In den Romanen von Teresa Präauer sind, neben den Menschen, auch immer die Tiere zugegen: die Vögel, die Fische oder der Affe. In diesem erzählerischen Essay buchstabiert sie diese Artennähe aus und schreibt, reflektiert und unterhaltsam, über die unscharfe Grenze zwischen Mensch und Tier, die in der Kunst so häufig aufgesucht wird.Teresa Präauer beobachtet in »Tier werden« Stationen des Übergangs, der Verwandlung, des Aus-der-Art-Schlagens. Einen Auftritt in ihrem Text bekommt, wer oder was Haare hat: an Stellen, die von Schraffur überwuchert werden, von Pelz, Kunstfell oder Gras. Eine Sammlung von zotteligen Figuren hat sie hierfür zusammengetragen, von den mittelalterlichen Zeichnungen von Fabelwesen - halb Natur, halb Erfindung - über die Perchten aus den Alpen bis hin zum Perückenträger Toni Erdmann und den kostümierten Furries aus der Subkultur.All diesen künstlichen und künstlerischen Phänomenen geht die Autorin in konkreten Bildbetrachtungen und philosophischen Überlegungen nach.Die Animalisation ist bei Teresa Präauer ein Vorgang, den sie mit Blick auf Kunst, Kultur, Film und Mode beschreibt, den sie aber darüber hinaus auch auf das Schreiben und Lesen von Literatur selbst anwendet. Während wir schreiben, reizen wir die Möglichkeiten des Sprechens aus und geraten an seine menschlichen Grenzen. Während wir lesen, verwandeln wir uns, so lauten die Warnung und das Versprechen dieses erzählend-essayistischen Textes.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2019Im Zwischenreich
Teresa Präauers Essay „Tier werden“ sucht die spirituelle Verbindung zwischen Mensch und Tier.
Die alpenländische Tradition der Perchten lebt das ganz praktisch. Ein Besuch bei den Tiermenschen
VON EKATERINA KEL
Man kann zum Tier werden. Oder man kann darüber nachdenken, was es heißt, Tier zu werden. Die Schriftstellerin Teresa Präauer hat sich für Letzteres entschieden und gerade einen 100-seitigen Essay veröffentlicht, in dem sie dem Tier als „philosophische Denkfigur“ begegnet. Josef Schmalhofer nähert sich dem Gegenstand eher praktisch. Seit 38 Jahren ist er in dem niederbayerischen Dorf Bayerbach bei Passau für die Tierwerdung verantwortlich.
Im Alltag ist Schmalhofer Schreinermeister, zum Jahresende aber wird er jedes Jahr nach einem alten alpenländischen Brauch zur Perchte, einem zotteligen Fabelwesen mit Fratze, Tierhörnern und Fell auf zwei Beinen, das bis zum Dreikönigstag böse Wintergeister vertreiben soll. Präauer, die schreibt, und Schmalhofer in seinem Fellkostüm artikulieren, jeder für sich, eine Sehnsucht nach dem Wilden, Irrationalen, Unerklärbaren.
Man kann Theorie und Praxis nicht aneinander messen. Einander unmittelbar gegenübergestellt wirken beide unzureichend. Nach der Lektüre von Teresa Präauers Essay ist die Begegnung mit Josef Schmalhofer eine Lektüre zweiten Grades, ein Versuch, die Art und Weise, wie Präauer nachdenkt, weiterzuspinnen, die Leseerfahrung auf das eigene Denken zu übertragen.
Am Anfang ihres Essays steht ein Geräusch. Die Erzählerin sitzt an ihrem Schreibtisch, am offenen Fenster, das Kinderweinen im Nachbarhaus vermischt sich mit den Rufen eines Kuckucks, „sonderbarerweise“. Präauers Gedanken schweifen ab, zur „Naturkunde“ von John Johnston aus dem 17. Jahrhundert, in der eine Harpyie, ein Vogelwesen mit menschlichem Kopf, beschrieben wird. Dieser Gedankensprung, diese Abschweifung stört sie nicht, sie umarmt das Lose im Denken. Ihr gesamter Essay ist eine Einladung zum Abschweifen, die sinnliche Initiation in eine Gedankenspinnerei, von einem Mischwesen zum nächsten, von der Harpyie zur Arche Noah zu Vergils Aeneis zu Menschen mit Affenköpfen und so weiter.
