Nach zahlreichen Projekten, die aus Archiven unterschiedlicher Gebrauchsfotografie schöpften (Polizei-, Militär- und stadtbaugeschichtlichen Archiven), wendet sich Arwed Messmer seinem eigenen fotografischen Archiv zu. Er blickt auf die tiefgreifenden Umbrüche Ostdeutschlands und Berlins im Anschluss an die Wiedervereinigung 1990 zurück. Dafür nutzt er bisher unveröffentlichte Bilder, editiert bestehende Werkgruppen neu und setzt die Serien zueinander in Beziehung. Problematische Aspekte der jüngeren deutschen Geschichte treten zutage, verweisen auf die Wiederkehr nationalen Denkens im wiedervereinigten Deutschland. Daneben stehen Ansichten des Stadtumbaus von Berlin, beginnend mit Abrissen von Gebäuden der ostdeutschen Nachkriegsmoderne.In den 1990er Jahren widmete sich Arwed Messmer, geb. 1964, als dokumentarischer Stadtfotograf den Veränderungen Berlins und Ostdeutschlands. Entstanden sind umfangreiche Ausstellungen und Publikationen zum Ost-Berlin der 1950er Jahre, zur Berliner Mauer, zu den Archiven der Staatssicherheit und zum westdeutschen Linksterrorismus. Falk Haberkorn, geb. 1974 in Berlin, arbeitet als freischaffender Künstler in Leipzig. Maren Lübbke-Tidow, geb. 1968, ist Kunsthistorikerin und Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Fotokritikerin, Autorin, und Kuratorin in Berlin.--Following on from a number of projects that have drawn on various archive collections of functional photography (police, military, and urban planning archives), Arwed Messmer here turns to his own personal photographic archive. He looks back at the massive upheavals in East Germany and Berlin after the reunification of Germany in 1990. For this project, Messmer uses hitherto unpublished pictures and re-edits existing groups of works, creating new arrangements and new relationships between the different series. Problematic aspects of recent German history are exposed, highlighting the return of nationalist thinking in a reunited Germany. There are also views of the reconstruction of Berlin, with the first images showing the demolition of East Germany's post-war modernist heritage.In the early 1990s, Arwed Messmer, b. 1964, turned his attention to the changes taking place in Berlin and East Germany, making this a focus of his work as a documentary urban photographer. He has mounted large-scale exhibitions and authored publications on East Berlin in the 1950s, the Berlin Wall, the Stasi archives, and left-wing terrorism in West Germany. Falk Haberkorn, b. 1974 in Berlin, works as an independent artist in Leipzig. Maren Lübbke-Tidow, b. 1968, is an art historian and political scientist. She works as a freelance photography critic, writer, and curator in Berlin.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Arwed Messmer vermittelt in seinem Bildband die "schonungslose, zuweilen romantische Trostlosigkeit" der Wende-Jahre in der DDR, schreibt Rezensent René Schlott. Messmer hegt, so Schlott, eine "bildarchäologische" Absicht mit diesem Band: Es sind vor allem Großaufnahmen von Ruinen und abzureißenden Häusern der alten DDR zu sehen, zum Beispiel im Ostteil Berlins. Außerdem bildet Messmer alte DDR-Lokomotiven ab, die schon im Zweiten Weltkrieg zum Transport von Kriegsgütern oder Menschen benutzt wurden. Zum ersten Mal kann der Rezensent hier zudem Bilder sehen, die vom Aufbruch innerhalb nach 1990 zeugen, zum Beispiel die Geburtstagsfeier der berühmten Evelyn Richter, die sich politische Parolen zum Geburtstag wünschte, lesen wir. Ein Blick in dieses "bibliophile Kleinod" lohne sich allemal, schließt Schlott.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2024Die DDR hat's also nie gegeben?
Arwed Messmer präsentiert Fotos aus seinem Archiv, mit denen er die Folgen der Wiedervereinigung in Ostdeutschland und Berlin dokumentierte.
Man sieht eine einsame Bahnstation, ein altes Holzdach, zwei Sitzbänke, doch keinen Menschen weit und breit, nicht einmal einen Zug. Nur ein leeres Gleis, eine steinerne Brücke im Hintergrund und zwischen Strommast und Birkenbaum ein Bahnhofsschild mit der Aufschrift: "Amerika". Doch dieses menschenleere "Amerika" liegt in Sachsen. Es ist der Bahnhof einer im neunzehnten Jahrhundert am Fluss Mulde entstandenen Textilfabriksiedlung, deren Gründer ihr einst den einprägsamen Namen gab. Diese doppelseitige Schwarz-Weiß-Fotografie des Fotobandes von Arwed Messmer über das Epochenjahr 1989 vermittelt dem Betrachter eine Idee von der schonungslosen, zuweilen romantischen Trostlosigkeit, die einen auf den folgenden dreihundert Seiten erwartet.
