Thomas Bernhard ist ein Wiener Autor. Österreichs Nationaldichter wird gemeinhin mit Salzburg oder dem oberösterreichischen Alpenvorland, nicht mit der Bundeshauptstadt assoziiert. Thomas Bernhards Wien zeigt einen bislang vernachlässigten Schwerpunkt in Leben und Werk: Zu Beginn seiner Karriere suchte der Salzburger Student Anschluss an die Künstlerkreise der Hauptstadt, seinen Durchbruchsroman Frost schrieb er hier, sein Spätwerk spielt vorwiegend in Wien, über 30 Jahre lang hatte er einen Wiener Wohnsitz.mit 3 Übersichtskarten der Stadt Wien sowie einem umfangreichen Personen- und Ortsregister Ein Portrait in 200 Orten von A bis Z: Vom Akademietheater bis zum Zwölf-Apostel-Keller durchstreift das Buch Orte entlang der Biographie Bernhards und entdeckt dabei bislang wenig bis gar nicht Bekanntes (etwa das Wohlgefühl beim Durchschreiten der "Schüttelstrassentür"), sucht Orte der Rezeption und der Skandalisierungen auf, erschließt die literarischen Wiener Schauplätze des OEuvres und stellt die Plätze der Bernhard-Forschung in der Stadt vor.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Daniela Strigl freut sich sehr über Martin Hubers und Wolfgang Straubs Buch über Thomas Bernhards Wien, obwohl der Schriftsteller eigentlich eher mit anderen Städten wie Salzburg oder Ohlsdorf assoziiert werde. Aber auch zu Wien, Schauplatz mehrerer Dramen, habe Bernhard eine intensive Hass-Liebe gepflegt, wie ihr das Buch zeigt, dass zweihundert alphabetische Einträge zum Thema bietet, von "Akademietheater bis Zwölf-Apostel-Keller". Erfrischend und gelungen findet die Kritikerin dabei die Verschränkung von Bernhard-Biografie, Werkexegese und Stadtgeschichte, die die Autoren gleich eines "Myzels" zu entfalten wüssten; detailliert, sprachlich versiert und dabei auch noch lustig, lobt sie. Nicht zu kurz komme dabei ein ausgiebiges "Product Placement", vom Schuhmacher Scheer über den Juwelier Fischmeister bis zum Nobelschneider Kniže - schon auch ein bisschen "Snob-Literatur", räumt Strigl ein. Der Gebrauch des Gendersternchens dürfte dem "rebellischen Konservativen" Bernhard weniger gefallen haben, vermutet sie, findet diesen sich vom Gegenstand "emanzipierenden" Ansatz der Autoren aber völlig gerechtfertigt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2023Kaffeehausaufsuchkrank
Heikle Stadt für einen Mann wie Thomas Bernhard: Ein profundes und klug kommentiertes Buch nimmt sich Wiens als Lebensort des Schriftstellers an.
Mit Wien werden Thomas Bernhards Werk und Leben gemeinhin nicht assoziiert, eher mit Traunstein, Salzburg und Ohlsdorf. Nur so ist zu erklären, dass es dieses Buch nicht schon längst gibt: "Thomas Bernhards Wien" beleuchtet in zweihundert alphabetischen Stichwörtern von Akademietheater bis Zwölf-Apostel-Keller die - naturgemäß - ambivalente Beziehung des österreichischen Nationalschriftstellers und Staatsfeindes zu seiner Hauptstadt. Am Ende des sogenannten Skandalromans "Holzfällen - Eine Erregung" (1984) gesteht der Erzähler, "daß dieses verhaßte, mir immer verhaßt gewesene Wien" ihm "aufeinmal jetzt wieder doch das beste, mein bestes Wien" sei und "daß diese Menschen, die ich immer gehaßt habe und die ich hasse und die ich immer hassen werde, doch die besten Menschen sind", kurzum: "daß ich dieses Wien hasse und doch lieben muß".
