Sein Porträt hängt in jedem Klassenraum, sein durchdringender Blick beherrscht die Amtszimmer, Schusterläden und Metzgereien, und die Nachricht von seinem Tod erreicht auch jene abgelegene Gegend in Dalmatien, wo die Erzählerin ihre Kindheit verbringt. Widerwillig lässt sie die Schulfeierlichkeiten über sich ergehen, während der Großvater um den größten Verlust seines Lebens trauert: um Tito und Jugoslawien. Doch nicht die Politik und der sich abzeichnende Zerfall des Landes beschäftigen das Mädchen, sondern die Sommerlandschaft und ihre Bewohner: der Kriegsheimkehrer, der nicht weiß, dass der Kampf längst vorbei ist, und sich an einem Ast erhängt, der schönheitssüchtige Lilienzüchter, dem die Dorfbewohner aus Hass seine Felder zertrampeln, die junge Frau, die jahrelang vergeblich auf die Rückkehr ihres Bräutigams wartet, weil er im Ausland von einer Baustelle zur nächsten zieht. Das Leben der Gastarbeiterväter spielt sich in unbekannter Ferne ab, im Norden, dem "Mysterium der modernen Welt", während die Kinder im Süden den Geheimnissen des Realen nachspüren, in unergründlichen Gärten und vergessenen Kellern, in Kirchen und auf glühheißen Landstraßen.
In Marica Bodrozics Texten ist es hell und auf zauberische Weise heiter. Ein mediterranes Licht liegt über den halb gebauten Häusern, den Schmetterlingswiesen und Zypressenhainen und den kurzen, von Leidenschaften und Kümmernissen geschüttelten Lebensepochen, die sie in ihren Erzählungen und Prosastücken beschwört.
In Marica Bodrozics Texten ist es hell und auf zauberische Weise heiter. Ein mediterranes Licht liegt über den halb gebauten Häusern, den Schmetterlingswiesen und Zypressenhainen und den kurzen, von Leidenschaften und Kümmernissen geschüttelten Lebensepochen, die sie in ihren Erzählungen und Prosastücken beschwört.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Tilman Spreckelsen ist beeindruckt. So intensiv, "so irritierend eigenständig", wie die 1973 geborene Marica Bodrozic in ihrem Debüt, betrete selten ein Autor die literarische Bühne. In den vierundzwanzig kurzen Texten des Bandes nehme sie jeweils einzelne Ereignisse, Themen oder Figuren zum Ausgangspunkt für die Rekonstruktion eines spezifisch kindlichen Bewusstseins, aus dessen Perspektive sie erzähle. Schauplatz ist ein dalmatinisches Dorf, lesen wir. Als zentrales Ereignis beschreibt der Rezensent Titos Tod, Anlass für die Erinnerung an die Zeit des zweiten Weltkrieges. Gleichzeitig deutet dieser Tod den blutigen Zerfall Jugoslawiens voraus. Die Erzähltechnik, in der Geschichte aus der Perspektive eines Kindes im Grundschulalter abgebildet wird, bezeichnet der Rezensenten als kleine Sensation. Hoch lobt er auch die Sprache der Autorin. Ihre Freude am "Klang der Worte" teilte sich ihm auf jeder Seite mit. Das Zusammenspiel "von ungewöhnlichen Formulierungen" und keinem verknappten Erzählstil, ergab für ihn eine Fülle von außerordentlich suggestiven Bildern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Sein Porträt hing in jeder Amtsstube, jedem Laden und jedem Klassenzimmer. Sein durchdringender Blick hinter der unverwechselbaren Brille wachte über das blockfreie Jugoslawien. Josip Broz Tito kontrollierte die Blutfehden in den Schluchten des Balkan. Die Nachricht von seinem Tod erschüttert die Bewohner des dalmatinischen Dorfes, in dem Marica Bodrozics Erzählerin aufwächst. Der Großvater trauert um das, was ihm allein wichtig war: Jugoslawien. Das Mädchen weiß nicht