»Manchmal kann die Musik gar nicht laut genug sein, damit man das Leben nicht hört.«
Nini und Jameelah leben in derselben Siedlung, sie sind unzertrennlich und mit ihren vierzehn Jahren eigentlich erwachsen, finden sie. Deswegen kaufen sie sich Ringelstrümpfe, die sie bis zu den Oberschenkeln hochziehen, wenn sie ganz cool und pomade auf die Kurfürsten gehen, um für das Projekt Entjungferung zu üben.Sie mischen Milch, Mariacron und Maracujasaft auf der Schultoilette. Sie nennen das Tigermilch und streifen durch den Sommer, der ihr letzter gemeinsamer sein könnte. Die beiden Freundinnen lassen sich durch die Hitze treiben, sie treffen nicht Tom Sawyer oder Huck Finn, aber hängen mit Nico ab. Nico, der in der ganzen Stadt »Sad« an die Wände malt und Nini ein Gefühl von Zuhause gibt. Sie machen Bahnpartys, rauchen Ott in Telefonzellen und gehen mit Amir ins Schwimmbad. Amir, den sie beschützen wie einen kleinen Bruder. Und dessen großer Bruder Tarik im Dauerstreit mit seiner Schwester liegt, weil diese sich in einen Serben verliebt hat. Nini und Jameelah erschaffen sich eine Welt mit eigenen Gesetzen, sie überziehen den Staub der Straße mit Glamour, die Innigkeit ihrer Freundschaft ist Familienersatz. Sie halten sich für unverwundbar, solange sie zusammen sind. Doch dann werden sie ungewollt Zeuge, wie der Konflikt in Amirs Familie eskaliert. Und alles droht zu zerbrechen.Mit einem hinreißend eigenen Sound, leichtfüßig und schonungslos, wuchtig und zart erzählt Stefanie de Velasco von zwei Mädchen, die das Leben mit beiden Händen ergreifen und lernen müssen, das eigene Dasein auszuhalten. Ein kraftvolles Debüt über Verlust und Sehnsucht. Unmittelbar, entlarvend und herzzerreißend.
Nini und Jameelah leben in derselben Siedlung, sie sind unzertrennlich und mit ihren vierzehn Jahren eigentlich erwachsen, finden sie. Deswegen kaufen sie sich Ringelstrümpfe, die sie bis zu den Oberschenkeln hochziehen, wenn sie ganz cool und pomade auf die Kurfürsten gehen, um für das Projekt Entjungferung zu üben.Sie mischen Milch, Mariacron und Maracujasaft auf der Schultoilette. Sie nennen das Tigermilch und streifen durch den Sommer, der ihr letzter gemeinsamer sein könnte. Die beiden Freundinnen lassen sich durch die Hitze treiben, sie treffen nicht Tom Sawyer oder Huck Finn, aber hängen mit Nico ab. Nico, der in der ganzen Stadt »Sad« an die Wände malt und Nini ein Gefühl von Zuhause gibt. Sie machen Bahnpartys, rauchen Ott in Telefonzellen und gehen mit Amir ins Schwimmbad. Amir, den sie beschützen wie einen kleinen Bruder. Und dessen großer Bruder Tarik im Dauerstreit mit seiner Schwester liegt, weil diese sich in einen Serben verliebt hat. Nini und Jameelah erschaffen sich eine Welt mit eigenen Gesetzen, sie überziehen den Staub der Straße mit Glamour, die Innigkeit ihrer Freundschaft ist Familienersatz. Sie halten sich für unverwundbar, solange sie zusammen sind. Doch dann werden sie ungewollt Zeuge, wie der Konflikt in Amirs Familie eskaliert. Und alles droht zu zerbrechen.Mit einem hinreißend eigenen Sound, leichtfüßig und schonungslos, wuchtig und zart erzählt Stefanie de Velasco von zwei Mädchen, die das Leben mit beiden Händen ergreifen und lernen müssen, das eigene Dasein auszuhalten. Ein kraftvolles Debüt über Verlust und Sehnsucht. Unmittelbar, entlarvend und herzzerreißend.