Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.1998Autonomie als Farce
Eine verdienstvolle Studie zu Tibet aus völkerrechtlicher Sicht
Gerald Schmitz: Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Walter de Gruyter, Berlin 1998. XIV, 362 Seiten. 168,- Mark.
Für die chinesische Führung ist der Fall klar: Tibet war immer ein Teil Chinas, und das wird auch so bleiben. Forderungen der Tibeter nach Unabhängigkeit werden in Peking kategorisch abgelehnt und als Hirngespinste einer "separatistischen" Minderheit diffamiert, die von dem im indischen Exil in Dharamsala lebenden Dalai Lama und seiner "spalterischen Clique" aufgehetzt werde. Doch so einfach ist die Sache nicht, auch wenn zahlreiche Regierungen der Welt aus opportunistischen Gründen die chinesische Besetzung Tibets mehr oder weniger widerspruchslos hinnehmen. In seiner zum Buch ausgearbeiteten völkerrechtlichen Dissertation über Tibet und das Selbstbestimmungsrecht kommt jedenfalls Gerald Schmitz nach gründlicher Analyse zu dem Schluß, "daß den Tibetern als Volk das Recht auf Selbstbestimmung zusteht". Doch was nützt den Tibetern dieses Recht, wenn sie davon keinen Gebrauch machen können? Darauf weiß auch das Völkerrecht keine oder nur eine vage Antwort.
Jahrzehntelang verschwiegen
"Eine generelle Verpflichtung der Staatengemeinschaft, unter bestimmten Voraussetzungen Maßnahmen zur Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts zu ergreifen, kann den einschlägigen Dokumenten nicht entnommen werden", schreibt der Autor. Aus der allen Staaten obliegenden Pflicht zur Förderung des Selbstbestimmungsrechts ergibt sich allerdings seiner Meinung nach die Aufgabe, "eine Mißachtung des Völkerrechts eindeutig als Verstoß gegen das Völkerrecht zu brandmarken". Diplomatischen Druck auf China auszuüben, Tibet die Selbstbestimmung zu gewähren, dazu sind die Staaten indessen, schwächt Schmitz gleich wieder ab, allenfalls moralisch verpflichtet, "nicht jedoch im Sinne des Völkerrechts", obgleich solcher Druck legitim wäre. Allerdings genüge es nicht, das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern es sei notwendig, "explizit gegen seine Mißachtung durch die Volksrepublik China Stellung zu beziehen". Zum Beispiel könne man die Tibet-Frage wenigstens wieder auf die Tagesordnung der UN-Vollversammlung setzen, die "jahrzehntelang" dazu geschwiegen habe.
Wie schon viele andere zuvor erschienene Bücher über die Tibet-Frage wird die chinesische Führung auch diese Arbeit ignorieren oder als unerheblich abtun, obwohl sich Schmitz bei seiner Untersuchung bemüht hat, "selber eine neutrale Position zu wahren", wie er sich ausdrückt, "und dadurch - soweit möglich - den Argumenten beider Parteien gerecht zu werden". Chinesische und möglicherweise auch tibetische Kritik voraussehend, hat er im Vorwort bemerkt, daß es "in der Natur dieser in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht komplexen Problematik" liege, wenn die Ergebnisse seiner Darlegungen "nicht immer den Beifall der beiden Seiten finden können".
Vor allem mit der Feststellung des Autors, daß Tibet zumindest "in der Zeit von 1913 bis 1950 ein von China in jeder Hinsicht unabhängiger Staat" war, der dann von China mit Gewalt annektiert wurde, wird Schmitz bei der Pekinger Führung auf heftigen Widerspruch stoßen. Aber ein Wissenschaftler, der ernst genommen werden will, kann gar nicht anders, als so zu urteilen. Mag man unter Historikern, Juristen, Politologen, Sinologen und Tibetologen über die Art des chinesisch-tibetischen Verhältnisses in den Jahrhunderten zuvor noch unterschiedlicher Meinung sein, so sind die Fakten für die 35 Jahre von 1913 bis zur Besetzung Tibets durch die Chinesen im Jahre 1950 eindeutig. Danach wurde Tibet systematisch seines Selbstbestimmungsrechts beraubt und hatte daher zumindest bis zur Konsolidierung der chinesischen Herrschaft einen "Restitutionsanspruch" auf sein Selbstbestimmungsrecht, ein "Abwehrrecht", wie es in der Sprache der Völkerrechtler heißt.