Das erste Foto des Bandes aber zeigt den Fotografen selbst, den damals vierzehnjährigen Messmer, mit einer Kamera um den Hals auf einer Brücke im thüringischen Saalfeld. Die Aufnahme entstand 1978 als Messmer, der im baden-württembergischen Schopfheim aufwuchs, zusammen mit seinem Vater in die DDR reiste, um dort Eisenbahnen zu fotografieren. Aus dem Begleitheft mit Erläuterungen zu den Fotografien erfährt der Leser, dass die Messmers nicht zufällig nach Saalfeld reisten, war der Ort doch "bis Anfang der 1980er Jahre ein Eldorado für Trainspotter aus ganz Europa".
Denn bei der "Deutschen Reichsbahn", wie die Staatsbahn der DDR bis zu deren Ende hieß, konnte man noch ältere Dampflokomotiven in Aktion sehen, die in der Bundesrepublik längst nicht mehr fuhren. Darunter auch solche Modelle, die bereits im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden waren, um Kriegsmaterial zu transportieren oder Menschen zu deportieren. Eine großformatige Aufnahme Messmers aus dem Jahr 1985 zeigt eine solche rauchende "Kriegslokomotive" der Baureihe 52, bekannt aus Filmen wie "Schindlers Liste" oder Claude Lanzmanns "Shoah", in voller Fahrt im sächsischen Eilenburg, das damals zum DDR-Bezirk Leipzig gehörte.
Diese Kontinuitäten der deutschen Geschichte, in denen der "Traum vom Reich", so der Untertitel des Bandes, gleichsam fortlebt, legt Messmer offen, indem er den in seinen Fotoobjekten eingelagerten Zeitschichten einen Raum gibt. Und im titelgebenden Terminus "Tiefenenttrümmerung", der beim Abriss von Häusern die Beseitigung aller im Boden liegenden Fundamente bezeichnet, spiegelt sich diese bildarchäologische Absicht.
In der Hauptstadt hat Messmer in den Neunzigerjahren zum einen die steinerne Leere um den noch unbebauten Potsdamer Platz in eindrucksvollen Bildern festgehalten. Zum anderen hat er den gnadenlosen Kahlschlag im Ostteil der Stadt dokumentiert, dem nahezu alle Gebäude der sogenannten DDR-Moderne zum Opfer fielen. Die Abrissfotos mit ihren teils riesigen Trümmerbergen rund um den Boulevard "Unter den Linden" kulminieren in der Fotografie einer Bauruine am heutigen Berliner Schlossplatz mit dem Graffito "Die DDR hat's nie gegeben".
Den Hinterlassenschaften eben dieses untergegangenen Landes ist der Hauptteil des aufwendig gestalteten Bandes gewidmet, der zahlreiche Klapptafeln enthält, auf denen sich Messmers Aufnahmen ideal entfalten können. Andere Fotos sind kleiner und als gleichsam seriell sich abspulende Filmstreifen vor einem schwarzen Hintergrund über mehrere Seiten hinweg abgedruckt. Bei den Großformaten handelt es sich meistens nicht um Schnappschüsse aus dem Alltag, sondern um inszenierte, aus zwei Aufnahmen zusammengesetzte Fotografien versehrter Landschaften. Auch diese sind menschenleer und zeigen oft Bahnmotive. Darunter Güterwaggons auf eigens dafür stillgelegten Gleisen in der ostdeutschen Provinz, die nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft nicht mehr gebraucht und hier bis zu ihrer Verschrottung zwischengeparkt wurden.
Auf fast jeder dieser Fotografien sind verwaiste Gebäude und Haufen von Müll und Schutt zu sehen. Dinge, die ihren Wert verloren hatten und nun die Natur verschandelten. In Dedelow im Kreis Prenzlau etwa nahm Messmer 1991 Flugzeuge auf einem "Agrarflug"-Platz auf, die bis zu ihrer Stilllegung beim Düngen der Felder eingesetzt worden waren und nun neben hochwachsenden Gräsern standen.
