Thukydides ist zwar einer der meistbehandelten Autoren der Antike, aber an zahlreichen Problemen, die sein politisches Denken berühren, ist die Forschung vorbeigegangen. Eine genaue Untersuchung der Stellung etwa, die er in der von seinen Zeitgenossen lebhaft geführten Debatte über verschiedene Verfassungsformen einnahm, liegt bisher nicht vor. Das politische Denken der Antike findet bis heute auch jenseits der Kreise von Spezialisten intellektuelles Interesse. Im Zentrum der Arbeit von H. Leppin steht ein Text, der zwar kein Dokument expliziter politischer Theoriebildung darstellt, der aber politische Ideen impliziert: das Geschichtswerk des Thukydides über den peloponnesischen Krieg in 8 Büchern. Es wird keine immanente Interpretation des Thukydides vorgelegt, sondern der Text wird in einen bestimmten Rahmen gestellt, weniger durch den Nachweis quellenmäßiger Abhängigkeiten von anderen Autoren als vor allem durch den Vergleich zeitgenössischer Argumentationsweisen und Begrifflichkeiten. Auf diese Weise wird Thukydides' Position innerhalb der politischen Diskussionen seiner Zeit bestimmt. Mit diesem klassischen Thema der althistorischen Forschung eröffnen wir die Reihe der Klio-Beihefte neu.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Will zeichnet in seiner Rezension zunächst die Rezeptionsgeschichte des antiken Historikers nach: 2000 Jahre lang, von seinem Tod 400 vor Christus bis ins 15. Jahrhundert war er nahezu unbekannt. Seit dem 19. Jahrhundert ist er der am meisten erforschte Historiker seiner Zeit. Hegel, Nietzsche und andere Philosophen schätzten ihn sehr. Leppins Buch bescheinigt Will, dass es trotz seiner vielen Vorgänger noch "Wasser aus dem Stein" schlage. Leppin stelle Thukydides in den Zusammenhang mit anderen Intellektuellen seiner Epoche. Trotz einer Fragestellung, die nicht neu sei, gelinge es seinem Beitrag zur politischen Ideengeschichte der Antike neue Akzente zu setzen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999Kriegerische Verwicklungen fördern die Wissenschaft
Der Streit ist der Vater aller Fragen: Was Thukydides zu antworten wusste, erforscht Hartmut Leppin / Von Wolfgang Will
Thukydides blieb mehr als zweitausend Jahre folgenlos. Erst im fünfzehnten Jahrhundert gelangte sein Werk von Byzanz in den Westen Europas, bis dahin war es dort nur aus Zitaten bekannt. Lorenzo Valla übersetzte es 1452 ins Lateinische, die Wirkungsgeschichte begann, als Thomas Hobbes 1628 die Übertragung ins Englische wagte (der Einfluss auf Machiavelli ist Spekulation). Hume und Kant priesen es emphatisch mit denselben Worten, das erste Blatt im Thukydides sei der einzige Anfang aller wahren Geschichte, Hegel nannte es unsterblich, Nietzsche fühlte sich dem Athener wie keinem anderen verwandt, die Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts erblickte in ihm ihren Vordenker.
Thukydides starb wohl kurz nach 400, wenige Jahre nachdem der Krieg, den er beschrieb, der Peloponnesische, zu Ende gegangen war (431 bis 404). Er hinterließ ein Fragment, sein Werk bricht mitten im Satz ab, ein unbekannter Redaktor veröffentlichte, was er im Nachlass vorfand. Anders als sein Vorgänger Herodot, der lange vor Veröffentlichung seiner Historiai in den frühen zwanziger Jahren das griechische Publikum faszinierte, hat Thukydides auch zu Lebzeiten kein Echo gefunden. Zwanzig Jahre lang war er von Athen abgeschnitten, nachdem er als attischer Stragtegos eine militärische Niederlage zu verantworten hatte und verbannt worden war.
