Jedes Kind kennt die Geschichten des berühmtesten aller Narren, der Eulen und Meerkatzen bäckt, einem Esel das Lesen beibringt und den Grafen von Anhalt für dumm verkauft. Sprichwörtlich sind seine Eulenspiegeleien, das penetrante Wörtlichnehmen und absichtliche Missverstehen, mit denen er sich Herren und Meister vom Leib hält. Doch nicht nur die Mächtigen werden Opfer seiner derben Späße, sondern auch arme Bauern und Handwerker, Tiere und Kinder. In Clemens J. Setz' Nacherzählungen ausgewählter Historien aus dem beliebten Volksbuch stiftet Till Eulenspiegel, "diese vielleicht freieste Figur der deutschen Literatur", nichts als Unruhe und Chaos in den Dörfern und Häusern der braven, anständigen Menschen, zum diebischen Vergnügen des Lesers, herrlich hintergründig illustriert von Philip Waechter.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gilt die von Erich Kästner und Walter Trier herausgegebene Till-Eulenspiegel-Version bis heute als Kinderbuch, rät Rezensent Andreas Platthaus bei der nun von Clemens J. Setz gemeinsam mit dem Illustrator Philip Waechter vorgelegten Ausgabe dazu, das Buch nur in Begleitung eines Erwachsenen zu lesen. Denn Setz, laut Kritiker ein Meister des Abgründigen, wählt ausschließlich die finstersten Eulenspiegel-Geschichten, informiert der Rezensent: Hier werden Hunde gehäutet, Pferde geschlachtet, Bürger bestohlen und nicht die Mächtigen, sondern die Ohnmächtigen werden zum Opfer. Platthaus gefällt Setz' Bearbeitung ausgesprochen gut, vor allem, weil der österreichische Autor zwar die Sprache modernisiert, aber den Handlungsrahmen des 14. Jahrhunderts nicht aktualisiert und sehr nahe an den Originalerzählungen bleibt. Beeindruckt ist der Rezensent auch von Waechters hinreißenden Aquarellen, allerdings erscheinen sie ihm nicht ganz passend zu den drastischen Erzählungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2015Mit Kerlen wie diesem ist kein Staat zu machen
Clemens Setz erzählt die Geschichten von "Till Eulenspiegel" nach und holt dabei die alte Drastik zurück
Clemens Setz und Philip Waechter sind in ihren jeweiligen Disziplinen berühmt: Ersterer als Schriftsteller, Letzterer als Illustrator. Doch bei ihrer nun erschienenen Zusammenarbeit, einer von Setz nacherzählten und von Waechter bebilderten Version des Geschichtenreigens um Till Eulenspiegel, müssen sie es mit noch berühmteren Vorbildern oder besser: Vorbildnern aufnehmen. Denn vor fast achtzig Jahren hatte sich ein Traumpaar aus Schriftsteller und Illustrator an die gleiche Aufgabe gemacht: Erich Kästner und Walter Trier. "Till Eulenspiegel" im Jahr 1938 - Kästner war in der inneren Emigration, Trier in der wirklichen, in London, ihr gemeinsames Buch erschien in der Schweiz -, das schuf eine besondere Lesesituation für die schadenfrohen Streiche des Narren. In Deutschland, das Eulenspiegel Schabernack treibend durchreist, herrschten damals die Nationalsozialisten, und das, was sie verbrachen, setzte alle kulturellen Erbschaften in neues Licht, gerade auch die extrem bösartigen Geschichten von "Till Eulenspiegel", die im frühen sechzehnten Jahrhundert erstmals gedruckt und im durch die Reformation zerrissenen Land zum Massenerfolg geworden waren. Kästner wählte bewusst harmlose Episoden aus, von denen er sich moralische Besserung jenes Publikums erhoffte, an das sich seine Version richtete: Kinder. Er war damit - wenn auch erst in der Nachkriegszeit - dann so erfolgreich, dass "Till Eulenspiegel" seitdem als Kinderbuch gilt.