Alles nur graue Theorie? Im Augenblick ja, doch wie man bei der Auflösung der Sowjetunion gesehen hat, kann auch ein scheinbar mächtiges Riesenreich plötzlich zusammenbrechen, wenn das Herrschaftssystem morsch geworden ist. Der chinesische Kommunismus scheint zwar noch nicht reif für den Untergang zu sein, aber die Anzeichen für seinen Niedergang mehren sich. Mit einem Machtwechsel in Peking käme vielleicht auch für Tibet die Chance, seinen im Laufe der Jahre schwächer gewordenen "Restitutionsanspruch" zurückzugewinnen und durchzusetzen, sich zumindest weitgehende Autonomie von einem neuen, anderen China zu erkämpfen. Sehr groß sind die Aussichten jedoch selbst dafür nicht, denn auch ein anderes Regime in Peking wird vermutlich nationalistisch eingestellt sein und daran festhalten, daß Tibet für immer Teil des chinesischen Reiches bleiben müsse.
Die neuen Machthaber könnten zudem darauf verweisen, daß die tibetischen Kerngebiete ja längst den Status einer Autonomen Region innerhalb des chinesischen Staates genössen. Das ist in der Tat dem Namen nach so. In Wirklichkeit ist diese Autonomie eine Farce, weil alle wichtigen Entscheidungen für Tibet von Chinesen getroffen werden. Die einheimische Bevölkerung hat so gut wie nichts zu sagen und gerät überdies durch forcierte Zuwanderung von Chinesen nach Tibet allmählich in die Minderheit, zu schweigen von der bedrückenden Anwesenheit starker chinesischer Militärkräfte im Lande. Daß diese Besatzungstruppen und die chinesischen Einwanderer Tibet jemals wieder verlassen werden, ist kaum anzunehmen. Das Selbstbestimmungsrecht für Tibet ist daher gegenwärtig und auch künftig weniger eine völkerrechtliche Angelegenheit als vielmehr eine Machtfrage. Wie so oft in der Geschichte geht auch in Tibet Macht vor Recht.
Anfechtbare Ansprüche
Gleichwohl bleibt die Arbeit von Gerald Schmitz verdienstvoll, weil sie mit wissenschaftlicher Klarheit nachweist, wie anfechtbar die historischen und juristischen Ansprüche Chinas auf Tibet sind und welch starke völkerrechtliche Argumente die tibetische Seite anführen kann, wenn sie nicht müde wird, auf ihrem Selbstbestimmungsrecht zu bestehen. Die einzige Einschränkung, die Schmitz in seiner Zusammenfassung macht, bezieht sich auf die im Laufe der Geschichte schwankende Größe des von Tibetern besiedelten und verwalteten Gebietes. Das Selbstbestimmungsrecht steht seiner Meinung nach nur dem Teil der Tibeter zu, "über die der untergegangene Staat auch Personalhoheit ausüben konnte". Da das ehemalige Staatsgebiet sich auf das Territorium der heutigen Autonomen Region Tibet beschränkte, stehe der Restitutionsanspruch auch nur der Bevölkerung dieses Territoriums zu. Mehr wollen die Tibeter auch gar nicht. Vielleicht wären sie sogar mit noch weniger zufrieden. Aber selbst unverbindliche Sondierungsgespräche mit dem Dalai Lama, den die Mehrheit der Tibeter auch nach fast 50 Jahren chinesischer Unterdrückung immer noch als ihren geistlichen und politischen Führer ansieht, verweigern die Chinesen.