recht, um was es trauern soll, spürt aber eine Bedrohung, die von jetzt an in der Luft liegt. Vor diesem Hintergrund lässt die junge Autorin ihre stimmungsvollen Miniaturen spielen. Trügerisches Dorfidyll, duftige Spätsommertage, Menschen, die noch nicht wissen, was ihnen geschehen wird. Bodrozic erzählt Böses aus kindlicher Perspektive. Berichtet scheinbar naiv vom Lilienzüchter Mirko, dem die Nachbarn voller Hass seine Felder - und seine Seele - zertrampeln. Oder von der Braut, die schon lang nichts mehr von ihrem Liebsten gehört hat, weil der als Gastarbeiter von einer Baustelle zur nächsten zieht. Vom Kriegsheimkehrer, der den Anschluss ans neue Leben verpasst und sich an einem Ast erhängt. 24 giftig-schöne Gleichnisse über den Verfall eines Landes und einer Idee. Poetische Momentaufnahmen von Männern und Frauen, die sehr bald um ihre Zukuft betrogen werden. Traurig, aber wahr. (Hörzu)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.06.2002Großvater versteht die Welt nicht mehr
Ein ewiger Mittag: In „Tito ist tot” erzählt Marika Bodrozic von der Kindheit und dem Sommer
Andere in ihrem Alter schreiben ja gerne über die Einsamkeit in Manhattan, die Mädchenhändler von Bangkog oder diesen sensationellen Blick auf die flimmernde Sahara. Es müssen immer die größten Städte, die verkommensten Reviere oder die heißesten Wüsten sein, sonst ist ihnen der Schauplatz, die Kulisse für die Verfilmung, an der sich die Literatur heute orientiert, nicht spektakulär genug. Die 1973 geborene, seit ihrem zehnten Jahr in Deutschland lebende Marica Bodrozic hält es anders: Ihre Geschichten spielen in einem namenlosen Dorf in Dalmatien, einem Nest in der Provinz, und die Helden, die diese wundersame Welt der Kindheit bevölkern, heißen Großvater, Onkel Joseph, Tante Morgenrot, die Schlangentöterin, die Fischersfrau. Oder Katarina Jadovna.
Auf den Klippen
Katarina hatte im Ausland einen Mann aus dem Dorfe kennengelernt und geheiratet; weil er noch ein paar Jahre Geld verdienen musste, irgendwo im Norden, um irgendwann in der Heimat sein eigenes Haus bauen zu können, hat er seine Frau alleine ins Dorf voraus geschickt. „Es war nicht üblich, die Frau ohne den Bräutigam ins Haus der Eltern zu schicken. Es gehörte sich nicht und war schlicht gottlos.” Alleine gekommen, bleibt sie im Dorf eine Fremde, von undurchdringlichem Schweigen umgeben, so tüchtig sie im Wald und auf den Feldern auch arbeiten mochte. Da die Wirklichkeit ein Märchen und voller Wunder ist, aber oft auch von einem unerbittlichen Schicksal zeugt, kam es, „wie es kommen musste”: der Mann stirbt im Ausland, ohne seine Heimat wiederzusehen. Die Kinder bleiben ungezeugt, das Haus wird nicht erbaut, und Katarina verlässt mit ihren zwei Koffern die feindseligen Schwiegereltern, denen sie keine Enkel schenkte. Vorher aber geht sie auf die Klippen und streut die Hochzeitsbilder, hoch über dem Meer, in den Wind.
Natürlich, das ist eine Gastarbeitergeschichte, die auf wenigen Seiten von Hoffnungen und Lebensplänen erzählt, wie sie vielen zunichte werden. Aber die soziale Kritik, für die Marica Bodrozic einprägsame Bilder findet, ist nur das eine. Das andere ist die Magie, die sie über alle Dinge breitet, ist jenes Sommerlicht, in das sie das ferne Dorf taucht; als wären sie in einem ewigen Mittag gebannt, verharren die Dinge reglos, und noch die Versager, Trinker, Gescheiterten ragen zu einer mythischen Größe empor, in der sie für immer unvergessen bleiben.
