In unserer Kultur kommen Bilder von älteren Transsexuellen so gut wie nicht vor unddie wenigen vorhandenen sind meist eindimensionale Darstellungen. Die FotografinJess T. Dugan und die Sozialarbeiterin Vanessa Fabbre sind über fünf Jahre hinwegdurch die USA gereist, um in ihrem einzigartigen Buch To Survive on This Shore: Photographsand Interviews with Transgender and Gender Nonconforming Older Adultsein facettenreiches Bild dieser gesellschaftlichen Gruppe zu entwerfen. Sie haben vielfältigeLebensgeschichten aufgezeichnet, die sich mit komplexen Themen wie Identität,Alter, Rasse und sozio-ökonomischen Klassen auseinandersetzen. Die Interviewsumspannen die letzten 90 Jahre von Erfahrungen transsexueller Identität in den USAund bieten einen wertvollen Einblick in die Geschichte und den Aktivismus diesergesellschaftlichen Gruppe.Das Buch zeichnet die Kämpfe und Freuden einer älter werdenden Generation auf undreflektiert darüber, was es bedeutet, trotz scheinbar unüberwindlicher Hindernisseauthentisch zu leben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.08.2019Das Leben als Asymptote
Nicht nur für junge Leute: Wie der Übergang von einem Geschlecht in ein anderes ganze Biografien
formt, erzählt ein umwerfender Band mit Bildern und Interviewprotokollen
VON JAN KEDVES
Würde ist schwer zu fassen, aber wer diesen Fotoband durchblättert, hat sie gesehen: würdevolle Menschen, die vieles durchgemacht haben, ohne sich unterkriegen zu lassen. Die Achtung, die ihnen gebührt, strahlen sie in ihren Blicken aus, in ihrer Haltung, auch in ihrer Garderobe. Beinahe oberflächlich erscheint es, sie unter dem Aspekt zusammenzubringen, den das Buch „To Survive On This Shore“ wählt: Sie leben in den USA, sind über 50 – und sie sind transgender oder „gender nonconforming“, wie man im Englischen sagt. Das deutsche Pendant „divers“ darf seit einigen Monaten in deutschen Pässen stehen, als dritte Geschlechtsoption neben weiblich und männlich.
Die Porträts werden ergänzt durch Protokolle, in denen die Menschen ihre Geschichten erzählen – wann sie spürten, dass sich das ihnen zugewiesene Geschlecht falsch anfühlte (meist in der frühen Kindheit) und wann sie den Mut fanden, den Prozess ihrer transition zu beginnen (häufig erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter). Joanne aus Long Island, New York, erzählt, sie habe sich ihren Kindern erst 14 Jahre nach dem Tod ihrer Frau anvertrauen können. Die Tochter reagierte mitfühlend, der Sohn genauso verschlossen wie sein Vater, den es ja nun aber nicht mehr gab, zumindest nicht als Mann. Der erste Gang vor die Haustür in Frauenkleidern: um zwei Uhr morgens zum Briefkasten, im Schutz der Nacht. Jetzt, mit 90, empfinde sie so viel Spaß und Freude wie nie zuvor in ihrem Leben, sagt Joanne.
Das Buch ist voll solcher intimster, ergreifender Einblicke. Fotografiert wurde es von Jess T. Dugan. Sie hat für Recherche und Interviews mit Vanessa Fabbre zusammengearbeitet, die an der Washington University in St. Louis Frauen-, Gender- und Sexualitätswissenschaften unterrichtet. Ihr Projekt kommt zur rechten Zeit. Denn auch wenn Transmenschen in den vergangenen Jahren medial präsenter wurden – man denke an den früheren Stabhochspringer Balian Buschbaum, an die Schauspielerin Laverne Cox oder die deutsche Popsängerin Kim Petras –, mag dabei der Eindruck entstanden sein, transgender oder divers zu sein sei etwas Neues, etwas für junge Menschen, für Stars, oder eine Modeerscheinung.
Wir waren schon immer da, halten die Porträtierten dagegen. Miss Major, 74, lebte 1969 in New York, wo sie sich an den Stonewall-Aufständen beteiligte: „Stonewall ist seit Jahren weißgewaschen worden“, sagt sie, selbst schwarz, in Anspielung auf das historische Zerrbild, dass damals vor allem weiße schwule Männer auf die Barrikaden gingen. „Was weiß man schon über die Transmädchen, die mitgemacht haben? Oder über die Transmänner?“
Freya, 51, aus Minneapolis, ist froh, dass ihre Frau zu ihr gehalten hat und dass ihr Rabbi offen und liberal ist. Ob man in seinem „richtigen“ Geschlecht ganz ankomme, sprich: ob die Transition irgendwann beendet sei – diese Frage beantwortet sie mathematisch: „Ich schätze, es ist wie mit dem asymptotischen Verlauf: Man kommt immer näher dran, aber doch nie ganz.“
Das Gefühl des Nie-ganz-Herankommens dürften auch Menschen kennen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren können, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Viele von ihnen arbeiten an ihrem geschlechtlichen Selbstbild – indem sie sich mit Fitnessprogrammen vom schmalen Lauch zum stählernen Eiweißvernichter trainieren, oder sich fragwürdigen „Butt lift“-Prozeduren unterwerfen, um ihren Po besonders feminin zu formen. Solches Streben nach Geschlechteridealen fällt aus irgendwelchen Gründen immer noch unter Normalität. Derweil werden Menschen, die für ihr Glück vielleicht auch eine Hormontherapie und einen Namenswechsel brauchen, weiter pathologisiert und diskriminiert. Wie ungerecht ist das?
