Rund 170 historische Fotos und Ansichtskarten, die hier zum größten Teil erstmals veröffentlicht werden, entführen den Leser in das Venedig Thomas Manns. Reinhard Pabst führt auf den Spuren des Dichters durch die Lagunenstadt und zu den Originalschauplätzen der Novelle Der Tod in Venedig. Wie einst Gustav Aschenbach, der Held der Novelle, kann sich der Leser im luxuriösen »Grand Hôtel des Bains« auf dem Lido ergehen, das mondäne Badeleben genießen und sich dem »Vergnügen an den Bildern eines soignierten Strandes« hingeben, an dem sich auch Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Karl Kraus, Georg Trakl und viele andere tummelten.
Ein einzigartiges Buch über eine vergangene, faszinierende Epoche.
Ein einzigartiges Buch über eine vergangene, faszinierende Epoche.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.06.2005Hunger auf Wirklichkeit
Endlich für voll genommen: Thomas Manns "Königliche Hoheit"
Es soll Thomas-Mann-Fans geben, die sich ein wenig für "Königliche Hoheit" schämen. Das Klassenziel der Modernität scheint dieser Roman mit seiner forciert altmodischen Fassade um Längen zu verfehlen. Nur fünf Jahre nach seinem Erscheinen war mit dem Ersten Weltkrieg das Ende des monarchistischen Zeitalters gekommen. Literarisch hatten die Königlichen Hoheiten nun in die Kitschregionen auszuwandern. 1903 konnte Heinrich Mann dem Romanprojekt des Bruders noch das Kompliment machen, der Titel werde "sich gut im Schaufenster ausnehmen". Aber heute klingt er unrettbar nach Illustriertenware.
Der einsame, unverstandene, von aller Lebensfreude abgeschnittene Fürst, der am Ende doch die Tochter eines amerikanischen Petroleummillionärs heiraten darf - ist das mehr als ein Klischee, das sich die Zeitgenossen ansonsten eher in Theaterschmonzetten wie dem Erfolgsstück "Alt-Heidelberg" von Wilhelm Meyer-Förster gefallen ließen? Der Schluß, meinte der Autor selbst, sei "ein wenig populär verlogen". Vor allem ist er ein wenig zu lang. Längst ist das happy end, das "strenge Glück" einer Ehe, mit dem sich zugleich das Staatswesen saniert, vorgezeichnet. Der reiche "Onkel aus Amerika", der den Laden rettet - kann das mehr sein als lustspielhafte Kolportage? Auf das Sujet mag die farcenhaft komische Tonlage passen, wie sie Thomas Mann in "Tristan", der besten seiner frühen Novellen, praktiziert hat. Aber eine Mischung aus neuromantischer Stil-Mimikry und behäbiger Humoristik?
Kurz: Keinem anderen Werk Thomas Manns wird heute mit so viel Skepsis begegnet. Gerade deshalb ist sein Auftritt in der seit einigen Jahren erscheinenden Großen kommentierten Thomas-Mann-Ausgabe ein Ereignis. Während etwa die nun ebenfalls in dieser Ausgabe edierten frühen Erzählungen längst durch die Kommentare Hans Rudolf Vagets und zahlreiche Interpretationen gründlich erschlossen waren, ist "Königliche Hoheit" bis heute ein Stiefkind der Forschung. Um so mehr ist die Leistung des über sechshundert Seiten starken Kommentarbandes, den Heinrich Detering in Zusammenarbeit mit Stephan Stachorski verfaßt hat, zu würdigen. Er ist nicht nur Informations- und Materialsammlung, sondern auf den ersten zweihundert Seiten auch eine glänzend zu lesende Einführung in den Roman und seine Wirkungsgeschichte. Und bei aller wissenschaftlichen Zurückhaltung ein Plädoyer für das unterschätzteste Werk des Autors. Fortan wird es nicht mehr als Thomas Mann "light" gelten können. Im Gegenteil, gerade dieser zweite, unter dem "Buddenbrooks"-Nachfolgedruck entstandene Roman ist etwas für Kenner. Hermann Hesse bemerkte bereits seine Doppelbödigkeit. Er warf dem Buch einerseits populäre "Antreibereien des Publikums" vor. Andererseits befand er, hinter dem Rücken "zwinkere der Text den Überlegenen heimlich zu".