Der „Kriegsheimkehrer” etwa ist ein alter Mann, der am Ende einer baumlosen Straße, fast schon in der Einöde haust. Dort war „an diesen heißen Sommertagen die Luft erfüllt von einem eintönigen Surren, sie vibrierte wie eine Starkstromleitung.” Wie er in schroff verfügter Einsamkeit für sich lebte, mit einem Hund als einzigem Gefährten, beschäftigte er natürlich die Kinder, die sich vor ihm fürchteten, ihm aber auch übernatürliche Kräfte zusprachen. In der Nacht, da er sich erhängte, von den Gespenstern seiner Kriegsvergangenheit gejagt, zog ein gewaltiger Sturm über das Land, und es heißt, „Frauen und Männer, Kinder und Engel, Rehe und Störche, Bäume und Blumen seien von nie zuvor gesehenen Blitzen getroffen worden.”
In ihrem ersten Buch erschafft Marica Bodrozic eine lockende, bedrohliche Welt, sie errichtet sie aus der Erinnerung, indem sie die Gestalten, die durch ihre Kindheit zogen, mitsamt ihren Geschichten, Habseligkeiten, Träumen noch einmal heraufbeschwört. Der Schrecken und die Schönheit sind da nahe beisammen, die Idylle ist immer bedroht, kann vom einen Satz zum anderen umschlagen. Die besten ihrer 24 Erzählungen weiß Marica Bodrozic kunstvoll in der Schwebe zu halten. Sie verrät das Mädchen, das sie damals war, nicht an die Erwachsene, die sie heute ist; aber sie tut auch nicht so, als wäre sie heute jener kindlichen Naivität fähig, die sich als reine Unmittelbarkeit des Beschreibens erweisen müsste. Nein, die sinnliche Prägnanz, mit der sie das Erstaunen wie das Erschaudern, die Freude wie die Angst des Kindes in Bilder und Worte fasst, ist das Ergebnis sprachlicher Arbeit.
Auf dem Bildschirm
Mit der Kunst der Erinnerung ist es literarisch eine heikle Sache: der eine weiß zu viel, der andere tut, als wüsste er von gar nichts. Marica Bodrozic hingegen sucht die Balance zu wahren, und wenn es ihr gelingt, dann entstehen bezaubernde Miniaturen wie die vom Großvater: der hatte Tito verehrt, weil er seiner eigenen Existenz so etwas wie einen geschichtlichen Sinn gegeben hatte – die Befreiung von den Okkupanten und Jugoslawien, das Reich vieler Völker. Jetzt ist Tito gestorben, und der Großvater wird vor den Fernseher gesetzt und kann nicht begreifen, „weshalb ein Mensch, der doch soeben gestorben war und den man bereits unter die Erde gelegt hatte, auf dem Bildschirm hin- und herlaufen konnte.”
KARL-MARKUS GAUSS
MARICA BODROZIC: Tito ist tot. Erzählungen. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2002. 154 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein ewiger Mittag: In „Tito ist tot” erzählt Marika Bodrozic von der Kindheit und dem Sommer
Andere in ihrem Alter schreiben ja gerne über die Einsamkeit in Manhattan, die Mädchenhändler von Bangkog oder diesen sensationellen Blick auf die flimmernde Sahara. Es müssen immer die größten Städte, die verkommensten Reviere oder die heißesten Wüsten sein, sonst ist ihnen der Schauplatz, die Kulisse für die Verfilmung, an der sich die Literatur heute orientiert, nicht spektakulär genug. Die 1973 geborene, seit ihrem zehnten Jahr in Deutschland lebende Marica Bodrozic hält es anders: Ihre Geschichten spielen in einem namenlosen Dorf in Dalmatien, einem Nest in der Provinz, und die Helden, die diese wundersame Welt der Kindheit bevölkern, heißen Großvater, Onkel Joseph, Tante Morgenrot, die Schlangentöterin, die Fischersfrau. Oder Katarina Jadovna.
