Merz-Benz' Untersuchung erschließt und rekonstruiert den systematischen Gehalt von Tönnies' Soziologie, einschließlich ihrer philosophischen Grundlagen. Der erste Teil arbeitet die für das Werk von Tönnies insgesamt maßgebende Fragestellung heraus. Der zweite Teil stellt die Erkenntnistheorie Tönnies' dar. Im Zentrum der Betrachtung stehen dabei seine Rezeption von Thomas Hobbes' Begriff der Naturwissenschaft sowie seine - unter Bezugnahme auf Spinoza, Schopenhauer und die biologische Deszendenztheorie - vorgenommene Neubegründung der Idee einer »Erkenntnis nach der Methode der Schöpfung«. Der dritte Teil schließlich konzentriert sich auf die von Tönnies in seiner »reinen Soziologie« ausgearbeitete begriffliche Konstitution der Sozialwelt. Im einzelnen wird hier gezeigt, wie Tönnies, gestützt auf Einsichten aus der ethisch-politischen Theorie von Thomas Hobbes sowie der Rechtsgeschichte, vorstößt zu dem, was den Kerngehalt seiner Soziologie bildet, eine willenstheoretisch begründete Begriffs-Architektonik der Sozialwelt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.1995Der unlesbare Dritte
Vergebliche Liebesmühe um den Ursoziologen Ferdinand Tönnies
Ferdinand Tönnies hat es in der deutschen Soziologie bislang nur zum Miterwähnungsklassiker gebracht. Die Fragestellungen Max Webers werden rekonstruiert, Georg Simmels Ideen beliehen, Tönnies aber verharrt im Stadium des ungelesenen Dritten. Das hat paradoxerweise mit dem terminologischen Erfolg dieses Autors zu tun. An die Stelle seiner Werke hat sich der Titel jener Schrift von 1887 geschoben, durch die er zwischen den Kriegen späte Berühmtheit erlangte: "Gemeinschaft und Gesellschaft".
Diese Opposition möglicher Beziehungen zwischen Personen lieferte einer ganzen Legion soziologischer Texte das Einteilungsschema. Der Gegensatz zwischen familialen, durch Vertrautheit und Tradition bestimmten Gemeinschaften und der Zweckrationalität anonymisierter und atomisierter Gesellschaften wurde in der Gründungsphase des Faches zur fixen Idee. Gesellschaftliche Modernisierung wurde vor der Rückprojektion eines organisch-solidarischen Gemeinwesens gedeutet. Man bediente sich der Unterscheidung, um unmittelbar sinnerfüllte Interaktion in Kleingruppen gegen den modernen Primat formaler Organisationen zu setzen. Agrarsoziologie und Urbanistik bemühten sich, sie auf die Differenz von Land und Stadt abzubilden. Tönnies selbst schrieb zeitweise der Arbeiterbewegung das Ziel einer "neuen Gemeinschaft" zu. Vom jugend- und georgebewegten Begriff des "Bundes" bis zum Oxymoron der "Volksgemeinschaft" fand sich kein kulturkritischer Topos, der nicht im Begriffspaar untergebracht wurde. Keine Entstehungsgeschichte der Soziologie, die Tönnies und seine Leitdifferenz deshalb vergessen könnte - inzwischen aber auch keine Theorie mehr, die sich noch auf Schema und Autor beriefe.
An diesem Zustand wird wohl auch die vorliegende Arbeit nichts ändern. Denn weder fragt sie nach dem Sinn jener Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft: Sie setzt ihn voraus. Noch geht es ihr um den historischen Kontext ihrer Plausibilität: Ein Beitrag zur Wissenssoziologie der Jahrhundertwende wird nicht bezweckt. Sein systematisches Interesse am Gehalt der Soziologie Tönnies' hat den Autor auch nicht dazu bewegen können, den Stand der Diskussion zu den Problemen seines Klassikers zu berücksichtigen. Statt dessen vollzieht er in konditionsstarken Referaten noch einmal den Gedankengang nach, der Tönnies hin zu seinen Grundbegriffen führte.
Vor diesem Gewaltmarsch warnte 1955 bereits René König, nachdem er eine Vielzahl kaum entwirrbarer Bedeutungen des Duals von Gemeinschaft und Gesellschaft ermittelt hatte. Weil sich darunter keine soziologisch ergiebige fand, schloß er, es müsse sich wohl um Philosophie handeln. Auch Peter-Ulrich Merz-Benz dokumentiert, wie gering der Kontakt zwischen der Tönniesschen Leitdifferenz und empirischen Sachverhalten ist. Anders als bei Weber oder Durkheim wird die Theorie nicht von historischen, ökonomischen oder ethnologischen Befunden kontrolliert. Sie entfaltet sich vielmehr ganz aus Grundbegriffen der Erkenntnistheorie. Die Vermittlung von Wille und Intellekt soll auch für die Soziologie das Grundproblem abgeben. Tönnies orientiert sich an Gedanken von Hobbes und Spinoza. Ergänzt durch eigenwillige Interpretationen Kants und beflügelt durch die Metaphysik Schopenhauers gewinnt er eine apriorische Psychologie, die erklären soll, aus welchen Gründen Sozialität bejaht wird.