Die mit den Verbindungen zwischen Tieren und Menschen sehr vertraute Philosophin Donna Haraway hat einmal geschrieben, dass Denken wie ein Fadenspiel funktionieren solle. Von einem Gedanken zum anderen könne auch nur ein dünner Faden führen. Warum ihn nicht auch einmal bis zum Fantastischen ziehen, über die Welt der faktischen Realität hinaus? Präauer probiert genau dieses riskante, assoziative, nicht immer argumentativ schlüssige Denken aus. Es hilft deshalb nicht weiter, nach stringenten Erkenntnissen oder Thesen in diesem Essay zu suchen. Das Buch strebt offenkundig nicht nach epistemologischem Mehrwert. Es geht um die sinnliche Erfahrung des Denkens selbst. Lassen sich die Fäden vielleicht noch weiter spannen? Das Lesen auf das Sehen erweitern, zum Beispiel indem man einem wie Josef Schmalhofer bei der Verwandlung zuschaut? Ihn in seiner Umkleide zu besuchen, könnte bedeuten, den Essay konsequent zu Ende zu denken und ebenfalls assoziativ an die Behauptung dieses Buches heranzugehen.
Teresa Präauer bedenkt auch die Perchten mit ein paar Zeilen. „Oft tragen diese wilden Männer Tiermasken, sind in Felle gekleidet, haben riesige Ohren oder Hörner, eine lange Zunge, einen Schweif aus Tierhaar, sie haben Ketten und Glocken dabei, und sehen so, als Personifikation des Bösen, möglichst furchteinflößend aus.“ Eine Beschreibung der Figuren eines alten Brauchtums, nicht mehr. Genau hier sollte man den Blick von der Buchseite heben und auf Josef Schmalhofer schauen. Das Hinsehen mache alles aus, schreibt Präauer und verleiht der Verbindung zwischen Tier und Mensch etwas Magisches, Feierliches: „Erst aus einem Blicken, das in Bewegung wäre, würde ein solches Mischwesen, ein Tier-im-Werden entstehen“. Die Verwandlung vollzieht sich, weil jemand zuschaut.
Josef Schmalhofer verwandelt sich im Zelt des Kulturfestivals Tollwood in München, eine halbe Stunde bevor sein Brauchtumsverein „Rottaler Habergoaß, Hexn und Rauwuggl“ auftritt. Man sieht dem 73-jährigen Schmalhofer dabei zu, wie er sich eine Latzhose mit schmuddelweißem Fell an den Hosenbeinen anzieht.
Verwandelt sich da etwas? Über den Kopf zieht er sich einen Fellponcho an. Die Schuhe, schwere Wanderstiefel, außen Fell, schnürt seine Frau ihm zu, er kommt wegen des Kostüms nicht mehr dran. Dann zieht er sich Handschuhe mit langen, schwarzen Tierkrallen an. Sieht sie lange an, lächelt. Das einzige Mal, dass er in dem Vorgang innehält.
Die Maske liegt mit der Fratze nach oben auf dem Tisch. In den Augen der Perchte steht der Wahn, aber auch Schwachsinn. Sechs Hörner, Ziegenbock, Stier und Rind, stecken auf ihrem Kopf.
Schmalhofer hat die Maske vor fast 40 Jahren selbst geschnitzt und gebastelt, seitdem zieht er sie jedes Jahr an. Der Schreinermeister dreht den bösen Zwilling um, schaut hinein, nimmt die Bänder im Inneren auseinander und stülpt sich die Maske über. Teresa Präauer schreibt über diesen Augenblick, „wenn der Läufer mit seiner Tiermaske gleichsam verwächst“, würden die Masken der Fantasiewesen lebendig.
Schmalhofer aber hebt die Maske sofort wieder an, wie ein Schweißer, der seinen Helm nach hinten schiebt, und zwinkert seiner Frau zu. Auch später auf dem Markt wird man immer seine Silhouette erkennen, den langsamen Gang eines über 70-Jährigen. Vielleicht ist „Werden“ in diesem Fall nicht ganz zutreffend, Schmalhofers Verwandlung ist ein ständiges An- und Ausmachen, wie bei einem Lichtschalter, ein Oszillieren.