Interessant ist, dass die Transformationszeit-Aufnahmen des in der alten Bundesrepublik sozialisierten Messmers nicht aus einer eigenen biographischen Betroffenheit motiviert sind. Nachdem Messmer Mitte der Achtzigerjahre sein "Trainspotting"-Hobby aufgegeben hatte, kam er erst Anfang 1990 als junger Student aus Dortmund wieder in die DDR, um einen Gastaufenthalt an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zu absolvieren.
Wenige Tage nach seiner Ankunft in der Stadt der demokratischen Revolution von 1989 feierte Evelyn Richter, schon damals eine auch über die Grenzen der DDR bekannte Professorin für Fotografie, ihren sechzigsten Geburtstag und wünschte sich von ihren Gästen als Geschenke politische Parolen. Messmer hielt die ungewöhnliche Geburtstagsparty - ein Raum voller Transparente und Plakate, viele stammen von den damals erst kurze Zeit zurückliegenden Demonstrationen - mit der Kamera fest. Eine seiner wohl vielsagendsten Aufnahmen zeigt prall gefüllte Aufschnittplatten mit Fleisch, Eiern, Gurken und Dosenananas. Das Ganze drapiert mit einer DDR- und einer Europaflagge und mit einem kleinen Banner, das auf den Fall der Mauer nur wenige Monate zuvor anspielt. Darauf ist zu lesen: "Den 'antifaschist. Schutzwall' braucht jetzt jeder in sich selbst." Für solche Bilder, die mehr als dreißig Jahre nach ihrer Entstehung erstmals veröffentlicht werden, lohnt sich der Blick in dieses bibliophile Kleinod. RENÉ SCHLOTT
Arwed Messmer: "Tiefenenttrümmerung / Clearing the Depths". Der Traum vom Reich / The Dream of The Reich.
Deutsch-englische Ausgabe. Spector Books, Leipzig 2023. 163 S., Abb., geb., 68,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arwed Messmer präsentiert Fotos aus seinem Archiv, mit denen er die Folgen der Wiedervereinigung in Ostdeutschland und Berlin dokumentierte.
Man sieht eine einsame Bahnstation, ein altes Holzdach, zwei Sitzbänke, doch keinen Menschen weit und breit, nicht einmal einen Zug. Nur ein leeres Gleis, eine steinerne Brücke im Hintergrund und zwischen Strommast und Birkenbaum ein Bahnhofsschild mit der Aufschrift: "Amerika". Doch dieses menschenleere "Amerika" liegt in Sachsen. Es ist der Bahnhof einer im neunzehnten Jahrhundert am Fluss Mulde entstandenen Textilfabriksiedlung, deren Gründer ihr einst den einprägsamen Namen gab. Diese doppelseitige Schwarz-Weiß-Fotografie des Fotobandes von Arwed Messmer über das Epochenjahr 1989 vermittelt dem Betrachter eine Idee von der schonungslosen, zuweilen romantischen Trostlosigkeit, die einen auf den folgenden dreihundert Seiten erwartet.
Das erste Foto des Bandes aber zeigt den Fotografen selbst, den damals vierzehnjährigen Messmer, mit einer Kamera um den Hals auf einer Brücke im thüringischen Saalfeld. Die Aufnahme entstand 1978 als Messmer, der im baden-württembergischen Schopfheim aufwuchs, zusammen mit seinem Vater in die DDR reiste, um dort Eisenbahnen zu fotografieren. Aus dem Begleitheft mit Erläuterungen zu den Fotografien erfährt der Leser, dass die Messmers nicht zufällig nach Saalfeld reisten, war der Ort doch "bis Anfang der 1980er Jahre ein Eldorado für Trainspotter aus ganz Europa".
Denn bei der "Deutschen Reichsbahn", wie die Staatsbahn der DDR bis zu deren Ende hieß, konnte man noch ältere Dampflokomotiven in Aktion sehen, die in der Bundesrepublik längst nicht mehr fuhren. Darunter auch solche Modelle, die bereits im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden waren, um Kriegsmaterial zu transportieren oder Menschen zu deportieren. Eine großformatige Aufnahme Messmers aus dem Jahr 1985 zeigt eine solche rauchende "Kriegslokomotive" der Baureihe 52, bekannt aus Filmen wie "Schindlers Liste" oder Claude Lanzmanns "Shoah", in voller Fahrt im sächsischen Eilenburg, das damals zum DDR-Bezirk Leipzig gehörte.