Wer sich angezwinkert fühlt, mag heute die Bezüge zu späteren Großwerken als besonders reizvoll empfinden. Das Wiederholungs-Zeremoniell des Mythischen, das die Josephsromane prägt - es ist im schönen Leerlauf der höfischen Kultur in "Königliche Hoheit" bereits ansatzweise enthalten. Ebenso die Wendung zum Leben, die der "Zauberberg" in den allegorischen Höhen des Schneetraums nimmt, wo die Lebensluft dünn geworden ist. Und zweifellos ist Klaus Heinrichs Lieblingslehrer Raoul Überbein, der nietzscheanische Überwinder aller "humanen Gemütlichkeit", mit seiner "scharfen" Redeweise ein Vorläufer des radikalen Naphta. Das Motiv des Liebesverbots, das sich mit Überbein verbindet, nimmt der Faustus-Roman vier Jahrzehnte später im großen Stil wieder auf.
Zum anderen ist das Buch voller autobiographischer Spuren: Klaus Heinrichs älterer Bruder Alfred ist ein verdecktes Porträt Heinrich Manns, das von abgründiger Bruderrivalität gekennzeichnet ist. Der fröstelnde Aristokrat Albrecht vermißt schmerzlich eine Zentralheizung und dankt in der Mitte des Romans ganz offiziell ab. Und in der Liebesgeschichte, die ausnahmsweise einmal frei von tragischer Heimsuchung bleibt, hat der Autor seine gerade erfolgreich absolvierte Eheanbahnung mit Katia Pringsheim verarbeitet. "Sie studiert wie ein Mann, und zwar Algebra ...", heißt es über Imma Spoelmann. Bei der ersten Annäherung blickt man gemeinsam durchs Mikroskop auf eine Bakterienkultur. Wie später im "Zauberberg" gehen der (allerdings kaum spürbare) Eros und die Wissenschaft eine katalysierende Verbindung ein. Wie der von Clawdia Chauchat stimulierte Castorp sich in Davos Lehrbücher der Medizin und Biologie beschafft, um sich einmal ganz genau mit dem Körperleben zu befassen, so beugt sich Klaus Heinrich über Standardwerke der Finanzwissenschaft.
Hunger nach dem Wirklichen macht sich da geltend - ein faszinierendes Grundmotiv des Romans, das im hochkomischen Audienzgespräch mit dem Dichter Axel Martini direkt formuliert wird. Martini ist ein Mann von zartester Gesundheit, der das Leben in seinen Gedichten um so vitaler feiert. Gegen die Annahme, man müsse gedarbt haben, um produktiv zu sein, wendet er ein, daß es nicht "der wirkliche Hunger, als vielmehr der Hunger nach dem Wirklichen" sei, was "das Talent benötigt". Auch der Roman entwickelt ungeachtet seiner märchenhaften Elemente einen außerordentlichen Appetit auf "Wirklichkeit".
Die epische Welt der Buddenbrooks basierte auf einem reichen autobiographischen Fundus. Wirklichkeit, die man "erledigen" konnte, wie Thomas Mann das gerne nannte. In "Königliche Hoheit" ging es dagegen darum, eine Wirklichkeit überhaupt erst einmal zu schaffen. Ein ganzes Staatswesen wird da auf die Beine gestellt. Selbst die Milchkühe werden nicht vergessen. Zum ersten Mal zapfte Thomas Mann in großem Maßstab über die persönliche Erfahrung hinaus Wissensbestände an; mit diesem Roman, der eine siebenjährige Entstehungsgeschichte hat, perfektionierte er seine Technik des quellengestützten Schreibens, wie man in der Materialdokumentation im einzelnen verfolgen kann.