Auf dem Humus der bernhardschen Wort- und Wertverdrehungskunst gedeiht in diesem handlichen Lexikon ein üppiges topographisches Verzeichnis, in dem die Menschen als handelnde Personen nur über ihre Wohnadressen, Wirkungsstätten, Stammlokale und Auftrittsorte in Augenschein treten, wobei ausgedachte und reale Mitwirkende in schönster Harmonie koexistieren. So figuriert die von Bernhard verehrte ältere Kollegin Jeannie Ebner unter den Lemmata "Schüttelstraße" (als Gastgeberin) und "Kaisermühlen" (als Spaziergenossin jenseits der Donau), während die "Billrothstraße" auf ihr literarisches Pendant in "Holzfällen" verweist: Jeannie Billroth, die der Erzähler als Virginia Woolf von Wien verspottet - er habe sie einmal geliebt, würde sie nun aber "schon länger als zwanzig Jahre" hassen. Das reale, jedenfalls vertraute Verhältnis zur heute nahezu vergessenen Mentorin Jeannie Ebner spiegelt sich wiederum in einem bis dato unbekannten "Blödel-Foto".
Thomas Bernhard hat nicht nur seine frühe Kindheit mit den Großeltern Freumbichler in einer Wiener "Substandardwohnung" verbracht, er nutzte von 1957 an ein Zimmer in der Döblinger Wohnung seiner "Lebensfreundin", der im Werk auch als "Tante" aufscheinenden begüterten Hofratswitwe Hedwig Stavianicek. Neben "Holzfällen", der Rückschau auf Bernhards erste Gehversuche auf dem Wiener Literaturparkett, gehören "Wittgensteins Neffe - Eine Freundschaft" und der dem Kunsthistorischen Museum geweihte Roman "Alte Meister", zugleich Requiem für die verstorbene Gefährtin, zu den Texten mit starkem Wiener Lokalkolorit. Doch auch die weniger populären Erzählungen "Gehen" und "Die Billigesser" sind konkret in der Wiener Straßenlandschaft angesiedelt.
Jeder Eintrag des Kompendiums beginnt mit einer historischen Information. Dass Bernhards Wien-Texte einen Zeitraum von 36 Jahren umspannen, von einem Zeitungsartikel 1952 und der daraus hervorgegangenen Erzählung "Großer, unbegreiflicher Hunger" bis zum finalen Drama "Heldenplatz", erfährt man in dem schmucken Buch ebenso, wie dass das Wort "Wien" im gedruckten Werk mehr als achthundert Mal vorkommt. Aber "Thomas Bernhards Wien" punktet nicht mit Statistik, sondern mit der ebenso reizvollen wie ertragreichen Verknüpfung von Künstlerbiographie, Textanalyse und Stadtgeschichte. Die Autoren, beide Germanisten, die als Schüler Wendelin Schmidt-Denglers gleichwohl mit Pfiff und Witz zu schreiben verstehen, sind dafür prädestiniert: Martin Huber als Bernhard-Spezialist der ersten Stunde und einer der besten Kenner des Nachlasses, Wolfgang Straub als Fachmann für Literatur und Tourismus und die Netzwerke der Nachkriegszeit.
So schafft dieses mit Plänen, Fotos und Registern vortrefflich ausgestattete Buch dank stupender Werkkenntnis und Recherchesorgfalt ein Myzel literarischer und biographischer Verweise, Zitate, Motive. Es ist ein profunder Führer durch Bernhards OEuvre, aber auch durch die österreichische Hauptstadt und ihre Geschichte. Die Straßen und Plätze, Geschäfte, Kaffeehäuser und Hotels, Theater, Museen und Spitäler werden in Bernhards Lyrik, Prosa und Dramatik nicht anschaulich beschrieben, doch sie sind "mit Bedacht gewählt", sie repräsentieren nationale Gedächtnisorte oder "Heterotopien" im Sinne Foucaults, abseitige Un-Orte wie den Zentralfriedhof oder die "Irrenanstalt" Steinhof. In ihrem literarischen Einsatz nimmt der "Raum-Schriftsteller" (Huber/Straub) oft eine kleine Verschiebung gegenüber der realen Topographie vor. Wien-Klischees werden von ihm zugleich bedient und widerlegt, der "Kaffeehausaufsuchkrankheit" seines Alter Egos, dessen Leiden unter Küchendunst und Zigarettenqualm, wird das Café als Erholungsort gegenübergestellt. Mit seinem großzügigen product placement - vom Schuhmacher Scheer und der Papierwarenhandlung Huber & Lerner über den Juwelier Fischmeister, die Konditorei Gerstner bis zum Nobelschneider Knize - erscheint Bernhard geradezu als Pionier der Pop-Literatur oder eher: Snob-Literatur.