Er schrieb, von Reisen in die Peloponnes, nach Sizilien und Kleinasien unterbrochen, Hauptteile seines Werkes in der Abgeschiedenheit Thrakiens, wo er am Rande des attischen Imperiums Goldminen besaß. Es zeigen sich keine Spuren seines politischen Denkens bei den Publizisten, Rhetoren und Philosophen des vierten Jahrhunderts. Platon hatte sein Werk nicht einmal gelesen, Isokrates oder Demosthenes zitieren belanglose Versatzstücke. Zwar fanden sich Historiker, die die abgebrochene Geschichte des Peloponnesischen Krieges fortschrieben, verstanden haben sie Thukydides' Sicht der Geschichte so wenig wie die Attizisten des ersten Jahrhunderts vor Christus, die eine Renaissance des Atheners begründeten, in ihm aber lediglich den großen Stilisten bewunderten.
Mit den Arbeiten von Wilhelm Roscher und Franz Wolfgang Ullrich begann Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die intensive Auseinandersetzung mit Thukydides. Kein Historiker der Antike beschäftigte die Forschung mehr. In der Flut von Publikationen einen trockenen Platz zu finden ist das erste Problem jeder neuen Untersuchung. Hartmut Leppin versteht die seinige als Beitrag zur politischen Ideengeschichte der Antike, er versucht das Denken des Thukydides in die große Verfassungsdebatte des fünften Jahrhunderts einzuordnen. Die Fragestellung ist nicht neu, doch dem Verfasser gelingt es, in umfassender Interpretation allen Materials Akzente zu setzen, die eine Wiederbearbeitung legitimieren.
Wie seine Vorgänger muss Leppin sich mit den noch immer ungelösten Fragen der Biographie und Werkgenese auseinander setzen, das größte Problem aber für den von ihm gewählten Ansatz liegt im Forschungsinteresse des Thukydides. Der Athener sah sich als Kriegshistoriker. Ihn beschäftigte nur ein Thema, der Peloponnesische Krieg, und alles, was der Historiker an Fragen der Politik, Religion, Kultur, Wirtschaft behandelt, ist dem einen Ziel untergeordnet, zu wissen, warum und zu welchem Zweck dieser Krieg geführt wurde, welche Faktoren seinen Verlauf und seinen Ausgang bestimmten. Wo Herodot Geschichten vom (persischen) Krieg erzählt, schreibt Thukydides die Geschichte des Krieges. Nirgends sucht er Entschuldigungen für athenisches Versagen oder das eigene Unglück. Er stellt keine Theorien auf und meidet Spekulationen, sein Ziel ist es, den Verlauf des Geschehens zu beschreiben zum Nutzen des Lesers.
Nur an ganz seltenen Stellen wird die Person des Autors hinter dem Text sichtbar, meist bleibt seine Meinung verborgen. Wo Hintergründe beleuchtet, Zusammenhänge hergestellt, Einsichten geäußert werden müssen, überlässt der Historiker den Protagonisten des Krieges das Wort. Deren Reden breiten sich wie ein Netz über das Werk, wiederkehrende Motive verbinden einzelne, auch weit entfernte Teile. Dem Logos folgt der Antilogos, dem Argument das Gegenargument, eine These wird durch eine andere aufgehoben. Wie im Melierdialog, der zeitlos gültig das Wesen von Macht offen legt, ist kaum zu entscheiden, wohin der Historiker selbst tendiert.
Vor Leppins Unterfangen, die "Gedanken des Historikers über die Verfassung der Polis seiner Zeit" zu erschließen, türmen sich die Schwierigkeiten. Wie der Riese im Märchen muss er Wasser aus dem Stein schlagen, und im Gegensatz zu diesem gelingt es ihm. Nach einer kenntnisreichen Einleitung beleuchtet er Thukydides' Stellung in der zeitgenössischen Debatte über Demokratie, Oligarchie und Monarchie und verdeutlicht dessen politisches Denken, indem er es in Bezug zu dem anderer Intellektueller der Zeit, vor allem zu Protagoras, Demokrit sowie dem Anonymus Iamblichi setzt. Er behandelt das für Thukydides so wichtige Verhältnis von Masse und Elite, untersucht die Darstellung exponierter Staatsmänner wie Perikles, und Hermokrates zeigt Thukydides als einen Historiker, der es verstand, die Anregungen seiner Zeit aufzunehmen, zu verarbeiten und sich dennoch als weitgehend unabhängiger Kopf zu behaupten.