Auf den Klippen
Katarina hatte im Ausland einen Mann aus dem Dorfe kennengelernt und geheiratet; weil er noch ein paar Jahre Geld verdienen musste, irgendwo im Norden, um irgendwann in der Heimat sein eigenes Haus bauen zu können, hat er seine Frau alleine ins Dorf voraus geschickt. „Es war nicht üblich, die Frau ohne den Bräutigam ins Haus der Eltern zu schicken. Es gehörte sich nicht und war schlicht gottlos.” Alleine gekommen, bleibt sie im Dorf eine Fremde, von undurchdringlichem Schweigen umgeben, so tüchtig sie im Wald und auf den Feldern auch arbeiten mochte. Da die Wirklichkeit ein Märchen und voller Wunder ist, aber oft auch von einem unerbittlichen Schicksal zeugt, kam es, „wie es kommen musste”: der Mann stirbt im Ausland, ohne seine Heimat wiederzusehen. Die Kinder bleiben ungezeugt, das Haus wird nicht erbaut, und Katarina verlässt mit ihren zwei Koffern die feindseligen Schwiegereltern, denen sie keine Enkel schenkte. Vorher aber geht sie auf die Klippen und streut die Hochzeitsbilder, hoch über dem Meer, in den Wind.
Natürlich, das ist eine Gastarbeitergeschichte, die auf wenigen Seiten von Hoffnungen und Lebensplänen erzählt, wie sie vielen zunichte werden. Aber die soziale Kritik, für die Marica Bodrozic einprägsame Bilder findet, ist nur das eine. Das andere ist die Magie, die sie über alle Dinge breitet, ist jenes Sommerlicht, in das sie das ferne Dorf taucht; als wären sie in einem ewigen Mittag gebannt, verharren die Dinge reglos, und noch die Versager, Trinker, Gescheiterten ragen zu einer mythischen Größe empor, in der sie für immer unvergessen bleiben.
Der „Kriegsheimkehrer” etwa ist ein alter Mann, der am Ende einer baumlosen Straße, fast schon in der Einöde haust. Dort war „an diesen heißen Sommertagen die Luft erfüllt von einem eintönigen Surren, sie vibrierte wie eine Starkstromleitung.” Wie er in schroff verfügter Einsamkeit für sich lebte, mit einem Hund als einzigem Gefährten, beschäftigte er natürlich die Kinder, die sich vor ihm fürchteten, ihm aber auch übernatürliche Kräfte zusprachen. In der Nacht, da er sich erhängte, von den Gespenstern seiner Kriegsvergangenheit gejagt, zog ein gewaltiger Sturm über das Land, und es heißt, „Frauen und Männer, Kinder und Engel, Rehe und Störche, Bäume und Blumen seien von nie zuvor gesehenen Blitzen getroffen worden.”
In ihrem ersten Buch erschafft Marica Bodrozic eine lockende, bedrohliche Welt, sie errichtet sie aus der Erinnerung, indem sie die Gestalten, die durch ihre Kindheit zogen, mitsamt ihren Geschichten, Habseligkeiten, Träumen noch einmal heraufbeschwört. Der Schrecken und die Schönheit sind da nahe beisammen, die Idylle ist immer bedroht, kann vom einen Satz zum anderen umschlagen. Die besten ihrer 24 Erzählungen weiß Marica Bodrozic kunstvoll in der Schwebe zu halten. Sie verrät das Mädchen, das sie damals war, nicht an die Erwachsene, die sie heute ist; aber sie tut auch nicht so, als wäre sie heute jener kindlichen Naivität fähig, die sich als reine Unmittelbarkeit des Beschreibens erweisen müsste. Nein, die sinnliche Prägnanz, mit der sie das Erstaunen wie das Erschaudern, die Freude wie die Angst des Kindes in Bilder und Worte fasst, ist das Ergebnis sprachlicher Arbeit.
Auf dem Bildschirm
Mit der Kunst der Erinnerung ist es literarisch eine heikle Sache: der eine weiß zu viel, der andere tut, als wüsste er von gar nichts. Marica Bodrozic hingegen sucht die Balance zu wahren, und wenn es ihr gelingt, dann entstehen bezaubernde Miniaturen wie die vom Großvater: der hatte Tito verehrt, weil er seiner eigenen Existenz so etwas wie einen geschichtlichen Sinn gegeben hatte – die Befreiung von den Okkupanten und Jugoslawien, das Reich vieler Völker. Jetzt ist Tito gestorben, und der Großvater wird vor den Fernseher gesetzt und kann nicht begreifen, „weshalb ein Mensch, der doch soeben gestorben war und den man bereits unter die Erde gelegt hatte, auf dem Bildschirm hin- und herlaufen konnte.”