Ist die Perchte nur eine Rolle? Ein Kostüm, das man sich anzieht, wie im Theater? Oder gibt es doch einen Grenzbereich, eine Zone des Übergangs? Schmalhofer selbst sagt selbst, wenn er sich das Kostüm überziehe, begebe er sich zwischen die Welten: „Die Wintersonne ist halbschön und halbhässlich. Unsere Figuren sind genau in der Mitte.“
Seinen Theorieanteil hat Schmalhofer allerdings nicht von Präauer, sondern von der Innenwand eines Felsens, der im Wald unweit seines Dorfes steht und von allen „Teufelsfelsen“ genannt wird. Er behauptet, dort eine Zeichnung aus der Steinzeit gefunden zu haben, von einer Habergoaß, einer Variante der Perchten. Anfang der Achtziger hat Schmalhofer mit zwei, drei Leuten an den alten Perchten-Brauch angeknüpft, um „wenigstens die Winterzeit bissl ins Dorf zu bringen“, wie er sagt, jenseits des Weihnachtszaubers.
Da stehen also zwanzig Niederbayern in Fellanzügen, ein Zelt voller haariger Riesengestalten. Sie formen einen Kreis, wippen schwerfällig, schieben ihre Masken hoch, ziehen an Zigaretten, setzten sich Bierflaschen an die Lippen. Sie werden nicht Perchte und sie bleiben nicht Mensch, sie sind immer beides. Es passt einfach zusammen. So muss es sich anfühlen, im Zwischenbereich, zwischen Percht und Mensch, zwischen Fell und Haut, zwischen fake und real. Die Verwandlung ist hier nicht magisch verklärt, sondern roh und echt und alltäglich, zugig wegen der Ritzen im Zelt und seltsam und witzig.
Präauers Text lockt mit Bildern, vereinfacht sie aber auch, sie wirken so aneinandergeklebt, dass es passt. Einer der schönsten Sätze in dem Buch lautet: „Wer so unvorsichtig ist, sich von einer gut erzählten Geschichte ablenken zu lassen, den frisst das Untier des Textes.“ Er verhallt, ohne dass die Autorin den Gedanken weiterverfolgt, als dürfe man darf nicht an einem Gedankenfaden festhalten und als müsse sich das Assoziationskarussell immer weiterdrehen.
Präauer lässt die Ideen, Figuren und Tiere wie Blitze vor dem geistigen Auge aufscheinen. Alles Weitere überlässt sie der Fantasie. Geh hin und erfahre es selbst, könnte das heißen, die Sinne machen das Denken erst greifbar. Dem Essay jedenfalls geht manchmal die Substanz ab, wenn ganze Passagen nur aus Beschreibungen und reinen Aneinanderreihungen bestehen. Und falls Präauer eine abschließende Idee hat, formuliert sie diese nur sehr vage.
Die Hoffnung, dass die Blicke zwischen Tier und Mensch vom jeweils anderen erwidert würden, klingt groß an, verliert sich aber wie so viele andere Denkfäden auf der vorletzten Seite. Die Autorin fordert, Mensch und Tier einander näherzubringen. Sie will die kulturelle Grenze zwischen diesen Wesen überwinden. Der Aufruf birgt einen performativen Widerspruch: In einem gewissen Sinne baut so ein Essay die Distanz, die er überwinden will, indem er das Tier zum Studienobjekt macht, erst auf.
Am Ende des Gedankenexperiments, der Begegnung zwischen der schreibenden Präauer und Schmalhofer in Kostüm, steht also nicht der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, sondern ihre jeweils andere Prämisse und eine Erkenntnis, die ohne Erfahrung nicht zu ihrer Existenz gefunden hätte: Stellt man Schmalhofer die Frage „Was macht das mit dir, wenn du deine Maske aufsetzt?“, fängt er sofort an, über den Brauch des Perchtenlaufs zu referieren. Winter, Geister, uralte Tradition. Ob das nicht irgendwie seltsam sei? Da kann er nur lachen, es ist für ihn das Natürlichste der Welt. Wie könnte so eine natürliche Verrichtung spirituell sein?
