Grübeln gilt als Motor depressiver Verstimmungen und bipolarer Störungen: Eine These, der aus Sicht der Kulturwissenschaften kaum zuzustimmen ist. Seit den Studien Susan Nolen-Hoeksemas steht der Begriff des Grübelns im Fokus des psychologischen Interesses. Burkhard Meyer-Sickendieks neues Buch erklärt diese Faszinationskraft des Grübelns durch die Dimension der Tiefe, deren Erkundung seit Novalis zu den zentralen Themen der Romantik zählt. Neben den Hintergründen des romantischen Tiefsinns beleuchtet es nicht nur die Funktion des Grübelns in der romantischen Poesie, sondern auch den Verlust dieser Tradition. Er beginnt in der Gründerzeit um 1880, denn hier entsteht die bis heute reichende psychologische Pathologisierung des Grübelns als Zwangsvorstellung. Die Konsequenz dieser Pathologisierung erstaunt, denn mit ihr schwindet die für romantische Literatur so wichtige Möglichkeit, vom Grübeln zu erzählen. Warum dies so ist, ergründet dieses Buch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2010Von der Schwierigkeit, an der Oberfläche zu bleiben
Nachsinnen ohne Ende: Burkhard Meyer-Sickendiek kennt viele Facetten des Grübelns
Das Grübeln gilt als ein Denken, das sich verliert. Die Psychologie hat es seit längerem ins pathologische Register eingereiht. Schon 1868 definierte der Psychiater und Internist Wilhelm Griesinger es erstmals als neurotische Störung. In neueren psychologischen Theorien firmiert es als selbstquälerisches, Depressionen förderndes Wiederkäuen immer gleicher Gedanken, die sich zwanghaft einstellen, als ein vom Zweifel infiziertes Denken, das sich in abstrakten, selbstbezogenen Problemen ohne Ziel und Handlungsfolge verstrickt.
Man kann äußere Faktoren für diese negative semantische Drift anführen, etwa das Bedürfnis, die Denk- und Handlungsökonomie knappen Zeitverhältnissen anzupassen, in denen der schweifende Gedanken zum Störfaktor wird. Auch Konzentration wird in manchen Kreisen schon als dem Digitalzeitalter nicht mehr zeitgemäßer luxuriöser Geisteszustand gehandelt. Während im Alltag die Tendenz um sich greift, Momente allgemeiner Reflexion und der Unbestimmtheit des Denkens zu vermeiden.
In dieser Unbestimmtheit ist das Grübeln, von seiner positiven Seite betrachtet, jedoch zu Hause, als eine Reflexionsform, die sich sachbezogenen Problemen verweigert, um zu Existenzproblemen vorzudringen. Das Nachdenken über das eigene Einer-Sache-Nachsinnen läuft dem Grübler wie eine zweite Reflexionsspur nebenher und verhindert die gedankliche Konkretion.
Es mag überraschen, dass die literaturwissenschaftliche Monographie Burkhard Meyer-Sickendieks den Zugang zu ihrem Gegenstand zunächst über die Naturwissenschaft sucht, als gäbe es in der Literatur nicht genug Beispiele gedankenversunkenen Einzelgängertums. Doch es bleibt nicht der einzige Ansatz: In Anlehnung an Gestaltpsychologie und Phänomenologie nimmt Meyer-Sickendiek die existentielle Gestimmtheit, die "unscharfe, gefühlsartige Gegebenheit" der Erlebniswelt als Triebfeder des Grübelns und gewinnt so ein Gegengewicht zum terminologischen Raster. Vermittelt über den Begriff der Stimmung als eines auf Ruhe und Fernsicht beruhenden Weltverhältnisses sieht er im Grübeln einen Distanzgewinn zur nackten Tatsachenwelt, ein weiter ausgreifendes, entzerrtes Denken.
Die mentale Abwesenheit des Grüblers ist dann Indiz eines geweiteten Blicks, der jedoch täuschen kann: Bei Nietzsche findet sich am deutlichsten der Gedanke, dass gerade der Tiefsinnige sich das Grübeln verbieten und um Klarheit bemühen muss, während der scheinbar Tiefsinnige das Dunkle kultiviert. Das wahrhaft Tiefe liebe die Oberfläche und die Maske.