Diese "Fundierung der Sozialverhältnisse in Bewußtseinsdispositionen" führt auf die besagten Typen. Bejaht wird Gemeinschaft aus gemeinsamem Wollen, Gesellschaft aus externen Zweckkalkülen. Tönnies formuliert im Schatten der Naturrechtstheorie, als werde die Form sozialer Ordnung kausal durch Motive der Teilnehmenden bestimmt. Einerseits erfährt sein Begriff des "sozialen Verbundenseins" hierdurch normative Einschränkungen. Weil Konflikt oder Ambivalenz als gewollte schlecht vorstellbar sind, fallen sie als Bestimmungsgrößen sozialen Lebens aus. Besonders das Bild archaischer Gemeinschaften erhält dadurch erbauliche Züge.
Andererseits ist seit Durkheim das Argument bekannt, daß jede Motivbildung Sozialität voraussetzt, die daher nicht selbst zu begründen vermag. Gegen Tönnies' vordurkheimsche Schrift läßt sich das nicht wenden; gegen die Hoffnung von Merz-Benz, jene "Fundierung" öffne der Soziologie neue Perspektiven, um so stärker. Am deutlichsten wird die Abgelebtheit der Tönniesschen Konstruktionen in seiner Darstellung sozialer Beziehungen im "romantischen Mittelalter" und der modernen Industriegesellschaft. Welchen Orientierungswert Unterscheidungen wie "vegetativ, animalisch, mental" für die Gesellschaftsgeschichte haben sollen, ist unerfindlich. Daß die "Verpfändung" als Ausdruck von "Belieben" eine "animalische" Form des Tausches sei, das Darlehen hingegen als Ausdruck des "Begriffs" eine "mentale", will nicht einleuchten. Reihungen wie "Vater -Fürst - Meister" (vegetativ) und "Richter -Herzog - Priester" (animalisch) werden auch durch minutiöse Wiedergabe zu keiner Theorie mittelalterlicher Handlungsrollen.
Eine Weiterentwicklung solcher begrifflichen Startexperimente der Soziologie ist kaum vorstellbar. Merz-Benz muß über dreihundert Seiten lang die einfache Frage nach ihrem Sachgehalt unterdrücken, um nicht aus seiner Einfühlung in den Klassiker aufzuwachen. Wenn Tönnies sich nur noch durch Tönnies explizieren läßt, steht es schlecht um Tönnies. JÜRGEN KAUBE
Peter-Ulrich Merz-Benz: "Tiefsinn und Scharfsinn". Ferdinand Tönnies' begriffliche Konstitution der Sozialwelt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 507 S., geb., 56,- DM.
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Vergebliche Liebesmühe um den Ursoziologen Ferdinand Tönnies
Ferdinand Tönnies hat es in der deutschen Soziologie bislang nur zum Miterwähnungsklassiker gebracht. Die Fragestellungen Max Webers werden rekonstruiert, Georg Simmels Ideen beliehen, Tönnies aber verharrt im Stadium des ungelesenen Dritten. Das hat paradoxerweise mit dem terminologischen Erfolg dieses Autors zu tun. An die Stelle seiner Werke hat sich der Titel jener Schrift von 1887 geschoben, durch die er zwischen den Kriegen späte Berühmtheit erlangte: "Gemeinschaft und Gesellschaft".
Diese Opposition möglicher Beziehungen zwischen Personen lieferte einer ganzen Legion soziologischer Texte das Einteilungsschema. Der Gegensatz zwischen familialen, durch Vertrautheit und Tradition bestimmten Gemeinschaften und der Zweckrationalität anonymisierter und atomisierter Gesellschaften wurde in der Gründungsphase des Faches zur fixen Idee. Gesellschaftliche Modernisierung wurde vor der Rückprojektion eines organisch-solidarischen Gemeinwesens gedeutet. Man bediente sich der Unterscheidung, um unmittelbar sinnerfüllte Interaktion in Kleingruppen gegen den modernen Primat formaler Organisationen zu setzen. Agrarsoziologie und Urbanistik bemühten sich, sie auf die Differenz von Land und Stadt abzubilden. Tönnies selbst schrieb zeitweise der Arbeiterbewegung das Ziel einer "neuen Gemeinschaft" zu. Vom jugend- und georgebewegten Begriff des "Bundes" bis zum Oxymoron der "Volksgemeinschaft" fand sich kein kulturkritischer Topos, der nicht im Begriffspaar untergebracht wurde. Keine Entstehungsgeschichte der Soziologie, die Tönnies und seine Leitdifferenz deshalb vergessen könnte - inzwischen aber auch keine Theorie mehr, die sich noch auf Schema und Autor beriefe.