Die Grenze zwischen Kunst und Leben scheint auch in der Exegese immer wieder vorsätzlich verwischt: "Es ist schwer vorstellbar, aber es gibt Menschen, denen eine Sachertorte nicht schmeckt", lautet der Kommentar der Autoren - zu einer Bühnenfigur. Auch gegenüber ihrem Gegenstand halten sie wohltuende Distanz und zeigen, dass das Autofiktionale bei Bernhard mit Betonung auf "fiktional" zu verstehen ist. Der Gebrauch des Gendersternchens und dass Jeannie Ebner als "Stammgästin" des Cafés Raimund auftritt, hätte dem rebellischen Konservativen wohl kaum gefallen. Aber wo steht, dass sich eine intelligente Werkpflege nicht von ihrem Objekt emanzipieren darf? DANIELA STRIGL
Martin Huber, Wolfgang Straub: "Thomas Bernhards Wien".
Korrektur Verlag, Mattighofen 2023. 326 S., Abb., geb., 29,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heikle Stadt für einen Mann wie Thomas Bernhard: Ein profundes und klug kommentiertes Buch nimmt sich Wiens als Lebensort des Schriftstellers an.
Mit Wien werden Thomas Bernhards Werk und Leben gemeinhin nicht assoziiert, eher mit Traunstein, Salzburg und Ohlsdorf. Nur so ist zu erklären, dass es dieses Buch nicht schon längst gibt: "Thomas Bernhards Wien" beleuchtet in zweihundert alphabetischen Stichwörtern von Akademietheater bis Zwölf-Apostel-Keller die - naturgemäß - ambivalente Beziehung des österreichischen Nationalschriftstellers und Staatsfeindes zu seiner Hauptstadt. Am Ende des sogenannten Skandalromans "Holzfällen - Eine Erregung" (1984) gesteht der Erzähler, "daß dieses verhaßte, mir immer verhaßt gewesene Wien" ihm "aufeinmal jetzt wieder doch das beste, mein bestes Wien" sei und "daß diese Menschen, die ich immer gehaßt habe und die ich hasse und die ich immer hassen werde, doch die besten Menschen sind", kurzum: "daß ich dieses Wien hasse und doch lieben muß".
Auf dem Humus der bernhardschen Wort- und Wertverdrehungskunst gedeiht in diesem handlichen Lexikon ein üppiges topographisches Verzeichnis, in dem die Menschen als handelnde Personen nur über ihre Wohnadressen, Wirkungsstätten, Stammlokale und Auftrittsorte in Augenschein treten, wobei ausgedachte und reale Mitwirkende in schönster Harmonie koexistieren. So figuriert die von Bernhard verehrte ältere Kollegin Jeannie Ebner unter den Lemmata "Schüttelstraße" (als Gastgeberin) und "Kaisermühlen" (als Spaziergenossin jenseits der Donau), während die "Billrothstraße" auf ihr literarisches Pendant in "Holzfällen" verweist: Jeannie Billroth, die der Erzähler als Virginia Woolf von Wien verspottet - er habe sie einmal geliebt, würde sie nun aber "schon länger als zwanzig Jahre" hassen. Das reale, jedenfalls vertraute Verhältnis zur heute nahezu vergessenen Mentorin Jeannie Ebner spiegelt sich wiederum in einem bis dato unbekannten "Blödel-Foto".
Thomas Bernhard hat nicht nur seine frühe Kindheit mit den Großeltern Freumbichler in einer Wiener "Substandardwohnung" verbracht, er nutzte von 1957 an ein Zimmer in der Döblinger Wohnung seiner "Lebensfreundin", der im Werk auch als "Tante" aufscheinenden begüterten Hofratswitwe Hedwig Stavianicek. Neben "Holzfällen", der Rückschau auf Bernhards erste Gehversuche auf dem Wiener Literaturparkett, gehören "Wittgensteins Neffe - Eine Freundschaft" und der dem Kunsthistorischen Museum geweihte Roman "Alte Meister", zugleich Requiem für die verstorbene Gefährtin, zu den Texten mit starkem Wiener Lokalkolorit. Doch auch die weniger populären Erzählungen "Gehen" und "Die Billigesser" sind konkret in der Wiener Straßenlandschaft angesiedelt.
