of the Savannah" ("Termitenhügel in der Savanne", 1987), einer Geschichte von Macht und Enttäuschung, nur noch einen Roman, in dem er erstmals - inspiriert vermutlich von Frau und Töchtern - die Rolle der Frau hervorhob. Seine Ferne von Afrika, dem Quell seiner Eingebung, erzwang die politische Lage, die vor zwei Jahren gestürzte Militärdiktatur, aber auch ein Autounfall in Lagos 1990, der ihn an den Rollstuhl band. Seitdem lebt er in der Nähe von New York und kehrte bislang nur einmal nach Afrika zurück.
Achebe sehnt sich nach Nigeria, auch wenn das Heimatland ihn bis vor kurzem schlecht behandelte. Noch nach fast zwanzig Jahren wird sein einleitender Satz einer Analyse zum Niedergang Nigerias oft zitiert: Der Ärger mit Nigeria sei schlicht ein Versagen seiner Führung. Auch wenn Achebe Militärherrschern, Korruption und Verfall Widerstand bot, erlag er nie ideologischen Schlagworten oder radikalen Versuchungen. In Nigeria sei es wie bei Hamlets Dänemark, sagt er: Falls der König, die Quelle der Gerechtigkeit, korrupt sei, sei auch das Volk vergiftet.
Der neuen Führung unter Obasanjo will Achebe trotz Skepsis "eine Chance" zugestehen. Zurück zu seinen Wurzeln kann er nur, falls sich dort die medizinische Versorgung nachhaltig bessert. Achebe lehrt seit knapp einem Jahrzehnt Literatur am Bard College, wo ihn zu Monatsbeginn andere Große der Literatur würdigten, darunter Toni Morrison und sein Landsmann Wole Soyinka. Beide haben jene Auszeichnung erhalten, die Chinua Achebe bisher trotz einer Fülle von Literaturpreisen und mehr als zwanzig Ehrendoktortiteln verwehrt blieb, den Nobelpreis für Literatur.
Die Schleusen für die afrikanische Literatur hat Chinua Achebe gleich zweimal geöffnet: als wegweisender Autor und als Förderer und Lektor. Achebe, der mit seiner Kunst auch erziehen will, begründete und betreute ohne Entlohnung beim britischen Heinemann Verlag die Reihe "African Writers Series", die der Literatur Afrikas das Tor zum Westen öffnete. Später gründete er selber einen Verlag und gab die Literaturzeitschrift "Okike" heraus, um jüngere afrikanische Schriftsteller, denen er stets selbstlos Hilfe anbot, zu fördern.
Achebe schreibt dicht, ironisch, voller Weisheit und Humor, und trotz allen Anspruchs einfach. Wenn er spricht - leise, bescheiden (er nennt sich selber einen "faulen Dichter"), stets begleitet von Gesten der Hände -, malt er Bilder. Er wäre zufrieden, sagt Chinua Achebe, falls seine Werke dazu beitrügen, seinen Lesern zu zeigen, daß Afrikas Vergangenheit "nicht eine lange Nacht der Barbarei" gewesen sei, von denen erst die Europäer sie befreit hätten.
ROBERT VON LUCIUS
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