Mit einer Märchenhochzeit allein war es ja nicht getan. Es waren auch die steuerrechtlichen Modalitäten einer derart umfangreichen internationalen Kapital-Transfusion zu schildern. Da reichte es nicht mehr, die "Männer des Wirtschaftslebens" als dröhnend banale Vitalmenschen à la Klöterjahn zu verulken. Thomas Mann mußte sich in ökonomische Zusammenhänge einarbeiten; es galt, Kenntnisse über amerikanische Trusts zu erwerben. Die Biochemie der embryologischen Hemmungsbildung (Klaus Heinrich) und Methoden der Harnsteintherapie (Spoelmann) waren zu recherchieren, ebenso Einzelheiten über Kleiderordnungen, Cour, Krönungszeremonien oder Ordensverleihungen einerseits, Viehzucht, Kartoffelernte, Bergbau oder Humusverluste in der Forstwirtschaft "infolge Streurechens" andererseits. Wer letzteres nicht ganz versteht, bekommt es im nicht nur philologisch akkuraten Kommentar erklärt. Detering ist in seinem Element, wenn er die Andersen-Bezüge des Buches dechiffriert, von der "Schneekönigin" bis hin zum falsch gegossenen, aber standhaften Zinnsoldaten. Die Entrückung ins Märchenhafte setzte sich allerdings erst in der späteren Arbeitsphase durch. Im Notizenmaterial gibt es noch Ortsnamen wie Berlin, Potsdam oder Baden; im Roman dann nur noch solche lyrisch-traumschönen wie "Hollerbrunn" und "Delphinenort".
Die Außenseiterstellung des Aristokraten Klaus Heinrich ist nicht außerordentlicher Reflexion geschuldet, wie bei den Künstler-Figuren in Manns frühen Novellen, die durch das prätentiöse Leiden am "Geist" heute teilweise nur noch schwer zu genießen sind (vor allem "Die Hungernden"). In "Königliche Hoheit" ist das Stigma ins Körperliche verschoben. Daß Thomas Mann mit Klaus Heinrichs verkümmerter Gliedmaße (dem linken Arm) auch eine problematische Geschlechtsidentität markiert, kann Detering plausibel machen.
Auch sonst gibt es kaum eine Figur, die nicht an einer Abweichung leiden würde: der jüdische Arzt Dr. Sammet, der von hungerleiderischer Herkunft und Entsagungsproblematik gekennzeichnete Überbein, der angefeindete Millionär Spoelmann, Imma mit der diskriminierten Rassenmischung, die mißhandelten Proletarierkinder im Spital und schließlich der neurotische Hund Percy: Lauter "melancholische Sonderfälle des Lebens", die zusammen - gegen alle vordergründige Harmonisierung - einen großen Roman der Stigmatisierung ergeben. Davon profitiert die Figurenzeichnung. Während manche Nebengestalten der "Buddenbrooks" vor allem den Verlachritualen der Typenkomik genügen, erscheinen sie in "Königliche Hoheit" liebevoll individualisiert.
Wer die operettenhafte Haupthandlung des Buches nicht zu wichtig nimmt, kann nebenbei auf viele erzählerische Finessen stoßen. Zum Beispiel die an Fontane geschulte Dialogregie. Höhepunkt des Buches ist nicht die Hochzeit, sondern das abgründige Kapitel "Der hohe Beruf", in dem es um das scheinhafte Dasein des Staatsschauspielers Klaus Heinrich geht. Es gehört zum Besten, was man über das Thema Repräsentation lesen kann, und spiegelt zugleich die Wirklichkeitsproblematik des Künstlers, der über alles schreibt und fast nichts selbst erlebt hat.
Solche Feinheiten wurden von der frühen Kritik kaum bemerkt. "Königliche Hoheit" werde "entschieden nicht recht für voll" genommen, klagte der Autor. Vor allem hatten die Kritiker Schwierigkeiten, schlüssige Kategorien zu finden. Den einen war das Buch zu märchenhaft, den anderen zu naturalistisch - immerhin eine bemerkenswerte Spannweite. Bei der Lektüre der ersten Rezensionen gewinnt man den Eindruck, jeder habe ein anderes Buch gelesen. Handelte es sich um eine kritische Milieustudie der Adelswelt oder um eine konservative Liebeserklärung an ein monarchisch verfaßtes Gemeinwesen? Um eine dezidiert unpolitische Künstler-Allegorie oder, ganz im Gegenteil, um eine politische Satire? Das körperliche Handicap Wilhelms II. wird von Thomas Mann für die Gestaltung Klaus Heinrichs übernommen. Wenn dann auch noch das höfische Leben als "leere Repräsentation" dargestellt wird (grandios in der Parabel vom "Fimmelgottlieb"), dann war das angesichts der signalhaften Nähe zum deutschen Kaiser einigermaßen kühn.