Leppin ist in vielen Sprachen zu Hause, und so kann es nicht ausbleiben, dass das Deutsche bei ihm gelegentlich ein bisschen fremd wirkt. Struktur-Diskurs hat Konjunktur, aber die Ur-Laute der (post)modernen Wissenschaft sind in ihrer Häufung schwer erträglich. Leppin verfällt bisweilen diesem Jargon, doch das tut der Arbeit wenig Abbruch. Seine Untersuchung ist gediegen und sie schließt eine Forschungslücke. Noch einmal ein Buch über, vor allem aber: für Thukydides.
Hartmut Leppin: "Thukydides und die Verfassung der Polis". Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des fünften Jahrhunderts vor Christus. Akademie Verlag, Berlin 1999. 220 S., geb., 112,- DM.
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Der Streit ist der Vater aller Fragen: Was Thukydides zu antworten wusste, erforscht Hartmut Leppin / Von Wolfgang Will
Thukydides blieb mehr als zweitausend Jahre folgenlos. Erst im fünfzehnten Jahrhundert gelangte sein Werk von Byzanz in den Westen Europas, bis dahin war es dort nur aus Zitaten bekannt. Lorenzo Valla übersetzte es 1452 ins Lateinische, die Wirkungsgeschichte begann, als Thomas Hobbes 1628 die Übertragung ins Englische wagte (der Einfluss auf Machiavelli ist Spekulation). Hume und Kant priesen es emphatisch mit denselben Worten, das erste Blatt im Thukydides sei der einzige Anfang aller wahren Geschichte, Hegel nannte es unsterblich, Nietzsche fühlte sich dem Athener wie keinem anderen verwandt, die Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts erblickte in ihm ihren Vordenker.
Thukydides starb wohl kurz nach 400, wenige Jahre nachdem der Krieg, den er beschrieb, der Peloponnesische, zu Ende gegangen war (431 bis 404). Er hinterließ ein Fragment, sein Werk bricht mitten im Satz ab, ein unbekannter Redaktor veröffentlichte, was er im Nachlass vorfand. Anders als sein Vorgänger Herodot, der lange vor Veröffentlichung seiner Historiai in den frühen zwanziger Jahren das griechische Publikum faszinierte, hat Thukydides auch zu Lebzeiten kein Echo gefunden. Zwanzig Jahre lang war er von Athen abgeschnitten, nachdem er als attischer Stragtegos eine militärische Niederlage zu verantworten hatte und verbannt worden war.
Er schrieb, von Reisen in die Peloponnes, nach Sizilien und Kleinasien unterbrochen, Hauptteile seines Werkes in der Abgeschiedenheit Thrakiens, wo er am Rande des attischen Imperiums Goldminen besaß. Es zeigen sich keine Spuren seines politischen Denkens bei den Publizisten, Rhetoren und Philosophen des vierten Jahrhunderts. Platon hatte sein Werk nicht einmal gelesen, Isokrates oder Demosthenes zitieren belanglose Versatzstücke. Zwar fanden sich Historiker, die die abgebrochene Geschichte des Peloponnesischen Krieges fortschrieben, verstanden haben sie Thukydides' Sicht der Geschichte so wenig wie die Attizisten des ersten Jahrhunderts vor Christus, die eine Renaissance des Atheners begründeten, in ihm aber lediglich den großen Stilisten bewunderten.