Das Grübeln ist kein genuin romantisches Phänomen. Doch erst diese Epoche, das ist der zweite Ausgangspunkt des Autors, hat seine Tiefenschichten in einer wahrhaften Mode des Grübelns entfaltet. Die Epoche kennt viele bildhafte Formulierungen, um den grübelnden Vorstoß in tiefere Daseinsschichten auszugestalten: das Sich-Vorgraben "zum reinen Kristallgrund unserer Seele", das Hinabsteigen ins "Bergwerk der Seele". In ihrer Naturmetaphorik verweisen sie auf das Ziel, in der Natur sich selbst zu erkennen, wie es in der Frage von Novalis "Ist denn das Weltall nicht in uns?" am deutlichsten erscheint.
Es geht dem Autor aber nicht um eine reine Phänomenologie des Grübelns mit dem Ziel, dem kupierten verwissenschaftlichten Begriff die verlorene Bedeutungsfülle und Seelentiefe des romantischen Pendants zurückzuerstatten. Im Zentrum seiner weit ausgreifenden Konstruktion, die ihre verschiedenen Stränge nicht immer eng beieinander halten kann, steht die erzähltheoretische Frage, welche Konsequenz die Pathologisierung des Grübelns für das Erzählen in der Moderne hat. Seine Antwort lautet, dass die Moderne über die Entdeckung des Grübelns als kognitiven Mechanismus in die Erzählkrise geriet. Weil der Autor über diese literaturtheoretische Frage, deren Beantwortung ziemlich forciert ausfällt, nicht seinen zweiten Impuls einer Faszinationsgeschichte vergisst, erschließt er das Grübeln in vielen Facetten.
Konnte die Romantik, besonders im Genre der Novelle, noch in ironisch schwebender Distanz vom Grübler erzählen, ohne selbst dem Zweifel zu verfallen, so beginnt der moderne Erzähler selbst zum Grübler zu werden und darüber das Erzählen zu vergessen. Naturwissenschaftlich gebildete Schriftsteller der Moderne wie Benn, Musil oder Schnitzler geraten in den Sog des pathologischen Befunds. Bei Hofmannsthal wird das Grübeln zum Symptom der Willenskrankheit, in Gottfried Benns Rönne-Novelle verstrickt sich der Held in die Funktionalität des eigenen Gehirns, bei Kafka im Bau der Gedanken, ohne dass die jeweiligen Geschichten ein Ende finden.
Meyer-Sickendiek lässt die Geschichte des nachmetaphysischen Grübelns in diesem Bau nicht steckenbleiben. Das Schlusswort überlässt er Walter Benjamin, der das Grübeln als zweckfreies Erinnern eines ursprünglicheren Bewusstseins rehabilitierte. Das Grübeln bewährt sich bei ihm als Distanzphänomen, das der Welt der Dinge, die in der Moderne der menschlichen Gesellschaft "viel zu brennend auf den Leib gerückt" seien, wieder eine Aura der Ferne verleiht.
THOMAS THIEL
Burkhard Meyer-Sickendiek: "Tiefe". Über die Faszination des Grübelns. Wilhelm Fink Verlag, München 2010. 349 S., br., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nachsinnen ohne Ende: Burkhard Meyer-Sickendiek kennt viele Facetten des Grübelns
Das Grübeln gilt als ein Denken, das sich verliert. Die Psychologie hat es seit längerem ins pathologische Register eingereiht. Schon 1868 definierte der Psychiater und Internist Wilhelm Griesinger es erstmals als neurotische Störung. In neueren psychologischen Theorien firmiert es als selbstquälerisches, Depressionen förderndes Wiederkäuen immer gleicher Gedanken, die sich zwanghaft einstellen, als ein vom Zweifel infiziertes Denken, das sich in abstrakten, selbstbezogenen Problemen ohne Ziel und Handlungsfolge verstrickt.
Man kann äußere Faktoren für diese negative semantische Drift anführen, etwa das Bedürfnis, die Denk- und Handlungsökonomie knappen Zeitverhältnissen anzupassen, in denen der schweifende Gedanken zum Störfaktor wird. Auch Konzentration wird in manchen Kreisen schon als dem Digitalzeitalter nicht mehr zeitgemäßer luxuriöser Geisteszustand gehandelt. Während im Alltag die Tendenz um sich greift, Momente allgemeiner Reflexion und der Unbestimmtheit des Denkens zu vermeiden.
In dieser Unbestimmtheit ist das Grübeln, von seiner positiven Seite betrachtet, jedoch zu Hause, als eine Reflexionsform, die sich sachbezogenen Problemen verweigert, um zu Existenzproblemen vorzudringen. Das Nachdenken über das eigene Einer-Sache-Nachsinnen läuft dem Grübler wie eine zweite Reflexionsspur nebenher und verhindert die gedankliche Konkretion.