Andererseits konnte die Darstellung auch als Kompliment aufgefaßt werden. Denn ohne Zweifel ist Klaus Heinrich ein positiver Held, der sein Land beglückt. Hatte es Thomas Mann sogar darauf angelegt, daß sich der Kaiser "verstanden" fühlen sollte? Aber der hat das Buch wohl nie gelesen. Gelesen hat es aber vermutlich Franz Kafka, der bekannte, nach den Werken Thomas Manns zu "hungern", und im Erscheinungsjahr des Romans selbst seine erste Prosa veröffentlichte. Eine Passage aus "Königliche Hoheit" könnte man, ohne daß es stilistisch zu unterscheiden wäre, in Kafkas bald darauf entstandenen Roman "Amerika" versetzen - die ziemlich kafkaeske Episode von Spoelmanns New Yorker Chauffeur nämlich, den man am Ende seiner todesgefährlichen rasenden Fahrten ohnmächtig vom Sitz heben muß.
"Königliche Hoheit" war nicht bei der Kritik, aber beim Publikum erfolgreich. Im Bücherherbst 1909 kam der Roman bereits auf neun Auflagen. Großen Beifall bei der Kritik fand dagegen 1912 "Der Tod in Venedig". Die Problematik der Entwürdigung, die "Königliche Hoheit" bereits mit großer Leichtigkeit abhandelte (Klaus Heinrich verliert beim Bürgerball die Haltung und bekommt von der amüsierten Menge den Bowlendeckel aufgesetzt) -, findet hier ihre mustergültige Gestaltung, und das Erstaunlichste an diesem Text ist vielleicht seine durchgehaltene doppelbödige Schreibstrategie von Erhabenheit und Ironie. Mit sämtlichen frühen Erzählungen ist die Novelle nun ebenfalls in der Großen kommentierten Ausgabe erschienen. Hier sind keine Neubewertungen zu erwarten; der renommierte englische Thomas-Mann-Experte Terence James Reed gibt detaillierte und profunde Stellenkommentare, hält sich dagegen bei den Einführungen in die überwiegend vorzüglichen Geschichten sehr zurück. Angenehm fällt sein unfeierlicher Umgang mit dem kanonischen Material auf.
Sind Meistererzählungen wie "Der Tod in Venedig" zu Ende interpretierte Texte? Daß durchaus noch interessante Zugänge möglich sind, und zwar oft gerade über wenig beachtete Realien, zeigt ein kulinarischer kleiner Band zur Venedignovelle. Der Literaturdetektiv Reinhard Pabst hat Thomas-Mann-Trouvaillen zu einem Schau- und Lesebuch zusammengestellt. Zeitgenössische Venedigfotografien werden durch Informationen über die Lido-Luxushotels und die verheimlichte Cholera-Epidemie von 1911 ergänzt. Dank dieser Handreichung liest man den sattsam bekannten Klassiker wieder mit respektvoll geweiteten Augen.
WOLFGANG SCHNEIDER
Thomas Mann: "Königliche Hoheit". Roman. Textband und Kommentarband. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 4/1-2. Hrsg. v. Heinrich Detering in Zusammenarbeit mit Stephan Stachorski, S. Fischer, Frankfurt am Main 2005. 403 S. u. 643 S., geb., 72,- [Euro].
Thomas Mann: "Frühe Erzählungen". Textband und Kommentarband. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2/1-2. Hrsg. v. Terence James Reed in Zusammenarbeit mit Malte Herwig, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2005, 607 S. u. 604 S., geb., 80,- [Euro].
Reinhard Pabst: "Thomas Mann in Venedig". Eine Spurensuche. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2004. 255 S., br., 10,- [Euro].