Warum derart viel Vorgeschichte? Weil Clemens Setz nun wieder den Spieß umdreht. Er hat dreißig der ursprünglich fast hundert Geschichten zusammengestellt, und in dieser Auswahl zeigt sich Eulenspiegel von der unangenehmsten Seite. Er häutet Hunde, betrügt Blinde, schlachtet Pferde, schädigt Kaufleute, bestiehlt Bürger - um nur weniges zu nennen. Fäkalhumor ist Trumpf bei vielen Streichen, und zum Opfer taugen nicht, wie bei Kästner, nur die Mächtigen, sondern vor allem die Ohnmächtigen. Setz sagt, wie es ist: "Wenn alle Menschen wie Till Eulenspiegel wären, würde nichts auf Erden funktionieren oder gedeihen."
Darin allerdings sieht der junge österreichische Schriftsteller, der ausgewiesenermaßen über ein grandioses Gefühl fürs Abgründige verfügt, just den Reiz der Eulenspiegeleien: in der Kompensation einer moralischen Abgründigkeit, die uns als Lesern gleichfalls zu eigen ist, die wir aber nicht ausleben. Dementsprechend schlimm darf da erzählt werden - ja sogar je schlimmer, desto besser. Und dafür bietet der ursprüngliche "Till Eulenspiegel" denkbar geeignete Texte.
Was hat dann aber Setz überhaupt noch gemacht? Erst einmal natürlich das Ganze in ein modernes Deutsch gebracht, wobei es bei ihm keine naiven Aktualisierungen gibt, sondern immer der Handlungsrahmen des vierzehnten Jahrhunderts - Eulenspiegels Todesjahr wird in der letzten Episode mit 1350 angegeben - gewahrt bleibt. Und natürlich wird auch die heute schwer kommensurable Erzählweise modifiziert, aber, so Setz, "von mir stammt nur die Improvisation um den Erzählkern herum, Angaben zu Wetter, Land und Leuten, kurze Reflexionen und Fantasien und die eine oder andere nie mehr als drei, vier Zeilen lange Szene, in der etwas weitergesponnen oder zu Ende gedacht wird". Das ist ihm sehr schön geglückt.
Aber Achtung: Kinderfinger weg davon! Nicht, weil sie mutmaßlich nicht schon längst Schlimmeres gesehen oder gelesen hätten, sondern weil hier Destruktives so lapidar erzählt wird, dass es tatsächlich verstört. Deshalb passen auch die lieblichen Bilder von Philip Waechter nicht gut zu dem, um was es hier wirklich geht. Die zauberhaften Aquarelle in den unterschiedlichsten Formaten sind für sich genommen eine Augenweide, aber im Kontext des Textes ein Missverständnis, von dem man fürchten muss, dass es verlagsseitig gewollt ist, um aus diesem Band der Insel-Bücherei doch noch ein rundum familientaugliches Buch zu machen.
"Till Eulenspiegel" war aber vor Erich Kästner nie für Kinder gedacht gewesen. Und in der neuen Nacherzählung von Clemens Setz sollte das Buch nun wieder nur für solche Kinder zur Lektüre werden, die einen Mitleser haben, der einzuordnen, zu erläutern und vor allem auch zu trösten weiß. Dann bekäme dieser für ein breites Publikum in seiner Drastik wiederhergestellte "Till Eulenspiegel" sogar noch eine zusätzliche Berechtigung, die auch Erich Kästner hätte gefallen müssen.
ANDREAS PLATTHAUS
"Till Eulenspiegel". Nacherzählt von Clemens Setz, illustriert von Philip Waechter.
Insel Verlag, Berlin 2015. 151 S., 31 Abb., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Clemens Setz erzählt die Geschichten von "Till Eulenspiegel" nach und holt dabei die alte Drastik zurück
Clemens Setz und Philip Waechter sind in ihren jeweiligen Disziplinen berühmt: Ersterer als Schriftsteller, Letzterer als Illustrator. Doch bei ihrer nun erschienenen Zusammenarbeit, einer von Setz nacherzählten und von Waechter bebilderten Version des Geschichtenreigens um Till Eulenspiegel, müssen sie es mit noch berühmteren Vorbildern oder besser: Vorbildnern aufnehmen. Denn vor fast achtzig Jahren hatte sich ein Traumpaar aus Schriftsteller und Illustrator an die gleiche Aufgabe gemacht: Erich Kästner und Walter Trier. "Till Eulenspiegel" im Jahr 1938 - Kästner war in der inneren Emigration, Trier in der wirklichen, in London, ihr gemeinsames Buch erschien in der Schweiz -, das schuf eine besondere Lesesituation für die schadenfrohen Streiche des Narren. In Deutschland, das Eulenspiegel Schabernack treibend durchreist, herrschten damals die Nationalsozialisten, und das, was sie verbrachen, setzte alle kulturellen Erbschaften in neues Licht, gerade auch die extrem bösartigen Geschichten von "Till Eulenspiegel", die im frühen sechzehnten Jahrhundert erstmals gedruckt und im durch die Reformation zerrissenen Land zum Massenerfolg geworden waren. Kästner wählte bewusst harmlose Episoden aus, von denen er sich moralische Besserung jenes Publikums erhoffte, an das sich seine Version richtete: Kinder. Er war damit - wenn auch erst in der Nachkriegszeit - dann so erfolgreich, dass "Till Eulenspiegel" seitdem als Kinderbuch gilt.