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Wolfgang Schneider ist dieses Debüt eine "aufgebrezelte Talentprobe". Allerdings scheint er sich durchaus vorstellen zu können, dass Stefanie de Velasco irgendwann mehr zustande bringen wird als diesen Pubertätsroman mit hektischer Problemballung, der den Jugendsprech von Herrndorfs "Tschick" kopiert, ohne allerdings über dessen Gelassenheit zu verfügen. Für Schneider ist das alles viel zu viel. Zu viele weltkennerische Geistesblitze, zu viel krasse Drastik. Ein paar Zwischentöne in der Geschichte um die beiden Berliner Lolitas Nini und Jameelah, in der von Nymphchen-Sex bis Ehrenmord wirklich alles vorkommt, was der Migrantenmilieu-Thriller braucht (oder auch nicht), hätten Schneider milder gestimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2013Das wird einmal ein schöner Tag gewesen sein
Zwei vierzehnjährige Mädchen, die das echte Leben suchen, und eine Erzählerin, die einen wunderbaren Ton dafür findet: Stefanie de Velascos Roman "Tigermilch"
Für Mädchen" steht auf der ersten Seite. Oben mittig, in kleinen zarten Buchstaben. Mehr nicht, darunter nur weiße Fläche. Als reichte das schon, als brauchte man sonst nichts zu wissen. Ist das eine Widmung, eine Warnung? Eine Leserbeschränkung? Ein feministischer Appell? Erst mal lesen, dann grübeln! Zwei Vierzehnjährige ohne Väter, der eine im Irak erschossen, der andere viel zu früh abgehauen. Nini heißt die eine, die erzählt, Jameelah, die andere, die immer und überall dabei ist. Zwei beste Freundinnen und ein Sommer. Ein Sommer in Berlin. Aber das ist gar nicht wichtig, es könnte genauso gut Mannheim oder Düsseldorf sein.
Ihre Zeit verbringen die beiden meist draußen, rauchen in der Fußgängerzone, wo sich Trostlosigkeit und Billigketten-Neon Gute Nacht sagen, oder mixen aus Müllermilch, Maracujasaft und Mariacron ihren "Tigermilch"-Cocktail. Sie lutschen Rumcremeriesen und sprechen die O-Sprache, sagen kross statt krass, Brotwurst statt Bratwurst und Sorbe statt Serbe. Manchmal klauen sie Ohrringe oder lassen sich von den Irren unter der Brücke die Fingernägel schneiden. Sie sind "cool und pomade" und hauen ihre lehmigen Chucks auf den S-Bahn-Sitz, bis die Rentner keifen kommen. Ihre Lieblingsorte sind die Telefonzelle, das Freibad und der Spielplatz.
Es ist der Moment kurz vor dem Absprung. Noch steckt ihnen die Kindheit in den Knochen, noch ist Erwachsensein auf der anderen Seite der Schlucht. Aber Hand in Hand haben sie schon Anlauf genommen, jetzt gilt es nur noch, weit genug zu springen. Geübt haben sie dafür lange genug. Haben sich im Kaufhaus von der Verkäuferin siezen lassen, sind nachts mit dem BMX-Fahrrad über die Autobahn gerast und haben die Ringelstrümpfe bis an den Po hochgezogen. Manchmal, wenn sie ganz betrunken waren, haben sie sich auch auf die Kurfürstenstraße gestellt und mit fremden Männern durchs Autofenster geredet. Und ein paar Mal sind sie auch eingestiegen, wenn die Typen einigermaßen "süß" waren, haben sich das Kondom mit dem Zipfel nach innen in den Mund gesteckt und losgelutscht, aber nur um zu lernen, nicht um zu liefern: "Zuerst schneidet man Frösche auf, dann Tote und erst am Ende richtig lebende Menschen, so macht man das im Studium. Wir müssen üben, für später, für das echte Leben, irgendwann mal müssen wir ja wissen, wie alles geht."
Aber jetzt ist Schluss mit Üben. Jetzt, in diesen Sommerferien, soll es endlich richtig losgehen. Der letzte Schultag ist zu Ende, das erste Mal kann kommen. Nini träumt davon, dass dabei alles nach "Weleda" riecht. Sie tanzt, knutscht, macht "pornomäßig" rum, aber zum Letzten reicht es dann doch nie, stattdessen Absturz, Schnarchkonzert und Heulen auf dem Klodeckel. Also wieder zur Kurfürsten. Zweihundert Euro, ein Typ im Rollstuhl, Nini setzt sich einfach auf ihn drauf, Augen zu und los!