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Endlich für voll genommen: Thomas Manns "Königliche Hoheit"
Es soll Thomas-Mann-Fans geben, die sich ein wenig für "Königliche Hoheit" schämen. Das Klassenziel der Modernität scheint dieser Roman mit seiner forciert altmodischen Fassade um Längen zu verfehlen. Nur fünf Jahre nach seinem Erscheinen war mit dem Ersten Weltkrieg das Ende des monarchistischen Zeitalters gekommen. Literarisch hatten die Königlichen Hoheiten nun in die Kitschregionen auszuwandern. 1903 konnte Heinrich Mann dem Romanprojekt des Bruders noch das Kompliment machen, der Titel werde "sich gut im Schaufenster ausnehmen". Aber heute klingt er unrettbar nach Illustriertenware.
Der einsame, unverstandene, von aller Lebensfreude abgeschnittene Fürst, der am Ende doch die Tochter eines amerikanischen Petroleummillionärs heiraten darf - ist das mehr als ein Klischee, das sich die Zeitgenossen ansonsten eher in Theaterschmonzetten wie dem Erfolgsstück "Alt-Heidelberg" von Wilhelm Meyer-Förster gefallen ließen? Der Schluß, meinte der Autor selbst, sei "ein wenig populär verlogen". Vor allem ist er ein wenig zu lang. Längst ist das happy end, das "strenge Glück" einer Ehe, mit dem sich zugleich das Staatswesen saniert, vorgezeichnet. Der reiche "Onkel aus Amerika", der den Laden rettet - kann das mehr sein als lustspielhafte Kolportage? Auf das Sujet mag die farcenhaft komische Tonlage passen, wie sie Thomas Mann in "Tristan", der besten seiner frühen Novellen, praktiziert hat. Aber eine Mischung aus neuromantischer Stil-Mimikry und behäbiger Humoristik?
Kurz: Keinem anderen Werk Thomas Manns wird heute mit so viel Skepsis begegnet. Gerade deshalb ist sein Auftritt in der seit einigen Jahren erscheinenden Großen kommentierten Thomas-Mann-Ausgabe ein Ereignis. Während etwa die nun ebenfalls in dieser Ausgabe edierten frühen Erzählungen längst durch die Kommentare Hans Rudolf Vagets und zahlreiche Interpretationen gründlich erschlossen waren, ist "Königliche Hoheit" bis heute ein Stiefkind der Forschung. Um so mehr ist die Leistung des über sechshundert Seiten starken Kommentarbandes, den Heinrich Detering in Zusammenarbeit mit Stephan Stachorski verfaßt hat, zu würdigen. Er ist nicht nur Informations- und Materialsammlung, sondern auf den ersten zweihundert Seiten auch eine glänzend zu lesende Einführung in den Roman und seine Wirkungsgeschichte. Und bei aller wissenschaftlichen Zurückhaltung ein Plädoyer für das unterschätzteste Werk des Autors. Fortan wird es nicht mehr als Thomas Mann "light" gelten können. Im Gegenteil, gerade dieser zweite, unter dem "Buddenbrooks"-Nachfolgedruck entstandene Roman ist etwas für Kenner. Hermann Hesse bemerkte bereits seine Doppelbödigkeit. Er warf dem Buch einerseits populäre "Antreibereien des Publikums" vor. Andererseits befand er, hinter dem Rücken "zwinkere der Text den Überlegenen heimlich zu".
Wer sich angezwinkert fühlt, mag heute die Bezüge zu späteren Großwerken als besonders reizvoll empfinden. Das Wiederholungs-Zeremoniell des Mythischen, das die Josephsromane prägt - es ist im schönen Leerlauf der höfischen Kultur in "Königliche Hoheit" bereits ansatzweise enthalten. Ebenso die Wendung zum Leben, die der "Zauberberg" in den allegorischen Höhen des Schneetraums nimmt, wo die Lebensluft dünn geworden ist. Und zweifellos ist Klaus Heinrichs Lieblingslehrer Raoul Überbein, der nietzscheanische Überwinder aller "humanen Gemütlichkeit", mit seiner "scharfen" Redeweise ein Vorläufer des radikalen Naphta. Das Motiv des Liebesverbots, das sich mit Überbein verbindet, nimmt der Faustus-Roman vier Jahrzehnte später im großen Stil wieder auf.