Es mag überraschen, dass die literaturwissenschaftliche Monographie Burkhard Meyer-Sickendieks den Zugang zu ihrem Gegenstand zunächst über die Naturwissenschaft sucht, als gäbe es in der Literatur nicht genug Beispiele gedankenversunkenen Einzelgängertums. Doch es bleibt nicht der einzige Ansatz: In Anlehnung an Gestaltpsychologie und Phänomenologie nimmt Meyer-Sickendiek die existentielle Gestimmtheit, die "unscharfe, gefühlsartige Gegebenheit" der Erlebniswelt als Triebfeder des Grübelns und gewinnt so ein Gegengewicht zum terminologischen Raster. Vermittelt über den Begriff der Stimmung als eines auf Ruhe und Fernsicht beruhenden Weltverhältnisses sieht er im Grübeln einen Distanzgewinn zur nackten Tatsachenwelt, ein weiter ausgreifendes, entzerrtes Denken.
Die mentale Abwesenheit des Grüblers ist dann Indiz eines geweiteten Blicks, der jedoch täuschen kann: Bei Nietzsche findet sich am deutlichsten der Gedanke, dass gerade der Tiefsinnige sich das Grübeln verbieten und um Klarheit bemühen muss, während der scheinbar Tiefsinnige das Dunkle kultiviert. Das wahrhaft Tiefe liebe die Oberfläche und die Maske.
Das Grübeln ist kein genuin romantisches Phänomen. Doch erst diese Epoche, das ist der zweite Ausgangspunkt des Autors, hat seine Tiefenschichten in einer wahrhaften Mode des Grübelns entfaltet. Die Epoche kennt viele bildhafte Formulierungen, um den grübelnden Vorstoß in tiefere Daseinsschichten auszugestalten: das Sich-Vorgraben "zum reinen Kristallgrund unserer Seele", das Hinabsteigen ins "Bergwerk der Seele". In ihrer Naturmetaphorik verweisen sie auf das Ziel, in der Natur sich selbst zu erkennen, wie es in der Frage von Novalis "Ist denn das Weltall nicht in uns?" am deutlichsten erscheint.
Es geht dem Autor aber nicht um eine reine Phänomenologie des Grübelns mit dem Ziel, dem kupierten verwissenschaftlichten Begriff die verlorene Bedeutungsfülle und Seelentiefe des romantischen Pendants zurückzuerstatten. Im Zentrum seiner weit ausgreifenden Konstruktion, die ihre verschiedenen Stränge nicht immer eng beieinander halten kann, steht die erzähltheoretische Frage, welche Konsequenz die Pathologisierung des Grübelns für das Erzählen in der Moderne hat. Seine Antwort lautet, dass die Moderne über die Entdeckung des Grübelns als kognitiven Mechanismus in die Erzählkrise geriet. Weil der Autor über diese literaturtheoretische Frage, deren Beantwortung ziemlich forciert ausfällt, nicht seinen zweiten Impuls einer Faszinationsgeschichte vergisst, erschließt er das Grübeln in vielen Facetten.
Konnte die Romantik, besonders im Genre der Novelle, noch in ironisch schwebender Distanz vom Grübler erzählen, ohne selbst dem Zweifel zu verfallen, so beginnt der moderne Erzähler selbst zum Grübler zu werden und darüber das Erzählen zu vergessen. Naturwissenschaftlich gebildete Schriftsteller der Moderne wie Benn, Musil oder Schnitzler geraten in den Sog des pathologischen Befunds. Bei Hofmannsthal wird das Grübeln zum Symptom der Willenskrankheit, in Gottfried Benns Rönne-Novelle verstrickt sich der Held in die Funktionalität des eigenen Gehirns, bei Kafka im Bau der Gedanken, ohne dass die jeweiligen Geschichten ein Ende finden.
Meyer-Sickendiek lässt die Geschichte des nachmetaphysischen Grübelns in diesem Bau nicht steckenbleiben. Das Schlusswort überlässt er Walter Benjamin, der das Grübeln als zweckfreies Erinnern eines ursprünglicheren Bewusstseins rehabilitierte. Das Grübeln bewährt sich bei ihm als Distanzphänomen, das der Welt der Dinge, die in der Moderne der menschlichen Gesellschaft "viel zu brennend auf den Leib gerückt" seien, wieder eine Aura der Ferne verleiht.
THOMAS THIEL
Burkhard Meyer-Sickendiek: "Tiefe". Über die Faszination des Grübelns. Wilhelm Fink Verlag, München 2010. 349 S., br., 39,90 [Euro].
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