Nüchtern, behutsam, ohne viele Wortgirlanden beschreibt die junge Autorin Stefanie de Velasco den Erfahrungshunger von zwei Mädchen, die losziehen, das echte Leben zu finden. Wo es brodelt und wummert, wo die Straßenlichter niemals ausgehen und die Mojitoreste auf den Boden klatschen. Velasco geht rauh um mit ihren minderjährigen Protagonistinnen, stellt sie nicht unter Welpenschutz. Und doch gibt es immer wieder berührende und zarte Momente, wenn sie beschreibt, wie Nini mit zitternder Stimme nach langen Jahren das erste Mal ihren Vater anruft, stockend und Worte suchend, und kaum hat sie sich ihm dann vorgestellt, kommt ein Funkloch, und Papa ist wieder weg: "auflegen, das ist doch auch jedes Mal ein bisschen so wie sterben, auflegen ist der kleine Tod". Empfindsamkeit hätte man das früher im Deutschunterricht wohl genannt. An anderer Stelle heißt es vom Erwachsenwerden, das sei der Moment, "in dem einen das erste Mal die Angst beschleicht vorm Kinderkriegen und vorm Einsambleiben, vorm Altwerden und vorm Zu-früh-Sterben". Auch das sitzt. Berührt. Die Tiefe kommt bei Velasco ganz nebenbei, ohne sich vorher anzukündigen. Das macht das Buch so anziehend und liebenswert.
Nini und Jameelah haben also den großen Sprung gemacht, das "erste Mal" ist Geschichte. Und nun? Geht jetzt alles von selbst? Dass zum Erwachsenwerden viel mehr gehört, als sich einmal kurz entjungfern zu lassen, dass Kindheit nicht nur Zwang und Widerwillen, sondern auch Schutz bedeutet, das erfahren die beiden in einer Spätsommernacht auf dem Spielplatz. Da werden sie Zeuge, wie Tarik, der junge Bosnier aus dem Nachbarhaus, im Streit seine Schwester ersticht. "Ehrenmord wie im Mittelalter" steht am nächsten Tag in der Zeitung, und Nini fragt entsetzt: "Wieso hat uns nie jemand gesagt, dass das hier passieren kann?"
Auf einmal schmeckt das Erwachsensein ziemlich bitter. Die Polizei verhaftet den falschen Bruder, aber Jameelah hat Angst, eine Aussage zu machen, weil die Aufenthaltsgenehmigung ihrer Mutter bald abläuft. "Ich will nicht wieder zurück dahin, wo man die Häuser noch aus Kamelscheiße baut", flüstert sie und verbietet Nini, zur Polizei zu gehen. Dass über diesem Gewissenskonflikt die Freundschaft der beiden in die Brüche geht, dass die eine auf einmal einen Freund hat und die andere am Ende wegmuss, dass all das Leiden zum Erwachsensein dazugehört, werden die beiden erst viel später verstehen. Aber dann ist es zu spät. Dann ist die "Tigermilch" längst ausgetrunken und das Eben zum Damals geworden, "als wir noch dachten, dass niemals etwas schiefgehen wird, dass nichts passieren kann, solange wir nicht alleine gehen, nirgendwohin allein".
"Tigermilch" ist das Debüt der 1978 in Oberhausen geborenen Autorin. Es ist ein Buch so frei von Attitüde oder Geltungsdrang, dass man sich mit jeder Seite ein bisschen mehr in die Erzählstimme verliebt und am Ende traurig ist, dass sie unversehens abbricht. Stefanie de Velasco erzählt auf wunderbar einfache Weise vom Allerschwersten: vom Finden und Verlieren, vom Liebenlernen und Zeitverstehen. Es geht nicht um Kampf, nicht um Revolution, ihr Buch ist kein "Generationen-", nicht mal einfach nur ein "Coming of Age"- Roman. Es ist mehr als alle Labels zusammen. Und doch keine Provokation, hier wird nicht groß aufgetrumpft. Keine Superlative sind notwendig, keine Trompetentöne. Einfühlsam schreibt sie, nicht eindringend. Das liest sich manchmal wie dahergesagt, den einen oder anderen Jugendslang muss man im "Urban Dictionary" nachschlagen, aber ohne Zweifel schreibt hier eine Autorin mit scharfem Sinn für Sprache, eine, die die Worte ganz genau nach ihren brüchigen Stellen abklopft. Da gibt es zum Beispiel diesen immer wiederkehrenden Satz, von "Gottes Welt, die verfault ist". Mehr braucht Velasco nicht, um Traurigkeit und Weltschmerz den richtigen Namen zu geben.
Wenn man "Tigermilch" genau liest, die Sätze und Szenen ganz nah an sich heranlässt, dann findet man sogar ein bisschen Beckettsche Melancholie zwischen den Zeilen: "Es wird ein schöner Tag gewesen sein", heißt es in den "Glücklichen Tagen"; "irgendwann werden die Menschen über all das, was sie am glücklichsten gemacht hat, am meisten weinen", sagt Jameelah und nimmt einen großen Schluck aus dem Müllermilchbecher.