Präauer aber richtet ihren Essay an ein Subjekt, das das Tier zum Anderen und die Nähe eines Menschen zum Tier zu etwas Exotischem erklärt, wie Derrida, der einer selbstüberlieferten Anekdote zufolge nackt aus der Dusche tritt und sich vor seiner Katze für seine Nacktheit schämt.
Schmalhofer leiht der Perchte Jahr für Jahr seinen eigenen Körper. Sie ist für ihn kein völlig seltsames Wesen, nicht bloß ein Schreck für Kinder und auch keine Kuriosität für Kulturwissenschaftler. Er ist nicht der Andere. Oder: Der Andere ist kein Anderer mehr. Er ist sein Eigen.
Teresa Präauer: Tier werden. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 100 Seiten, 18 Euro.
Der Essay ist eine Einladung
zum Abschweifen,
eine sinnliche Initiation
In den Augen der Perchte
steht der Wahn,
aber auch Schwachsinn
Präauer lässt Ideen wie Blitze
kurz aufscheinen
und überlässt dem Leser den Rest
Verwandelt sich da etwas? Jedes Jahr in den Tagen vor und nach dem Jahreswechsel schwärmen in Bayern und Österreich die Perchten aus, Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier.
Foto: Peter Hinz-Rosin
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Teresa Präauers Essay „Tier werden“ sucht die spirituelle Verbindung zwischen Mensch und Tier.
Die alpenländische Tradition der Perchten lebt das ganz praktisch. Ein Besuch bei den Tiermenschen
VON EKATERINA KEL
Man kann zum Tier werden. Oder man kann darüber nachdenken, was es heißt, Tier zu werden. Die Schriftstellerin Teresa Präauer hat sich für Letzteres entschieden und gerade einen 100-seitigen Essay veröffentlicht, in dem sie dem Tier als „philosophische Denkfigur“ begegnet. Josef Schmalhofer nähert sich dem Gegenstand eher praktisch. Seit 38 Jahren ist er in dem niederbayerischen Dorf Bayerbach bei Passau für die Tierwerdung verantwortlich.
Im Alltag ist Schmalhofer Schreinermeister, zum Jahresende aber wird er jedes Jahr nach einem alten alpenländischen Brauch zur Perchte, einem zotteligen Fabelwesen mit Fratze, Tierhörnern und Fell auf zwei Beinen, das bis zum Dreikönigstag böse Wintergeister vertreiben soll. Präauer, die schreibt, und Schmalhofer in seinem Fellkostüm artikulieren, jeder für sich, eine Sehnsucht nach dem Wilden, Irrationalen, Unerklärbaren.
Man kann Theorie und Praxis nicht aneinander messen. Einander unmittelbar gegenübergestellt wirken beide unzureichend. Nach der Lektüre von Teresa Präauers Essay ist die Begegnung mit Josef Schmalhofer eine Lektüre zweiten Grades, ein Versuch, die Art und Weise, wie Präauer nachdenkt, weiterzuspinnen, die Leseerfahrung auf das eigene Denken zu übertragen.
Am Anfang ihres Essays steht ein Geräusch. Die Erzählerin sitzt an ihrem Schreibtisch, am offenen Fenster, das Kinderweinen im Nachbarhaus vermischt sich mit den Rufen eines Kuckucks, „sonderbarerweise“. Präauers Gedanken schweifen ab, zur „Naturkunde“ von John Johnston aus dem 17. Jahrhundert, in der eine Harpyie, ein Vogelwesen mit menschlichem Kopf, beschrieben wird. Dieser Gedankensprung, diese Abschweifung stört sie nicht, sie umarmt das Lose im Denken. Ihr gesamter Essay ist eine Einladung zum Abschweifen, die sinnliche Initiation in eine Gedankenspinnerei, von einem Mischwesen zum nächsten, von der Harpyie zur Arche Noah zu Vergils Aeneis zu Menschen mit Affenköpfen und so weiter.