KARL-MARKUS GAUSS
MARICA BODROZIC: Tito ist tot. Erzählungen. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2002. 154 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2002Die Welt in Tüten
Tito, Tante Morgenrot und ich: Marica Bodrozic sucht das verschollene Jugoslawien und findet einen langen Kindersommer
Als Tito stirbt, kehrt die Zeit in das dalmatinische Dorf zurück. Was vorher das träge Tableau einer bruchlos verfließenden Nachkriegsära war, erhält nun einen Einschnitt: Nicht nur in der Erinnerung des Mädchens, das die Aufregung der Erwachsenen, die Gedenkfeier in der Schule und das geänderte Fernsehprogramm registriert, sondern auch im Bewußtsein des Großvaters, bei dem das Mädchen lebt. Titos Tod ist Anlaß für die Erinnerung an die Kriegszeit und deutet gleichzeitig auf den blutigen Zerfall Jugoslawiens voraus, und in der Gestalt des Großvaters, der gründlich aus der Zeit gefallen war, mischen sich die beiden Ebenen auf besondere bedrückende Weise. Noch härter trifft es die alte Desanka, als sie später erleben muß, wie die Männer des Dorfes neuerlich mit den Gewehren in den Wäldern verschwinden: "Im Grunde war es für Desanka die beste Zeit, verrückt zu werden."
Wie Marica Bodrozic in ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Tito ist tot" das Dorf und seine Bewohner zumeist aus der Perspektive eines Kindes im Grundschulalter abbildet, ist eine kleine Sensation: So intensiv, detailgenau und aufregend, so gelassen und völlig auf die eigenen erzählerischen Mittel vertrauend, so irritierend eigenständig betritt nicht häufig ein Autor die literarische Bühne. Den beiden Gefahren, die sich oft bei der ländlichen Literatur einstellen, entgeht sie mit Leichtigkeit: Weder bemüht sie sich, im Mikrokosmos des Dorfes die große Welt zu spiegeln, noch verliert sie sich in der folgenlosen Beschreibung von Grashalm und Ameise. Stattdessen nähert sie sich in den vierundzwanzig kurzen Texten dieses Bandes einer geschlossenen Welt an, indem sie jeweils einzelne Ereignisse, Themen oder Figuren zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion des spezifisch kindlichen Bewußtseins nimmt. So ist Titos Tod am 4. Mai 1980 das einzige konkrete Datum, das sich in den Erzählungen des Bandes erschließen läßt. Alles andere ist im Ungefähr eines ausgedehnten Kindersommers belassen, an dem als zentrale Gestalt der Großvater und die wenigen im Dorf gebliebenen Frauen teilhaben, kaum aber mal einer der erwachsenen Männer: Die meisten von ihnen arbeiten wie Joseph, der bewunderte Onkel der Erzählerin, als Gastarbeiter in Deutschland. Wenn sie für einige Wochen zu Besuch kommen, bringen sie die Welt in Plastiktüten ins Dorf, mischen Beton für den Hausbau und arbeiten für ein Leben, an dem sie längst keinen Anteil mehr haben.
Marica Bodrozic, 1973 in Jugoslawien geboren, zog als Zehnjährige mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihre auf deutsch entstandenen Erzählungen sind von diesem Verhältnis zur neu gelernten Sprache geprägt. In einem Text heißt es: "Wir waren in ein Land gezogen, dessen Sprache ich noch nicht sprach, die mich aber eigenartig umspülte, als schwömme ich in ihr wie in einem Bassin voller wundersamer Töne". Die Freude der Autorin am Klang der Worte teilt sich auf jeder Seite mit, und manchmal ist da auch etwas zuviel des Guten. Doch meistens sind ihre Miniaturen kontrolliert gearbeitet. In den besten Texten des Bandes ergibt sich aus dem Zusammenspiel von ungewöhnlichen Formulierungen und einem Erzählstil, der eher zur Verknappung neigt, eine Fülle von außerordentlich suggestiven Bildern. Zudem eröffnet die manchmal gekonnt sperrige, den Lesefluß hemmende Sprache den Raum für Bodrozics wichtigstes Thema: Die Frage nach den Alternativen zu dem Leben, das man lebt.