SIMON STRAUSS
Stefanie de Velasco: "Tigermilch". Roman. Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 16,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei vierzehnjährige Mädchen, die das echte Leben suchen, und eine Erzählerin, die einen wunderbaren Ton dafür findet: Stefanie de Velascos Roman "Tigermilch"
Für Mädchen" steht auf der ersten Seite. Oben mittig, in kleinen zarten Buchstaben. Mehr nicht, darunter nur weiße Fläche. Als reichte das schon, als brauchte man sonst nichts zu wissen. Ist das eine Widmung, eine Warnung? Eine Leserbeschränkung? Ein feministischer Appell? Erst mal lesen, dann grübeln! Zwei Vierzehnjährige ohne Väter, der eine im Irak erschossen, der andere viel zu früh abgehauen. Nini heißt die eine, die erzählt, Jameelah, die andere, die immer und überall dabei ist. Zwei beste Freundinnen und ein Sommer. Ein Sommer in Berlin. Aber das ist gar nicht wichtig, es könnte genauso gut Mannheim oder Düsseldorf sein.
Ihre Zeit verbringen die beiden meist draußen, rauchen in der Fußgängerzone, wo sich Trostlosigkeit und Billigketten-Neon Gute Nacht sagen, oder mixen aus Müllermilch, Maracujasaft und Mariacron ihren "Tigermilch"-Cocktail. Sie lutschen Rumcremeriesen und sprechen die O-Sprache, sagen kross statt krass, Brotwurst statt Bratwurst und Sorbe statt Serbe. Manchmal klauen sie Ohrringe oder lassen sich von den Irren unter der Brücke die Fingernägel schneiden. Sie sind "cool und pomade" und hauen ihre lehmigen Chucks auf den S-Bahn-Sitz, bis die Rentner keifen kommen. Ihre Lieblingsorte sind die Telefonzelle, das Freibad und der Spielplatz.
Es ist der Moment kurz vor dem Absprung. Noch steckt ihnen die Kindheit in den Knochen, noch ist Erwachsensein auf der anderen Seite der Schlucht. Aber Hand in Hand haben sie schon Anlauf genommen, jetzt gilt es nur noch, weit genug zu springen. Geübt haben sie dafür lange genug. Haben sich im Kaufhaus von der Verkäuferin siezen lassen, sind nachts mit dem BMX-Fahrrad über die Autobahn gerast und haben die Ringelstrümpfe bis an den Po hochgezogen. Manchmal, wenn sie ganz betrunken waren, haben sie sich auch auf die Kurfürstenstraße gestellt und mit fremden Männern durchs Autofenster geredet. Und ein paar Mal sind sie auch eingestiegen, wenn die Typen einigermaßen "süß" waren, haben sich das Kondom mit dem Zipfel nach innen in den Mund gesteckt und losgelutscht, aber nur um zu lernen, nicht um zu liefern: "Zuerst schneidet man Frösche auf, dann Tote und erst am Ende richtig lebende Menschen, so macht man das im Studium. Wir müssen üben, für später, für das echte Leben, irgendwann mal müssen wir ja wissen, wie alles geht."
Aber jetzt ist Schluss mit Üben. Jetzt, in diesen Sommerferien, soll es endlich richtig losgehen. Der letzte Schultag ist zu Ende, das erste Mal kann kommen. Nini träumt davon, dass dabei alles nach "Weleda" riecht. Sie tanzt, knutscht, macht "pornomäßig" rum, aber zum Letzten reicht es dann doch nie, stattdessen Absturz, Schnarchkonzert und Heulen auf dem Klodeckel. Also wieder zur Kurfürsten. Zweihundert Euro, ein Typ im Rollstuhl, Nini setzt sich einfach auf ihn drauf, Augen zu und los!
Nüchtern, behutsam, ohne viele Wortgirlanden beschreibt die junge Autorin Stefanie de Velasco den Erfahrungshunger von zwei Mädchen, die losziehen, das echte Leben zu finden. Wo es brodelt und wummert, wo die Straßenlichter niemals ausgehen und die Mojitoreste auf den Boden klatschen. Velasco geht rauh um mit ihren minderjährigen Protagonistinnen, stellt sie nicht unter Welpenschutz. Und doch gibt es immer wieder berührende und zarte Momente, wenn sie beschreibt, wie Nini mit zitternder Stimme nach langen Jahren das erste Mal ihren Vater anruft, stockend und Worte suchend, und kaum hat sie sich ihm dann vorgestellt, kommt ein Funkloch, und Papa ist wieder weg: "auflegen, das ist doch auch jedes Mal ein bisschen so wie sterben, auflegen ist der kleine Tod". Empfindsamkeit hätte man das früher im Deutschunterricht wohl genannt. An anderer Stelle heißt es vom Erwachsenwerden, das sei der Moment, "in dem einen das erste Mal die Angst beschleicht vorm Kinderkriegen und vorm Einsambleiben, vorm Altwerden und vorm Zu-früh-Sterben". Auch das sitzt. Berührt. Die Tiefe kommt bei Velasco ganz nebenbei, ohne sich vorher anzukündigen. Das macht das Buch so anziehend und liebenswert.