Warum derart viel Vorgeschichte? Weil Clemens Setz nun wieder den Spieß umdreht. Er hat dreißig der ursprünglich fast hundert Geschichten zusammengestellt, und in dieser Auswahl zeigt sich Eulenspiegel von der unangenehmsten Seite. Er häutet Hunde, betrügt Blinde, schlachtet Pferde, schädigt Kaufleute, bestiehlt Bürger - um nur weniges zu nennen. Fäkalhumor ist Trumpf bei vielen Streichen, und zum Opfer taugen nicht, wie bei Kästner, nur die Mächtigen, sondern vor allem die Ohnmächtigen. Setz sagt, wie es ist: "Wenn alle Menschen wie Till Eulenspiegel wären, würde nichts auf Erden funktionieren oder gedeihen."
Darin allerdings sieht der junge österreichische Schriftsteller, der ausgewiesenermaßen über ein grandioses Gefühl fürs Abgründige verfügt, just den Reiz der Eulenspiegeleien: in der Kompensation einer moralischen Abgründigkeit, die uns als Lesern gleichfalls zu eigen ist, die wir aber nicht ausleben. Dementsprechend schlimm darf da erzählt werden - ja sogar je schlimmer, desto besser. Und dafür bietet der ursprüngliche "Till Eulenspiegel" denkbar geeignete Texte.
Was hat dann aber Setz überhaupt noch gemacht? Erst einmal natürlich das Ganze in ein modernes Deutsch gebracht, wobei es bei ihm keine naiven Aktualisierungen gibt, sondern immer der Handlungsrahmen des vierzehnten Jahrhunderts - Eulenspiegels Todesjahr wird in der letzten Episode mit 1350 angegeben - gewahrt bleibt. Und natürlich wird auch die heute schwer kommensurable Erzählweise modifiziert, aber, so Setz, "von mir stammt nur die Improvisation um den Erzählkern herum, Angaben zu Wetter, Land und Leuten, kurze Reflexionen und Fantasien und die eine oder andere nie mehr als drei, vier Zeilen lange Szene, in der etwas weitergesponnen oder zu Ende gedacht wird". Das ist ihm sehr schön geglückt.
Aber Achtung: Kinderfinger weg davon! Nicht, weil sie mutmaßlich nicht schon längst Schlimmeres gesehen oder gelesen hätten, sondern weil hier Destruktives so lapidar erzählt wird, dass es tatsächlich verstört. Deshalb passen auch die lieblichen Bilder von Philip Waechter nicht gut zu dem, um was es hier wirklich geht. Die zauberhaften Aquarelle in den unterschiedlichsten Formaten sind für sich genommen eine Augenweide, aber im Kontext des Textes ein Missverständnis, von dem man fürchten muss, dass es verlagsseitig gewollt ist, um aus diesem Band der Insel-Bücherei doch noch ein rundum familientaugliches Buch zu machen.
"Till Eulenspiegel" war aber vor Erich Kästner nie für Kinder gedacht gewesen. Und in der neuen Nacherzählung von Clemens Setz sollte das Buch nun wieder nur für solche Kinder zur Lektüre werden, die einen Mitleser haben, der einzuordnen, zu erläutern und vor allem auch zu trösten weiß. Dann bekäme dieser für ein breites Publikum in seiner Drastik wiederhergestellte "Till Eulenspiegel" sogar noch eine zusätzliche Berechtigung, die auch Erich Kästner hätte gefallen müssen.
ANDREAS PLATTHAUS
"Till Eulenspiegel". Nacherzählt von Clemens Setz, illustriert von Philip Waechter.
Insel Verlag, Berlin 2015. 151 S., 31 Abb., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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