Zum anderen ist das Buch voller autobiographischer Spuren: Klaus Heinrichs älterer Bruder Alfred ist ein verdecktes Porträt Heinrich Manns, das von abgründiger Bruderrivalität gekennzeichnet ist. Der fröstelnde Aristokrat Albrecht vermißt schmerzlich eine Zentralheizung und dankt in der Mitte des Romans ganz offiziell ab. Und in der Liebesgeschichte, die ausnahmsweise einmal frei von tragischer Heimsuchung bleibt, hat der Autor seine gerade erfolgreich absolvierte Eheanbahnung mit Katia Pringsheim verarbeitet. "Sie studiert wie ein Mann, und zwar Algebra ...", heißt es über Imma Spoelmann. Bei der ersten Annäherung blickt man gemeinsam durchs Mikroskop auf eine Bakterienkultur. Wie später im "Zauberberg" gehen der (allerdings kaum spürbare) Eros und die Wissenschaft eine katalysierende Verbindung ein. Wie der von Clawdia Chauchat stimulierte Castorp sich in Davos Lehrbücher der Medizin und Biologie beschafft, um sich einmal ganz genau mit dem Körperleben zu befassen, so beugt sich Klaus Heinrich über Standardwerke der Finanzwissenschaft.
Hunger nach dem Wirklichen macht sich da geltend - ein faszinierendes Grundmotiv des Romans, das im hochkomischen Audienzgespräch mit dem Dichter Axel Martini direkt formuliert wird. Martini ist ein Mann von zartester Gesundheit, der das Leben in seinen Gedichten um so vitaler feiert. Gegen die Annahme, man müsse gedarbt haben, um produktiv zu sein, wendet er ein, daß es nicht "der wirkliche Hunger, als vielmehr der Hunger nach dem Wirklichen" sei, was "das Talent benötigt". Auch der Roman entwickelt ungeachtet seiner märchenhaften Elemente einen außerordentlichen Appetit auf "Wirklichkeit".
Die epische Welt der Buddenbrooks basierte auf einem reichen autobiographischen Fundus. Wirklichkeit, die man "erledigen" konnte, wie Thomas Mann das gerne nannte. In "Königliche Hoheit" ging es dagegen darum, eine Wirklichkeit überhaupt erst einmal zu schaffen. Ein ganzes Staatswesen wird da auf die Beine gestellt. Selbst die Milchkühe werden nicht vergessen. Zum ersten Mal zapfte Thomas Mann in großem Maßstab über die persönliche Erfahrung hinaus Wissensbestände an; mit diesem Roman, der eine siebenjährige Entstehungsgeschichte hat, perfektionierte er seine Technik des quellengestützten Schreibens, wie man in der Materialdokumentation im einzelnen verfolgen kann.
Mit einer Märchenhochzeit allein war es ja nicht getan. Es waren auch die steuerrechtlichen Modalitäten einer derart umfangreichen internationalen Kapital-Transfusion zu schildern. Da reichte es nicht mehr, die "Männer des Wirtschaftslebens" als dröhnend banale Vitalmenschen à la Klöterjahn zu verulken. Thomas Mann mußte sich in ökonomische Zusammenhänge einarbeiten; es galt, Kenntnisse über amerikanische Trusts zu erwerben. Die Biochemie der embryologischen Hemmungsbildung (Klaus Heinrich) und Methoden der Harnsteintherapie (Spoelmann) waren zu recherchieren, ebenso Einzelheiten über Kleiderordnungen, Cour, Krönungszeremonien oder Ordensverleihungen einerseits, Viehzucht, Kartoffelernte, Bergbau oder Humusverluste in der Forstwirtschaft "infolge Streurechens" andererseits. Wer letzteres nicht ganz versteht, bekommt es im nicht nur philologisch akkuraten Kommentar erklärt. Detering ist in seinem Element, wenn er die Andersen-Bezüge des Buches dechiffriert, von der "Schneekönigin" bis hin zum falsch gegossenen, aber standhaften Zinnsoldaten. Die Entrückung ins Märchenhafte setzte sich allerdings erst in der späteren Arbeitsphase durch. Im Notizenmaterial gibt es noch Ortsnamen wie Berlin, Potsdam oder Baden; im Roman dann nur noch solche lyrisch-traumschönen wie "Hollerbrunn" und "Delphinenort".