An diesem Zustand wird wohl auch die vorliegende Arbeit nichts ändern. Denn weder fragt sie nach dem Sinn jener Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft: Sie setzt ihn voraus. Noch geht es ihr um den historischen Kontext ihrer Plausibilität: Ein Beitrag zur Wissenssoziologie der Jahrhundertwende wird nicht bezweckt. Sein systematisches Interesse am Gehalt der Soziologie Tönnies' hat den Autor auch nicht dazu bewegen können, den Stand der Diskussion zu den Problemen seines Klassikers zu berücksichtigen. Statt dessen vollzieht er in konditionsstarken Referaten noch einmal den Gedankengang nach, der Tönnies hin zu seinen Grundbegriffen führte.
Vor diesem Gewaltmarsch warnte 1955 bereits René König, nachdem er eine Vielzahl kaum entwirrbarer Bedeutungen des Duals von Gemeinschaft und Gesellschaft ermittelt hatte. Weil sich darunter keine soziologisch ergiebige fand, schloß er, es müsse sich wohl um Philosophie handeln. Auch Peter-Ulrich Merz-Benz dokumentiert, wie gering der Kontakt zwischen der Tönniesschen Leitdifferenz und empirischen Sachverhalten ist. Anders als bei Weber oder Durkheim wird die Theorie nicht von historischen, ökonomischen oder ethnologischen Befunden kontrolliert. Sie entfaltet sich vielmehr ganz aus Grundbegriffen der Erkenntnistheorie. Die Vermittlung von Wille und Intellekt soll auch für die Soziologie das Grundproblem abgeben. Tönnies orientiert sich an Gedanken von Hobbes und Spinoza. Ergänzt durch eigenwillige Interpretationen Kants und beflügelt durch die Metaphysik Schopenhauers gewinnt er eine apriorische Psychologie, die erklären soll, aus welchen Gründen Sozialität bejaht wird.
Diese "Fundierung der Sozialverhältnisse in Bewußtseinsdispositionen" führt auf die besagten Typen. Bejaht wird Gemeinschaft aus gemeinsamem Wollen, Gesellschaft aus externen Zweckkalkülen. Tönnies formuliert im Schatten der Naturrechtstheorie, als werde die Form sozialer Ordnung kausal durch Motive der Teilnehmenden bestimmt. Einerseits erfährt sein Begriff des "sozialen Verbundenseins" hierdurch normative Einschränkungen. Weil Konflikt oder Ambivalenz als gewollte schlecht vorstellbar sind, fallen sie als Bestimmungsgrößen sozialen Lebens aus. Besonders das Bild archaischer Gemeinschaften erhält dadurch erbauliche Züge.
Andererseits ist seit Durkheim das Argument bekannt, daß jede Motivbildung Sozialität voraussetzt, die daher nicht selbst zu begründen vermag. Gegen Tönnies' vordurkheimsche Schrift läßt sich das nicht wenden; gegen die Hoffnung von Merz-Benz, jene "Fundierung" öffne der Soziologie neue Perspektiven, um so stärker. Am deutlichsten wird die Abgelebtheit der Tönniesschen Konstruktionen in seiner Darstellung sozialer Beziehungen im "romantischen Mittelalter" und der modernen Industriegesellschaft. Welchen Orientierungswert Unterscheidungen wie "vegetativ, animalisch, mental" für die Gesellschaftsgeschichte haben sollen, ist unerfindlich. Daß die "Verpfändung" als Ausdruck von "Belieben" eine "animalische" Form des Tausches sei, das Darlehen hingegen als Ausdruck des "Begriffs" eine "mentale", will nicht einleuchten. Reihungen wie "Vater -Fürst - Meister" (vegetativ) und "Richter -Herzog - Priester" (animalisch) werden auch durch minutiöse Wiedergabe zu keiner Theorie mittelalterlicher Handlungsrollen.
Eine Weiterentwicklung solcher begrifflichen Startexperimente der Soziologie ist kaum vorstellbar. Merz-Benz muß über dreihundert Seiten lang die einfache Frage nach ihrem Sachgehalt unterdrücken, um nicht aus seiner Einfühlung in den Klassiker aufzuwachen. Wenn Tönnies sich nur noch durch Tönnies explizieren läßt, steht es schlecht um Tönnies. JÜRGEN KAUBE
Peter-Ulrich Merz-Benz: "Tiefsinn und Scharfsinn". Ferdinand Tönnies' begriffliche Konstitution der Sozialwelt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 507 S., geb., 56,- DM.
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