Da ist etwa "Meine Tante Morgenrot", ein Glanzstück des Bandes, das Porträt einer Frau, die unter dem Eindruck des Todes ihrer beiden erwachsenen Kinder in ein rauschhaftes unaufhörliches Wehklagen verfällt - die jungverheiratete Ivana ist eines Nachts ohne ein Vorzeichen im Bett gestorben, der ängstliche Marjan, der sich "immerzu wegwünschte" und schließlich nur noch als "verblassende Vorstellung von einer menschlichen Gestalt" existiert, ertrinkt im Fluß. Ihre Mutter, die Tante der Erzählerin, findet nach diesen Todesfällen zu keiner Sicherheit mehr zurück. Da sie überall ein drohendes Verhängnis ahnt, ist ihr nichts so verhaßt wie die Sorglosigkeit der anderen Dorfbewohner, vor allem der Kinder, denen sie, wenn sie vor ihrem Haus lachen und herumtoben "steinige Wörter hinterherruft", und die sie mit unstetem Blick verfolgt. Schließlich verläßt sie das Dorf auf Nimmerwiedersehen. In einem knappen Nachspiel aber beschreibt die Erzählerin das einzige Foto, das ihr von der Tante geblieben ist: "Sie hält mich im Arm". Ganz langsam geht eine Bewegung durch das Bild und läßt die Tante wie in einem Film verschwinden, ungreifbar auch in den handfesten Zeugnissen ihrer Existenz, und das Kind bleibt auf dem Foto zurück - ein Motiv, das der Autorin so wichtig ist, daß es in einem anderen Text erneut auftaucht. Die Erinnerung an das dalmatinische Dorf muß in der Sprache fixiert werden. Bodrozics Erzählungsband gelingt dies glänzend.
Marica Bodrozic: "Tito ist tot". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 154 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tito, Tante Morgenrot und ich: Marica Bodrozic sucht das verschollene Jugoslawien und findet einen langen Kindersommer
Als Tito stirbt, kehrt die Zeit in das dalmatinische Dorf zurück. Was vorher das träge Tableau einer bruchlos verfließenden Nachkriegsära war, erhält nun einen Einschnitt: Nicht nur in der Erinnerung des Mädchens, das die Aufregung der Erwachsenen, die Gedenkfeier in der Schule und das geänderte Fernsehprogramm registriert, sondern auch im Bewußtsein des Großvaters, bei dem das Mädchen lebt. Titos Tod ist Anlaß für die Erinnerung an die Kriegszeit und deutet gleichzeitig auf den blutigen Zerfall Jugoslawiens voraus, und in der Gestalt des Großvaters, der gründlich aus der Zeit gefallen war, mischen sich die beiden Ebenen auf besondere bedrückende Weise. Noch härter trifft es die alte Desanka, als sie später erleben muß, wie die Männer des Dorfes neuerlich mit den Gewehren in den Wäldern verschwinden: "Im Grunde war es für Desanka die beste Zeit, verrückt zu werden."
Wie Marica Bodrozic in ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Tito ist tot" das Dorf und seine Bewohner zumeist aus der Perspektive eines Kindes im Grundschulalter abbildet, ist eine kleine Sensation: So intensiv, detailgenau und aufregend, so gelassen und völlig auf die eigenen erzählerischen Mittel vertrauend, so irritierend eigenständig betritt nicht häufig ein Autor die literarische Bühne. Den beiden Gefahren, die sich oft bei der ländlichen Literatur einstellen, entgeht sie mit Leichtigkeit: Weder bemüht sie sich, im Mikrokosmos des Dorfes die große Welt zu spiegeln, noch verliert sie sich in der folgenlosen Beschreibung von Grashalm und Ameise. Stattdessen nähert sie sich in den vierundzwanzig kurzen Texten dieses Bandes einer geschlossenen Welt an, indem sie jeweils einzelne Ereignisse, Themen oder Figuren zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion des spezifisch kindlichen Bewußtseins nimmt. So ist Titos Tod am 4. Mai 1980 das einzige konkrete Datum, das sich in den Erzählungen des Bandes erschließen läßt. Alles andere ist im Ungefähr eines ausgedehnten Kindersommers belassen, an dem als zentrale Gestalt der Großvater und die wenigen im Dorf gebliebenen Frauen teilhaben, kaum aber mal einer der erwachsenen Männer: Die meisten von ihnen arbeiten wie Joseph, der bewunderte Onkel der Erzählerin, als Gastarbeiter in Deutschland. Wenn sie für einige Wochen zu Besuch kommen, bringen sie die Welt in Plastiktüten ins Dorf, mischen Beton für den Hausbau und arbeiten für ein Leben, an dem sie längst keinen Anteil mehr haben.