KLAUS NATORP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine verdienstvolle Studie zu Tibet aus völkerrechtlicher Sicht
Gerald Schmitz: Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Walter de Gruyter, Berlin 1998. XIV, 362 Seiten. 168,- Mark.
Für die chinesische Führung ist der Fall klar: Tibet war immer ein Teil Chinas, und das wird auch so bleiben. Forderungen der Tibeter nach Unabhängigkeit werden in Peking kategorisch abgelehnt und als Hirngespinste einer "separatistischen" Minderheit diffamiert, die von dem im indischen Exil in Dharamsala lebenden Dalai Lama und seiner "spalterischen Clique" aufgehetzt werde. Doch so einfach ist die Sache nicht, auch wenn zahlreiche Regierungen der Welt aus opportunistischen Gründen die chinesische Besetzung Tibets mehr oder weniger widerspruchslos hinnehmen. In seiner zum Buch ausgearbeiteten völkerrechtlichen Dissertation über Tibet und das Selbstbestimmungsrecht kommt jedenfalls Gerald Schmitz nach gründlicher Analyse zu dem Schluß, "daß den Tibetern als Volk das Recht auf Selbstbestimmung zusteht". Doch was nützt den Tibetern dieses Recht, wenn sie davon keinen Gebrauch machen können? Darauf weiß auch das Völkerrecht keine oder nur eine vage Antwort.
Jahrzehntelang verschwiegen
"Eine generelle Verpflichtung der Staatengemeinschaft, unter bestimmten Voraussetzungen Maßnahmen zur Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts zu ergreifen, kann den einschlägigen Dokumenten nicht entnommen werden", schreibt der Autor. Aus der allen Staaten obliegenden Pflicht zur Förderung des Selbstbestimmungsrechts ergibt sich allerdings seiner Meinung nach die Aufgabe, "eine Mißachtung des Völkerrechts eindeutig als Verstoß gegen das Völkerrecht zu brandmarken". Diplomatischen Druck auf China auszuüben, Tibet die Selbstbestimmung zu gewähren, dazu sind die Staaten indessen, schwächt Schmitz gleich wieder ab, allenfalls moralisch verpflichtet, "nicht jedoch im Sinne des Völkerrechts", obgleich solcher Druck legitim wäre. Allerdings genüge es nicht, das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern es sei notwendig, "explizit gegen seine Mißachtung durch die Volksrepublik China Stellung zu beziehen". Zum Beispiel könne man die Tibet-Frage wenigstens wieder auf die Tagesordnung der UN-Vollversammlung setzen, die "jahrzehntelang" dazu geschwiegen habe.
Wie schon viele andere zuvor erschienene Bücher über die Tibet-Frage wird die chinesische Führung auch diese Arbeit ignorieren oder als unerheblich abtun, obwohl sich Schmitz bei seiner Untersuchung bemüht hat, "selber eine neutrale Position zu wahren", wie er sich ausdrückt, "und dadurch - soweit möglich - den Argumenten beider Parteien gerecht zu werden". Chinesische und möglicherweise auch tibetische Kritik voraussehend, hat er im Vorwort bemerkt, daß es "in der Natur dieser in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht komplexen Problematik" liege, wenn die Ergebnisse seiner Darlegungen "nicht immer den Beifall der beiden Seiten finden können".
Vor allem mit der Feststellung des Autors, daß Tibet zumindest "in der Zeit von 1913 bis 1950 ein von China in jeder Hinsicht unabhängiger Staat" war, der dann von China mit Gewalt annektiert wurde, wird Schmitz bei der Pekinger Führung auf heftigen Widerspruch stoßen. Aber ein Wissenschaftler, der ernst genommen werden will, kann gar nicht anders, als so zu urteilen. Mag man unter Historikern, Juristen, Politologen, Sinologen und Tibetologen über die Art des chinesisch-tibetischen Verhältnisses in den Jahrhunderten zuvor noch unterschiedlicher Meinung sein, so sind die Fakten für die 35 Jahre von 1913 bis zur Besetzung Tibets durch die Chinesen im Jahre 1950 eindeutig. Danach wurde Tibet systematisch seines Selbstbestimmungsrechts beraubt und hatte daher zumindest bis zur Konsolidierung der chinesischen Herrschaft einen "Restitutionsanspruch" auf sein Selbstbestimmungsrecht, ein "Abwehrrecht", wie es in der Sprache der Völkerrechtler heißt.