Diese Frage wirft das Buch eher nebenbei auf, während die Porträtierten – sie sind Vietnam-Veteraninnen, Bodybuilder, Sozialarbeiterinnen, Musiker, Ärztinnen – darüber sprechen, dass sich eine Hormontherapie wie eine zweite Pubertät anfühlen könne. Oder wenn sie von Fragen des Alterns erzählen. Einige machen sich Sorgen um ihre Enkel, oder haben Angst, dass nach ihrem Tod doch noch etwas schiefgehen könne und sie mit ihrer alten, falschen Geschlechtszuschreibung begraben werden könnten. Die Wichtigkeit von Testamenten wird betont. Und was passiert, wenn man an Alzheimer erkrankt und vielleicht vergisst, dass man transgender ist? Zu welchen Komplikationen könnte das im Pflegeheim führen?
Traurig oder verzweifelt erscheint keiner der Porträtierten. Die meisten sind froh, den Schritt gegangen zu sein, und stolz. Sie beschäftigt der Wunsch, etwas an ihre Community zurückzugeben. Amy, 77, aus Seattle hat ihr Coming-out als Transfrau gewagt, nachdem ihre Frau an Krebs gestorben war und ihr Haus sich leer anfühlte. Also öffnete sie ihre Tür für andere, bedürftige Transfrauen. Über 30 von ihnen – jung, alt, mit verschiedensten Hintergründen – haben Zuflucht in Amys privatem Transheim gefunden. „Wir haben kein Obdachlosenproblem, sondern ein Gastfreundlichkeitsproblem“, sagt Amy über die amerikanische Gesellschaft. Es ist wirklich ein Buch zum Umarmen.
Jess T. Dugan, Vanessa Fabbre: To Survive On This Shore. Kehrer, Heidelberg 2018. 164 S., 45 Euro.
Die Arbeit am Selbstbild mit
Fitnessprogrammen fällt immer
noch unter Normalität. Warum?
Drei Paare aus Jess T. Dugans Bildband: Sue Zie, 51, und Cheryl, 55, aus Valrico, Florida (oben links),
Sky, 64, und Mike, 55, aus Palm Springs, Kalifornien (oben rechts), und Hank, 76, und Samm, 67 aus North Little Rock, Arkansas (unten).
Fotos: Jess T Dugan / Kehrer Verlag
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Nicht nur für junge Leute: Wie der Übergang von einem Geschlecht in ein anderes ganze Biografien
formt, erzählt ein umwerfender Band mit Bildern und Interviewprotokollen
VON JAN KEDVES
Würde ist schwer zu fassen, aber wer diesen Fotoband durchblättert, hat sie gesehen: würdevolle Menschen, die vieles durchgemacht haben, ohne sich unterkriegen zu lassen. Die Achtung, die ihnen gebührt, strahlen sie in ihren Blicken aus, in ihrer Haltung, auch in ihrer Garderobe. Beinahe oberflächlich erscheint es, sie unter dem Aspekt zusammenzubringen, den das Buch „To Survive On This Shore“ wählt: Sie leben in den USA, sind über 50 – und sie sind transgender oder „gender nonconforming“, wie man im Englischen sagt. Das deutsche Pendant „divers“ darf seit einigen Monaten in deutschen Pässen stehen, als dritte Geschlechtsoption neben weiblich und männlich.
Die Porträts werden ergänzt durch Protokolle, in denen die Menschen ihre Geschichten erzählen – wann sie spürten, dass sich das ihnen zugewiesene Geschlecht falsch anfühlte (meist in der frühen Kindheit) und wann sie den Mut fanden, den Prozess ihrer transition zu beginnen (häufig erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter). Joanne aus Long Island, New York, erzählt, sie habe sich ihren Kindern erst 14 Jahre nach dem Tod ihrer Frau anvertrauen können. Die Tochter reagierte mitfühlend, der Sohn genauso verschlossen wie sein Vater, den es ja nun aber nicht mehr gab, zumindest nicht als Mann. Der erste Gang vor die Haustür in Frauenkleidern: um zwei Uhr morgens zum Briefkasten, im Schutz der Nacht. Jetzt, mit 90, empfinde sie so viel Spaß und Freude wie nie zuvor in ihrem Leben, sagt Joanne.