Marica Bodrozic, 1973 in Jugoslawien geboren, zog als Zehnjährige mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihre auf deutsch entstandenen Erzählungen sind von diesem Verhältnis zur neu gelernten Sprache geprägt. In einem Text heißt es: "Wir waren in ein Land gezogen, dessen Sprache ich noch nicht sprach, die mich aber eigenartig umspülte, als schwömme ich in ihr wie in einem Bassin voller wundersamer Töne". Die Freude der Autorin am Klang der Worte teilt sich auf jeder Seite mit, und manchmal ist da auch etwas zuviel des Guten. Doch meistens sind ihre Miniaturen kontrolliert gearbeitet. In den besten Texten des Bandes ergibt sich aus dem Zusammenspiel von ungewöhnlichen Formulierungen und einem Erzählstil, der eher zur Verknappung neigt, eine Fülle von außerordentlich suggestiven Bildern. Zudem eröffnet die manchmal gekonnt sperrige, den Lesefluß hemmende Sprache den Raum für Bodrozics wichtigstes Thema: Die Frage nach den Alternativen zu dem Leben, das man lebt.
Da ist etwa "Meine Tante Morgenrot", ein Glanzstück des Bandes, das Porträt einer Frau, die unter dem Eindruck des Todes ihrer beiden erwachsenen Kinder in ein rauschhaftes unaufhörliches Wehklagen verfällt - die jungverheiratete Ivana ist eines Nachts ohne ein Vorzeichen im Bett gestorben, der ängstliche Marjan, der sich "immerzu wegwünschte" und schließlich nur noch als "verblassende Vorstellung von einer menschlichen Gestalt" existiert, ertrinkt im Fluß. Ihre Mutter, die Tante der Erzählerin, findet nach diesen Todesfällen zu keiner Sicherheit mehr zurück. Da sie überall ein drohendes Verhängnis ahnt, ist ihr nichts so verhaßt wie die Sorglosigkeit der anderen Dorfbewohner, vor allem der Kinder, denen sie, wenn sie vor ihrem Haus lachen und herumtoben "steinige Wörter hinterherruft", und die sie mit unstetem Blick verfolgt. Schließlich verläßt sie das Dorf auf Nimmerwiedersehen. In einem knappen Nachspiel aber beschreibt die Erzählerin das einzige Foto, das ihr von der Tante geblieben ist: "Sie hält mich im Arm". Ganz langsam geht eine Bewegung durch das Bild und läßt die Tante wie in einem Film verschwinden, ungreifbar auch in den handfesten Zeugnissen ihrer Existenz, und das Kind bleibt auf dem Foto zurück - ein Motiv, das der Autorin so wichtig ist, daß es in einem anderen Text erneut auftaucht. Die Erinnerung an das dalmatinische Dorf muß in der Sprache fixiert werden. Bodrozics Erzählungsband gelingt dies glänzend.
Marica Bodrozic: "Tito ist tot". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 154 S., geb., 18,- [Euro].
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"Dieses Debüt ist großartig. Weil Bodrozic knapp und lyrisch erzählt, Erinnerungsbruchstücke zu einem Bild zusammenfügt und Vergangenes für die Gegenwart rettet." (KulturSPIEGEL)
"So intensiv, detailgenau und aufregend, so gelassen und völlig auf die eigenen erzählerischen Mittel vertrauend, so irritierend eigenständig betritt nicht häufig ein Autor die literarische Bühne." (FAZ)
"So intensiv, detailgenau und aufregend, so gelassen und völlig auf die eigenen erzählerischen Mittel vertrauend, so irritierend eigenständig betritt nicht häufig ein Autor die literarische Bühne." (FAZ)