Alles nur graue Theorie? Im Augenblick ja, doch wie man bei der Auflösung der Sowjetunion gesehen hat, kann auch ein scheinbar mächtiges Riesenreich plötzlich zusammenbrechen, wenn das Herrschaftssystem morsch geworden ist. Der chinesische Kommunismus scheint zwar noch nicht reif für den Untergang zu sein, aber die Anzeichen für seinen Niedergang mehren sich. Mit einem Machtwechsel in Peking käme vielleicht auch für Tibet die Chance, seinen im Laufe der Jahre schwächer gewordenen "Restitutionsanspruch" zurückzugewinnen und durchzusetzen, sich zumindest weitgehende Autonomie von einem neuen, anderen China zu erkämpfen. Sehr groß sind die Aussichten jedoch selbst dafür nicht, denn auch ein anderes Regime in Peking wird vermutlich nationalistisch eingestellt sein und daran festhalten, daß Tibet für immer Teil des chinesischen Reiches bleiben müsse.
Die neuen Machthaber könnten zudem darauf verweisen, daß die tibetischen Kerngebiete ja längst den Status einer Autonomen Region innerhalb des chinesischen Staates genössen. Das ist in der Tat dem Namen nach so. In Wirklichkeit ist diese Autonomie eine Farce, weil alle wichtigen Entscheidungen für Tibet von Chinesen getroffen werden. Die einheimische Bevölkerung hat so gut wie nichts zu sagen und gerät überdies durch forcierte Zuwanderung von Chinesen nach Tibet allmählich in die Minderheit, zu schweigen von der bedrückenden Anwesenheit starker chinesischer Militärkräfte im Lande. Daß diese Besatzungstruppen und die chinesischen Einwanderer Tibet jemals wieder verlassen werden, ist kaum anzunehmen. Das Selbstbestimmungsrecht für Tibet ist daher gegenwärtig und auch künftig weniger eine völkerrechtliche Angelegenheit als vielmehr eine Machtfrage. Wie so oft in der Geschichte geht auch in Tibet Macht vor Recht.
Anfechtbare Ansprüche
Gleichwohl bleibt die Arbeit von Gerald Schmitz verdienstvoll, weil sie mit wissenschaftlicher Klarheit nachweist, wie anfechtbar die historischen und juristischen Ansprüche Chinas auf Tibet sind und welch starke völkerrechtliche Argumente die tibetische Seite anführen kann, wenn sie nicht müde wird, auf ihrem Selbstbestimmungsrecht zu bestehen. Die einzige Einschränkung, die Schmitz in seiner Zusammenfassung macht, bezieht sich auf die im Laufe der Geschichte schwankende Größe des von Tibetern besiedelten und verwalteten Gebietes. Das Selbstbestimmungsrecht steht seiner Meinung nach nur dem Teil der Tibeter zu, "über die der untergegangene Staat auch Personalhoheit ausüben konnte". Da das ehemalige Staatsgebiet sich auf das Territorium der heutigen Autonomen Region Tibet beschränkte, stehe der Restitutionsanspruch auch nur der Bevölkerung dieses Territoriums zu. Mehr wollen die Tibeter auch gar nicht. Vielleicht wären sie sogar mit noch weniger zufrieden. Aber selbst unverbindliche Sondierungsgespräche mit dem Dalai Lama, den die Mehrheit der Tibeter auch nach fast 50 Jahren chinesischer Unterdrückung immer noch als ihren geistlichen und politischen Führer ansieht, verweigern die Chinesen.
KLAUS NATORP
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main