Die Außenseiterstellung des Aristokraten Klaus Heinrich ist nicht außerordentlicher Reflexion geschuldet, wie bei den Künstler-Figuren in Manns frühen Novellen, die durch das prätentiöse Leiden am "Geist" heute teilweise nur noch schwer zu genießen sind (vor allem "Die Hungernden"). In "Königliche Hoheit" ist das Stigma ins Körperliche verschoben. Daß Thomas Mann mit Klaus Heinrichs verkümmerter Gliedmaße (dem linken Arm) auch eine problematische Geschlechtsidentität markiert, kann Detering plausibel machen.
Auch sonst gibt es kaum eine Figur, die nicht an einer Abweichung leiden würde: der jüdische Arzt Dr. Sammet, der von hungerleiderischer Herkunft und Entsagungsproblematik gekennzeichnete Überbein, der angefeindete Millionär Spoelmann, Imma mit der diskriminierten Rassenmischung, die mißhandelten Proletarierkinder im Spital und schließlich der neurotische Hund Percy: Lauter "melancholische Sonderfälle des Lebens", die zusammen - gegen alle vordergründige Harmonisierung - einen großen Roman der Stigmatisierung ergeben. Davon profitiert die Figurenzeichnung. Während manche Nebengestalten der "Buddenbrooks" vor allem den Verlachritualen der Typenkomik genügen, erscheinen sie in "Königliche Hoheit" liebevoll individualisiert.
Wer die operettenhafte Haupthandlung des Buches nicht zu wichtig nimmt, kann nebenbei auf viele erzählerische Finessen stoßen. Zum Beispiel die an Fontane geschulte Dialogregie. Höhepunkt des Buches ist nicht die Hochzeit, sondern das abgründige Kapitel "Der hohe Beruf", in dem es um das scheinhafte Dasein des Staatsschauspielers Klaus Heinrich geht. Es gehört zum Besten, was man über das Thema Repräsentation lesen kann, und spiegelt zugleich die Wirklichkeitsproblematik des Künstlers, der über alles schreibt und fast nichts selbst erlebt hat.
Solche Feinheiten wurden von der frühen Kritik kaum bemerkt. "Königliche Hoheit" werde "entschieden nicht recht für voll" genommen, klagte der Autor. Vor allem hatten die Kritiker Schwierigkeiten, schlüssige Kategorien zu finden. Den einen war das Buch zu märchenhaft, den anderen zu naturalistisch - immerhin eine bemerkenswerte Spannweite. Bei der Lektüre der ersten Rezensionen gewinnt man den Eindruck, jeder habe ein anderes Buch gelesen. Handelte es sich um eine kritische Milieustudie der Adelswelt oder um eine konservative Liebeserklärung an ein monarchisch verfaßtes Gemeinwesen? Um eine dezidiert unpolitische Künstler-Allegorie oder, ganz im Gegenteil, um eine politische Satire? Das körperliche Handicap Wilhelms II. wird von Thomas Mann für die Gestaltung Klaus Heinrichs übernommen. Wenn dann auch noch das höfische Leben als "leere Repräsentation" dargestellt wird (grandios in der Parabel vom "Fimmelgottlieb"), dann war das angesichts der signalhaften Nähe zum deutschen Kaiser einigermaßen kühn.
Andererseits konnte die Darstellung auch als Kompliment aufgefaßt werden. Denn ohne Zweifel ist Klaus Heinrich ein positiver Held, der sein Land beglückt. Hatte es Thomas Mann sogar darauf angelegt, daß sich der Kaiser "verstanden" fühlen sollte? Aber der hat das Buch wohl nie gelesen. Gelesen hat es aber vermutlich Franz Kafka, der bekannte, nach den Werken Thomas Manns zu "hungern", und im Erscheinungsjahr des Romans selbst seine erste Prosa veröffentlichte. Eine Passage aus "Königliche Hoheit" könnte man, ohne daß es stilistisch zu unterscheiden wäre, in Kafkas bald darauf entstandenen Roman "Amerika" versetzen - die ziemlich kafkaeske Episode von Spoelmanns New Yorker Chauffeur nämlich, den man am Ende seiner todesgefährlichen rasenden Fahrten ohnmächtig vom Sitz heben muß.