Jeder Eintrag des Kompendiums beginnt mit einer historischen Information. Dass Bernhards Wien-Texte einen Zeitraum von 36 Jahren umspannen, von einem Zeitungsartikel 1952 und der daraus hervorgegangenen Erzählung "Großer, unbegreiflicher Hunger" bis zum finalen Drama "Heldenplatz", erfährt man in dem schmucken Buch ebenso, wie dass das Wort "Wien" im gedruckten Werk mehr als achthundert Mal vorkommt. Aber "Thomas Bernhards Wien" punktet nicht mit Statistik, sondern mit der ebenso reizvollen wie ertragreichen Verknüpfung von Künstlerbiographie, Textanalyse und Stadtgeschichte. Die Autoren, beide Germanisten, die als Schüler Wendelin Schmidt-Denglers gleichwohl mit Pfiff und Witz zu schreiben verstehen, sind dafür prädestiniert: Martin Huber als Bernhard-Spezialist der ersten Stunde und einer der besten Kenner des Nachlasses, Wolfgang Straub als Fachmann für Literatur und Tourismus und die Netzwerke der Nachkriegszeit.
So schafft dieses mit Plänen, Fotos und Registern vortrefflich ausgestattete Buch dank stupender Werkkenntnis und Recherchesorgfalt ein Myzel literarischer und biographischer Verweise, Zitate, Motive. Es ist ein profunder Führer durch Bernhards OEuvre, aber auch durch die österreichische Hauptstadt und ihre Geschichte. Die Straßen und Plätze, Geschäfte, Kaffeehäuser und Hotels, Theater, Museen und Spitäler werden in Bernhards Lyrik, Prosa und Dramatik nicht anschaulich beschrieben, doch sie sind "mit Bedacht gewählt", sie repräsentieren nationale Gedächtnisorte oder "Heterotopien" im Sinne Foucaults, abseitige Un-Orte wie den Zentralfriedhof oder die "Irrenanstalt" Steinhof. In ihrem literarischen Einsatz nimmt der "Raum-Schriftsteller" (Huber/Straub) oft eine kleine Verschiebung gegenüber der realen Topographie vor. Wien-Klischees werden von ihm zugleich bedient und widerlegt, der "Kaffeehausaufsuchkrankheit" seines Alter Egos, dessen Leiden unter Küchendunst und Zigarettenqualm, wird das Café als Erholungsort gegenübergestellt. Mit seinem großzügigen product placement - vom Schuhmacher Scheer und der Papierwarenhandlung Huber & Lerner über den Juwelier Fischmeister, die Konditorei Gerstner bis zum Nobelschneider Knize - erscheint Bernhard geradezu als Pionier der Pop-Literatur oder eher: Snob-Literatur.
Die Grenze zwischen Kunst und Leben scheint auch in der Exegese immer wieder vorsätzlich verwischt: "Es ist schwer vorstellbar, aber es gibt Menschen, denen eine Sachertorte nicht schmeckt", lautet der Kommentar der Autoren - zu einer Bühnenfigur. Auch gegenüber ihrem Gegenstand halten sie wohltuende Distanz und zeigen, dass das Autofiktionale bei Bernhard mit Betonung auf "fiktional" zu verstehen ist. Der Gebrauch des Gendersternchens und dass Jeannie Ebner als "Stammgästin" des Cafés Raimund auftritt, hätte dem rebellischen Konservativen wohl kaum gefallen. Aber wo steht, dass sich eine intelligente Werkpflege nicht von ihrem Objekt emanzipieren darf? DANIELA STRIGL
Martin Huber, Wolfgang Straub: "Thomas Bernhards Wien".
Korrektur Verlag, Mattighofen 2023. 326 S., Abb., geb., 29,- Euro.
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