Die mit den Verbindungen zwischen Tieren und Menschen sehr vertraute Philosophin Donna Haraway hat einmal geschrieben, dass Denken wie ein Fadenspiel funktionieren solle. Von einem Gedanken zum anderen könne auch nur ein dünner Faden führen. Warum ihn nicht auch einmal bis zum Fantastischen ziehen, über die Welt der faktischen Realität hinaus? Präauer probiert genau dieses riskante, assoziative, nicht immer argumentativ schlüssige Denken aus. Es hilft deshalb nicht weiter, nach stringenten Erkenntnissen oder Thesen in diesem Essay zu suchen. Das Buch strebt offenkundig nicht nach epistemologischem Mehrwert. Es geht um die sinnliche Erfahrung des Denkens selbst. Lassen sich die Fäden vielleicht noch weiter spannen? Das Lesen auf das Sehen erweitern, zum Beispiel indem man einem wie Josef Schmalhofer bei der Verwandlung zuschaut? Ihn in seiner Umkleide zu besuchen, könnte bedeuten, den Essay konsequent zu Ende zu denken und ebenfalls assoziativ an die Behauptung dieses Buches heranzugehen.
Teresa Präauer bedenkt auch die Perchten mit ein paar Zeilen. „Oft tragen diese wilden Männer Tiermasken, sind in Felle gekleidet, haben riesige Ohren oder Hörner, eine lange Zunge, einen Schweif aus Tierhaar, sie haben Ketten und Glocken dabei, und sehen so, als Personifikation des Bösen, möglichst furchteinflößend aus.“ Eine Beschreibung der Figuren eines alten Brauchtums, nicht mehr. Genau hier sollte man den Blick von der Buchseite heben und auf Josef Schmalhofer schauen. Das Hinsehen mache alles aus, schreibt Präauer und verleiht der Verbindung zwischen Tier und Mensch etwas Magisches, Feierliches: „Erst aus einem Blicken, das in Bewegung wäre, würde ein solches Mischwesen, ein Tier-im-Werden entstehen“. Die Verwandlung vollzieht sich, weil jemand zuschaut.
Josef Schmalhofer verwandelt sich im Zelt des Kulturfestivals Tollwood in München, eine halbe Stunde bevor sein Brauchtumsverein „Rottaler Habergoaß, Hexn und Rauwuggl“ auftritt. Man sieht dem 73-jährigen Schmalhofer dabei zu, wie er sich eine Latzhose mit schmuddelweißem Fell an den Hosenbeinen anzieht.
Verwandelt sich da etwas? Über den Kopf zieht er sich einen Fellponcho an. Die Schuhe, schwere Wanderstiefel, außen Fell, schnürt seine Frau ihm zu, er kommt wegen des Kostüms nicht mehr dran. Dann zieht er sich Handschuhe mit langen, schwarzen Tierkrallen an. Sieht sie lange an, lächelt. Das einzige Mal, dass er in dem Vorgang innehält.
Die Maske liegt mit der Fratze nach oben auf dem Tisch. In den Augen der Perchte steht der Wahn, aber auch Schwachsinn. Sechs Hörner, Ziegenbock, Stier und Rind, stecken auf ihrem Kopf.
Schmalhofer hat die Maske vor fast 40 Jahren selbst geschnitzt und gebastelt, seitdem zieht er sie jedes Jahr an. Der Schreinermeister dreht den bösen Zwilling um, schaut hinein, nimmt die Bänder im Inneren auseinander und stülpt sich die Maske über. Teresa Präauer schreibt über diesen Augenblick, „wenn der Läufer mit seiner Tiermaske gleichsam verwächst“, würden die Masken der Fantasiewesen lebendig.
Schmalhofer aber hebt die Maske sofort wieder an, wie ein Schweißer, der seinen Helm nach hinten schiebt, und zwinkert seiner Frau zu. Auch später auf dem Markt wird man immer seine Silhouette erkennen, den langsamen Gang eines über 70-Jährigen. Vielleicht ist „Werden“ in diesem Fall nicht ganz zutreffend, Schmalhofers Verwandlung ist ein ständiges An- und Ausmachen, wie bei einem Lichtschalter, ein Oszillieren.