"Königliche Hoheit" war nicht bei der Kritik, aber beim Publikum erfolgreich. Im Bücherherbst 1909 kam der Roman bereits auf neun Auflagen. Großen Beifall bei der Kritik fand dagegen 1912 "Der Tod in Venedig". Die Problematik der Entwürdigung, die "Königliche Hoheit" bereits mit großer Leichtigkeit abhandelte (Klaus Heinrich verliert beim Bürgerball die Haltung und bekommt von der amüsierten Menge den Bowlendeckel aufgesetzt) -, findet hier ihre mustergültige Gestaltung, und das Erstaunlichste an diesem Text ist vielleicht seine durchgehaltene doppelbödige Schreibstrategie von Erhabenheit und Ironie. Mit sämtlichen frühen Erzählungen ist die Novelle nun ebenfalls in der Großen kommentierten Ausgabe erschienen. Hier sind keine Neubewertungen zu erwarten; der renommierte englische Thomas-Mann-Experte Terence James Reed gibt detaillierte und profunde Stellenkommentare, hält sich dagegen bei den Einführungen in die überwiegend vorzüglichen Geschichten sehr zurück. Angenehm fällt sein unfeierlicher Umgang mit dem kanonischen Material auf.
Sind Meistererzählungen wie "Der Tod in Venedig" zu Ende interpretierte Texte? Daß durchaus noch interessante Zugänge möglich sind, und zwar oft gerade über wenig beachtete Realien, zeigt ein kulinarischer kleiner Band zur Venedignovelle. Der Literaturdetektiv Reinhard Pabst hat Thomas-Mann-Trouvaillen zu einem Schau- und Lesebuch zusammengestellt. Zeitgenössische Venedigfotografien werden durch Informationen über die Lido-Luxushotels und die verheimlichte Cholera-Epidemie von 1911 ergänzt. Dank dieser Handreichung liest man den sattsam bekannten Klassiker wieder mit respektvoll geweiteten Augen.
WOLFGANG SCHNEIDER
Thomas Mann: "Königliche Hoheit". Roman. Textband und Kommentarband. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 4/1-2. Hrsg. v. Heinrich Detering in Zusammenarbeit mit Stephan Stachorski, S. Fischer, Frankfurt am Main 2005. 403 S. u. 643 S., geb., 72,- [Euro].
Thomas Mann: "Frühe Erzählungen". Textband und Kommentarband. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 2/1-2. Hrsg. v. Terence James Reed in Zusammenarbeit mit Malte Herwig, S. Fischer, Frankfurt a. M. 2005, 607 S. u. 604 S., geb., 80,- [Euro].
Reinhard Pabst: "Thomas Mann in Venedig". Eine Spurensuche. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2004. 255 S., br., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Angetan zeigt sich Rezensent Wolfgang Schneider von Reinhard Pabsts Buch "Thomas Mann in Venedig". Für Schneider stellt sich nach der Lektüre die Frage, ob Meistererzählungen wie "Der Tod in Venedig" tatsächlich schon zu Ende interpretierte Texte sind. Denn Pabsts "kulinarischer kleiner Band" zur Venedignovelle zeigt nach Ansicht Schneiders, "dass durchaus noch interessante Zugänge möglich sind, und zwar oft gerade über wenig beachtete Realien". Papst habe Thomas-Mann-Trouvaillen zu einem Schau- und Lesebuch zusammengestellt, das neben zeitgenössischen Venedigfotografien Informationen über die Lido-Luxushotels und die verheimlichte Cholera-Epidemie von 1911 bereit hält. Dank Pabst liest der Rezensent den wahrlich nicht unbekannten Klassiker "wieder mit respektvoll geweiteten Augen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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