Diese Kontinuitäten der deutschen Geschichte, in denen der "Traum vom Reich", so der Untertitel des Bandes, gleichsam fortlebt, legt Messmer offen, indem er den in seinen Fotoobjekten eingelagerten Zeitschichten einen Raum gibt. Und im titelgebenden Terminus "Tiefenenttrümmerung", der beim Abriss von Häusern die Beseitigung aller im Boden liegenden Fundamente bezeichnet, spiegelt sich diese bildarchäologische Absicht.
In der Hauptstadt hat Messmer in den Neunzigerjahren zum einen die steinerne Leere um den noch unbebauten Potsdamer Platz in eindrucksvollen Bildern festgehalten. Zum anderen hat er den gnadenlosen Kahlschlag im Ostteil der Stadt dokumentiert, dem nahezu alle Gebäude der sogenannten DDR-Moderne zum Opfer fielen. Die Abrissfotos mit ihren teils riesigen Trümmerbergen rund um den Boulevard "Unter den Linden" kulminieren in der Fotografie einer Bauruine am heutigen Berliner Schlossplatz mit dem Graffito "Die DDR hat's nie gegeben".
Den Hinterlassenschaften eben dieses untergegangenen Landes ist der Hauptteil des aufwendig gestalteten Bandes gewidmet, der zahlreiche Klapptafeln enthält, auf denen sich Messmers Aufnahmen ideal entfalten können. Andere Fotos sind kleiner und als gleichsam seriell sich abspulende Filmstreifen vor einem schwarzen Hintergrund über mehrere Seiten hinweg abgedruckt. Bei den Großformaten handelt es sich meistens nicht um Schnappschüsse aus dem Alltag, sondern um inszenierte, aus zwei Aufnahmen zusammengesetzte Fotografien versehrter Landschaften. Auch diese sind menschenleer und zeigen oft Bahnmotive. Darunter Güterwaggons auf eigens dafür stillgelegten Gleisen in der ostdeutschen Provinz, die nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft nicht mehr gebraucht und hier bis zu ihrer Verschrottung zwischengeparkt wurden.
Auf fast jeder dieser Fotografien sind verwaiste Gebäude und Haufen von Müll und Schutt zu sehen. Dinge, die ihren Wert verloren hatten und nun die Natur verschandelten. In Dedelow im Kreis Prenzlau etwa nahm Messmer 1991 Flugzeuge auf einem "Agrarflug"-Platz auf, die bis zu ihrer Stilllegung beim Düngen der Felder eingesetzt worden waren und nun neben hochwachsenden Gräsern standen.
Interessant ist, dass die Transformationszeit-Aufnahmen des in der alten Bundesrepublik sozialisierten Messmers nicht aus einer eigenen biographischen Betroffenheit motiviert sind. Nachdem Messmer Mitte der Achtzigerjahre sein "Trainspotting"-Hobby aufgegeben hatte, kam er erst Anfang 1990 als junger Student aus Dortmund wieder in die DDR, um einen Gastaufenthalt an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zu absolvieren.
Wenige Tage nach seiner Ankunft in der Stadt der demokratischen Revolution von 1989 feierte Evelyn Richter, schon damals eine auch über die Grenzen der DDR bekannte Professorin für Fotografie, ihren sechzigsten Geburtstag und wünschte sich von ihren Gästen als Geschenke politische Parolen. Messmer hielt die ungewöhnliche Geburtstagsparty - ein Raum voller Transparente und Plakate, viele stammen von den damals erst kurze Zeit zurückliegenden Demonstrationen - mit der Kamera fest. Eine seiner wohl vielsagendsten Aufnahmen zeigt prall gefüllte Aufschnittplatten mit Fleisch, Eiern, Gurken und Dosenananas. Das Ganze drapiert mit einer DDR- und einer Europaflagge und mit einem kleinen Banner, das auf den Fall der Mauer nur wenige Monate zuvor anspielt. Darauf ist zu lesen: "Den 'antifaschist. Schutzwall' braucht jetzt jeder in sich selbst." Für solche Bilder, die mehr als dreißig Jahre nach ihrer Entstehung erstmals veröffentlicht werden, lohnt sich der Blick in dieses bibliophile Kleinod. RENÉ SCHLOTT
Arwed Messmer: "Tiefenenttrümmerung / Clearing the Depths". Der Traum vom Reich / The Dream of The Reich.
Deutsch-englische Ausgabe. Spector Books, Leipzig 2023. 163 S., Abb., geb., 68,- Euro.
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