Mit den Arbeiten von Wilhelm Roscher und Franz Wolfgang Ullrich begann Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die intensive Auseinandersetzung mit Thukydides. Kein Historiker der Antike beschäftigte die Forschung mehr. In der Flut von Publikationen einen trockenen Platz zu finden ist das erste Problem jeder neuen Untersuchung. Hartmut Leppin versteht die seinige als Beitrag zur politischen Ideengeschichte der Antike, er versucht das Denken des Thukydides in die große Verfassungsdebatte des fünften Jahrhunderts einzuordnen. Die Fragestellung ist nicht neu, doch dem Verfasser gelingt es, in umfassender Interpretation allen Materials Akzente zu setzen, die eine Wiederbearbeitung legitimieren.
Wie seine Vorgänger muss Leppin sich mit den noch immer ungelösten Fragen der Biographie und Werkgenese auseinander setzen, das größte Problem aber für den von ihm gewählten Ansatz liegt im Forschungsinteresse des Thukydides. Der Athener sah sich als Kriegshistoriker. Ihn beschäftigte nur ein Thema, der Peloponnesische Krieg, und alles, was der Historiker an Fragen der Politik, Religion, Kultur, Wirtschaft behandelt, ist dem einen Ziel untergeordnet, zu wissen, warum und zu welchem Zweck dieser Krieg geführt wurde, welche Faktoren seinen Verlauf und seinen Ausgang bestimmten. Wo Herodot Geschichten vom (persischen) Krieg erzählt, schreibt Thukydides die Geschichte des Krieges. Nirgends sucht er Entschuldigungen für athenisches Versagen oder das eigene Unglück. Er stellt keine Theorien auf und meidet Spekulationen, sein Ziel ist es, den Verlauf des Geschehens zu beschreiben zum Nutzen des Lesers.
Nur an ganz seltenen Stellen wird die Person des Autors hinter dem Text sichtbar, meist bleibt seine Meinung verborgen. Wo Hintergründe beleuchtet, Zusammenhänge hergestellt, Einsichten geäußert werden müssen, überlässt der Historiker den Protagonisten des Krieges das Wort. Deren Reden breiten sich wie ein Netz über das Werk, wiederkehrende Motive verbinden einzelne, auch weit entfernte Teile. Dem Logos folgt der Antilogos, dem Argument das Gegenargument, eine These wird durch eine andere aufgehoben. Wie im Melierdialog, der zeitlos gültig das Wesen von Macht offen legt, ist kaum zu entscheiden, wohin der Historiker selbst tendiert.
Vor Leppins Unterfangen, die "Gedanken des Historikers über die Verfassung der Polis seiner Zeit" zu erschließen, türmen sich die Schwierigkeiten. Wie der Riese im Märchen muss er Wasser aus dem Stein schlagen, und im Gegensatz zu diesem gelingt es ihm. Nach einer kenntnisreichen Einleitung beleuchtet er Thukydides' Stellung in der zeitgenössischen Debatte über Demokratie, Oligarchie und Monarchie und verdeutlicht dessen politisches Denken, indem er es in Bezug zu dem anderer Intellektueller der Zeit, vor allem zu Protagoras, Demokrit sowie dem Anonymus Iamblichi setzt. Er behandelt das für Thukydides so wichtige Verhältnis von Masse und Elite, untersucht die Darstellung exponierter Staatsmänner wie Perikles, und Hermokrates zeigt Thukydides als einen Historiker, der es verstand, die Anregungen seiner Zeit aufzunehmen, zu verarbeiten und sich dennoch als weitgehend unabhängiger Kopf zu behaupten.
Leppin ist in vielen Sprachen zu Hause, und so kann es nicht ausbleiben, dass das Deutsche bei ihm gelegentlich ein bisschen fremd wirkt. Struktur-Diskurs hat Konjunktur, aber die Ur-Laute der (post)modernen Wissenschaft sind in ihrer Häufung schwer erträglich. Leppin verfällt bisweilen diesem Jargon, doch das tut der Arbeit wenig Abbruch. Seine Untersuchung ist gediegen und sie schließt eine Forschungslücke. Noch einmal ein Buch über, vor allem aber: für Thukydides.
Hartmut Leppin: "Thukydides und die Verfassung der Polis". Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des fünften Jahrhunderts vor Christus. Akademie Verlag, Berlin 1999. 220 S., geb., 112,- DM.
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