Ist die Perchte nur eine Rolle? Ein Kostüm, das man sich anzieht, wie im Theater? Oder gibt es doch einen Grenzbereich, eine Zone des Übergangs? Schmalhofer selbst sagt selbst, wenn er sich das Kostüm überziehe, begebe er sich zwischen die Welten: „Die Wintersonne ist halbschön und halbhässlich. Unsere Figuren sind genau in der Mitte.“
Seinen Theorieanteil hat Schmalhofer allerdings nicht von Präauer, sondern von der Innenwand eines Felsens, der im Wald unweit seines Dorfes steht und von allen „Teufelsfelsen“ genannt wird. Er behauptet, dort eine Zeichnung aus der Steinzeit gefunden zu haben, von einer Habergoaß, einer Variante der Perchten. Anfang der Achtziger hat Schmalhofer mit zwei, drei Leuten an den alten Perchten-Brauch angeknüpft, um „wenigstens die Winterzeit bissl ins Dorf zu bringen“, wie er sagt, jenseits des Weihnachtszaubers.
Da stehen also zwanzig Niederbayern in Fellanzügen, ein Zelt voller haariger Riesengestalten. Sie formen einen Kreis, wippen schwerfällig, schieben ihre Masken hoch, ziehen an Zigaretten, setzten sich Bierflaschen an die Lippen. Sie werden nicht Perchte und sie bleiben nicht Mensch, sie sind immer beides. Es passt einfach zusammen. So muss es sich anfühlen, im Zwischenbereich, zwischen Percht und Mensch, zwischen Fell und Haut, zwischen fake und real. Die Verwandlung ist hier nicht magisch verklärt, sondern roh und echt und alltäglich, zugig wegen der Ritzen im Zelt und seltsam und witzig.
Präauers Text lockt mit Bildern, vereinfacht sie aber auch, sie wirken so aneinandergeklebt, dass es passt. Einer der schönsten Sätze in dem Buch lautet: „Wer so unvorsichtig ist, sich von einer gut erzählten Geschichte ablenken zu lassen, den frisst das Untier des Textes.“ Er verhallt, ohne dass die Autorin den Gedanken weiterverfolgt, als dürfe man darf nicht an einem Gedankenfaden festhalten und als müsse sich das Assoziationskarussell immer weiterdrehen.
Präauer lässt die Ideen, Figuren und Tiere wie Blitze vor dem geistigen Auge aufscheinen. Alles Weitere überlässt sie der Fantasie. Geh hin und erfahre es selbst, könnte das heißen, die Sinne machen das Denken erst greifbar. Dem Essay jedenfalls geht manchmal die Substanz ab, wenn ganze Passagen nur aus Beschreibungen und reinen Aneinanderreihungen bestehen. Und falls Präauer eine abschließende Idee hat, formuliert sie diese nur sehr vage.
Die Hoffnung, dass die Blicke zwischen Tier und Mensch vom jeweils anderen erwidert würden, klingt groß an, verliert sich aber wie so viele andere Denkfäden auf der vorletzten Seite. Die Autorin fordert, Mensch und Tier einander näherzubringen. Sie will die kulturelle Grenze zwischen diesen Wesen überwinden. Der Aufruf birgt einen performativen Widerspruch: In einem gewissen Sinne baut so ein Essay die Distanz, die er überwinden will, indem er das Tier zum Studienobjekt macht, erst auf.
Am Ende des Gedankenexperiments, der Begegnung zwischen der schreibenden Präauer und Schmalhofer in Kostüm, steht also nicht der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, sondern ihre jeweils andere Prämisse und eine Erkenntnis, die ohne Erfahrung nicht zu ihrer Existenz gefunden hätte: Stellt man Schmalhofer die Frage „Was macht das mit dir, wenn du deine Maske aufsetzt?“, fängt er sofort an, über den Brauch des Perchtenlaufs zu referieren. Winter, Geister, uralte Tradition. Ob das nicht irgendwie seltsam sei? Da kann er nur lachen, es ist für ihn das Natürlichste der Welt. Wie könnte so eine natürliche Verrichtung spirituell sein?
Präauer aber richtet ihren Essay an ein Subjekt, das das Tier zum Anderen und die Nähe eines Menschen zum Tier zu etwas Exotischem erklärt, wie Derrida, der einer selbstüberlieferten Anekdote zufolge nackt aus der Dusche tritt und sich vor seiner Katze für seine Nacktheit schämt.
Schmalhofer leiht der Perchte Jahr für Jahr seinen eigenen Körper. Sie ist für ihn kein völlig seltsames Wesen, nicht bloß ein Schreck für Kinder und auch keine Kuriosität für Kulturwissenschaftler. Er ist nicht der Andere. Oder: Der Andere ist kein Anderer mehr. Er ist sein Eigen.