Nini und Jameelah haben also den großen Sprung gemacht, das "erste Mal" ist Geschichte. Und nun? Geht jetzt alles von selbst? Dass zum Erwachsenwerden viel mehr gehört, als sich einmal kurz entjungfern zu lassen, dass Kindheit nicht nur Zwang und Widerwillen, sondern auch Schutz bedeutet, das erfahren die beiden in einer Spätsommernacht auf dem Spielplatz. Da werden sie Zeuge, wie Tarik, der junge Bosnier aus dem Nachbarhaus, im Streit seine Schwester ersticht. "Ehrenmord wie im Mittelalter" steht am nächsten Tag in der Zeitung, und Nini fragt entsetzt: "Wieso hat uns nie jemand gesagt, dass das hier passieren kann?"
Auf einmal schmeckt das Erwachsensein ziemlich bitter. Die Polizei verhaftet den falschen Bruder, aber Jameelah hat Angst, eine Aussage zu machen, weil die Aufenthaltsgenehmigung ihrer Mutter bald abläuft. "Ich will nicht wieder zurück dahin, wo man die Häuser noch aus Kamelscheiße baut", flüstert sie und verbietet Nini, zur Polizei zu gehen. Dass über diesem Gewissenskonflikt die Freundschaft der beiden in die Brüche geht, dass die eine auf einmal einen Freund hat und die andere am Ende wegmuss, dass all das Leiden zum Erwachsensein dazugehört, werden die beiden erst viel später verstehen. Aber dann ist es zu spät. Dann ist die "Tigermilch" längst ausgetrunken und das Eben zum Damals geworden, "als wir noch dachten, dass niemals etwas schiefgehen wird, dass nichts passieren kann, solange wir nicht alleine gehen, nirgendwohin allein".
"Tigermilch" ist das Debüt der 1978 in Oberhausen geborenen Autorin. Es ist ein Buch so frei von Attitüde oder Geltungsdrang, dass man sich mit jeder Seite ein bisschen mehr in die Erzählstimme verliebt und am Ende traurig ist, dass sie unversehens abbricht. Stefanie de Velasco erzählt auf wunderbar einfache Weise vom Allerschwersten: vom Finden und Verlieren, vom Liebenlernen und Zeitverstehen. Es geht nicht um Kampf, nicht um Revolution, ihr Buch ist kein "Generationen-", nicht mal einfach nur ein "Coming of Age"- Roman. Es ist mehr als alle Labels zusammen. Und doch keine Provokation, hier wird nicht groß aufgetrumpft. Keine Superlative sind notwendig, keine Trompetentöne. Einfühlsam schreibt sie, nicht eindringend. Das liest sich manchmal wie dahergesagt, den einen oder anderen Jugendslang muss man im "Urban Dictionary" nachschlagen, aber ohne Zweifel schreibt hier eine Autorin mit scharfem Sinn für Sprache, eine, die die Worte ganz genau nach ihren brüchigen Stellen abklopft. Da gibt es zum Beispiel diesen immer wiederkehrenden Satz, von "Gottes Welt, die verfault ist". Mehr braucht Velasco nicht, um Traurigkeit und Weltschmerz den richtigen Namen zu geben.
Wenn man "Tigermilch" genau liest, die Sätze und Szenen ganz nah an sich heranlässt, dann findet man sogar ein bisschen Beckettsche Melancholie zwischen den Zeilen: "Es wird ein schöner Tag gewesen sein", heißt es in den "Glücklichen Tagen"; "irgendwann werden die Menschen über all das, was sie am glücklichsten gemacht hat, am meisten weinen", sagt Jameelah und nimmt einen großen Schluck aus dem Müllermilchbecher.
SIMON STRAUSS
Stefanie de Velasco: "Tigermilch". Roman. Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 16,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Roman überzeugt als lebhafte und gut beobachtete Milieustudie, die auch vor dem brisanten Thema ethnischer Rivalitäten nicht zurückschreckt.« Nadine Hemgesberg Die Welt 20130826