Das Buch ist voll solcher intimster, ergreifender Einblicke. Fotografiert wurde es von Jess T. Dugan. Sie hat für Recherche und Interviews mit Vanessa Fabbre zusammengearbeitet, die an der Washington University in St. Louis Frauen-, Gender- und Sexualitätswissenschaften unterrichtet. Ihr Projekt kommt zur rechten Zeit. Denn auch wenn Transmenschen in den vergangenen Jahren medial präsenter wurden – man denke an den früheren Stabhochspringer Balian Buschbaum, an die Schauspielerin Laverne Cox oder die deutsche Popsängerin Kim Petras –, mag dabei der Eindruck entstanden sein, transgender oder divers zu sein sei etwas Neues, etwas für junge Menschen, für Stars, oder eine Modeerscheinung.
Wir waren schon immer da, halten die Porträtierten dagegen. Miss Major, 74, lebte 1969 in New York, wo sie sich an den Stonewall-Aufständen beteiligte: „Stonewall ist seit Jahren weißgewaschen worden“, sagt sie, selbst schwarz, in Anspielung auf das historische Zerrbild, dass damals vor allem weiße schwule Männer auf die Barrikaden gingen. „Was weiß man schon über die Transmädchen, die mitgemacht haben? Oder über die Transmänner?“
Freya, 51, aus Minneapolis, ist froh, dass ihre Frau zu ihr gehalten hat und dass ihr Rabbi offen und liberal ist. Ob man in seinem „richtigen“ Geschlecht ganz ankomme, sprich: ob die Transition irgendwann beendet sei – diese Frage beantwortet sie mathematisch: „Ich schätze, es ist wie mit dem asymptotischen Verlauf: Man kommt immer näher dran, aber doch nie ganz.“
Das Gefühl des Nie-ganz-Herankommens dürften auch Menschen kennen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren können, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Viele von ihnen arbeiten an ihrem geschlechtlichen Selbstbild – indem sie sich mit Fitnessprogrammen vom schmalen Lauch zum stählernen Eiweißvernichter trainieren, oder sich fragwürdigen „Butt lift“-Prozeduren unterwerfen, um ihren Po besonders feminin zu formen. Solches Streben nach Geschlechteridealen fällt aus irgendwelchen Gründen immer noch unter Normalität. Derweil werden Menschen, die für ihr Glück vielleicht auch eine Hormontherapie und einen Namenswechsel brauchen, weiter pathologisiert und diskriminiert. Wie ungerecht ist das?
Diese Frage wirft das Buch eher nebenbei auf, während die Porträtierten – sie sind Vietnam-Veteraninnen, Bodybuilder, Sozialarbeiterinnen, Musiker, Ärztinnen – darüber sprechen, dass sich eine Hormontherapie wie eine zweite Pubertät anfühlen könne. Oder wenn sie von Fragen des Alterns erzählen. Einige machen sich Sorgen um ihre Enkel, oder haben Angst, dass nach ihrem Tod doch noch etwas schiefgehen könne und sie mit ihrer alten, falschen Geschlechtszuschreibung begraben werden könnten. Die Wichtigkeit von Testamenten wird betont. Und was passiert, wenn man an Alzheimer erkrankt und vielleicht vergisst, dass man transgender ist? Zu welchen Komplikationen könnte das im Pflegeheim führen?
Traurig oder verzweifelt erscheint keiner der Porträtierten. Die meisten sind froh, den Schritt gegangen zu sein, und stolz. Sie beschäftigt der Wunsch, etwas an ihre Community zurückzugeben. Amy, 77, aus Seattle hat ihr Coming-out als Transfrau gewagt, nachdem ihre Frau an Krebs gestorben war und ihr Haus sich leer anfühlte. Also öffnete sie ihre Tür für andere, bedürftige Transfrauen. Über 30 von ihnen – jung, alt, mit verschiedensten Hintergründen – haben Zuflucht in Amys privatem Transheim gefunden. „Wir haben kein Obdachlosenproblem, sondern ein Gastfreundlichkeitsproblem“, sagt Amy über die amerikanische Gesellschaft. Es ist wirklich ein Buch zum Umarmen.
Jess T. Dugan, Vanessa Fabbre: To Survive On This Shore. Kehrer, Heidelberg 2018. 164 S., 45 Euro.
Die Arbeit am Selbstbild mit
Fitnessprogrammen fällt immer
noch unter Normalität. Warum?
Drei Paare aus Jess T. Dugans Bildband: Sue Zie, 51, und Cheryl, 55, aus Valrico, Florida (oben links),
Sky, 64, und Mike, 55, aus Palm Springs, Kalifornien (oben rechts), und Hank, 76, und Samm, 67 aus North Little Rock, Arkansas (unten).
Fotos: Jess T Dugan / Kehrer Verlag
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