Teresa Präauer: Tier werden. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 100 Seiten, 18 Euro.
Der Essay ist eine Einladung
zum Abschweifen,
eine sinnliche Initiation
In den Augen der Perchte
steht der Wahn,
aber auch Schwachsinn
Präauer lässt Ideen wie Blitze
kurz aufscheinen
und überlässt dem Leser den Rest
Verwandelt sich da etwas? Jedes Jahr in den Tagen vor und nach dem Jahreswechsel schwärmen in Bayern und Österreich die Perchten aus, Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Ekaterina Kel denkt mit Teresa Präauer darüber nach, was es bedeutet, Tier zu werden. Perchte, Harpyien und andere Mischwesen kommen vor, vor allem aber lehrt Kel der Essay die Abschweifung, das freie Assoziieren. Substanzielles, stringente Erkenntnisse oder Thesen bietet Präauer dem Leser laut Kel eher nicht. Als Einübung im Denken funktioniert das Buch aber gut, versichert die Rezensentin. Wenn die Autorin Bilder, Texte, Figuren, Ideen blitzartig aufscheinen lässt, stachelt sie damit Kels Fantasie an, aber auch ihr Urteilsvermögen: Die Grenze zwischen Mensch und Tier, die der Essay zu überwinden sucht, zieht er selbst, meint Kel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»unternimmt in 'Tier werden' den kühnen Versuch einer grenzüberschreitenden Anthropologie« (Samuel Hamen, ZEIT Online, 28.09.2018) »ein rauschhaftes, kluges und schönes Gebilde. Dieses Buch will nicht belehren. Es will Beute machen.« (Philipp Theisohn, Neue Zürcher Zeitung, 29.10.2018) »eine Einladung zum Abschweifen, die sinnliche Initiation in eine Gedankenspinnerei« (Ekaterina Kel, Süddeutsche Zeitung, 17.01.2019) »eine lohnenswerte Lektüre, weil er den präzisen Blick der bildenden Künstlerin mit den weitgefächerten Lektüren der Autorin Präauer verbindet« (Stefan Gmünder, Der Standard, 29.11.2018) »Ein großes Pamphlet für die Freiheit der Literatur.« (Wiebke Porombka, SWR2, 01.01.2019) »Man muss diese Denkschrift mit Hingabe lesen.« (Björn Hayer, Rolling Stone, Januar 2019) »Ein Grenzgang zwischen exzessiver naturkundlicher Recherche und poetischer Einbildungskraft.« (Michael Braun, Badische Zeitung, 05.01.2019) »rauschhaft und klug« (Anne-Dore Krohn, rbb kulturradio, 22.11.2018) »Präauers schönes Buch ist selbst ein Mischwesen zwischen Erzählung und Essay, in den Schafspelz der Literatur gehüllte wilde Theorie und umgekehrt.« (Stefan Kister, Stuttgarter Nachrichten, 18.01.2019) »Ein sehr reichhaltiger Text voller Kunst und Kunstgeschichte, voller Zoologie und Evolution, voller Märchen, Fabeln und Karneval.« (Katharina Borchardt, SWR2 Lesenswert, 27.01.2019) »Der (...) Text ist selbst ein Mischwesen, halb Wissenschaft, halb kulturwissenschaftliche, ja, Travestie.« (Peter Zimmermann, ORF Ex libris, 23.12.2018) »Eine Anleitung fürs wilde Lesen.« (Katrin Schumacher, MDR Kultur, 20.12.2018) »mit einprägsamer Leichtigkeit, einer konsistenten Linie und linguistischem Charme. (...) kreativ umgesetzt und spannend im reinsten Sinne des Wortes.« (Daphne Tokas, www.literaturkritik.de, Dezember 2018) »eine etwas andere Poetologie, eine Liebeserklärung an jene erstaunlichen Verwandlungsprozesse, zu denen die Literatur fähig ist« (Brigitte Schwens-Harrant, Die Presse, 13.04.2019) »In wunderbar fließendem Schreibstil führt sie durch Alltagsszenen und philosophische Betrachtungen, lässt teilhaben an Fragen an die Objektivität der Wissenschaft.« (Weiber Diwan, Sommer 2019)