Der Luftkrieg und der Kampf um die Erinnerung
Der Luftkrieg gehört zu den zentralen Erfahrungen der Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert. Noch heute wird der Streit über Schuld und Verbrechen hoch emotional geführt. Das Buch von Dietmar Süß zeigt erstmals im Vergleich, welche Folgen der Bombenkrieg für Deutschland und England hatte und auf welche Weise Diktatur und Demokratie die Militarisierung der Bevölkerung betrieben.
Mit dem Zweiten Weltkrieg radikalisierte sich der Luftkrieg zur massenhaften Zerstörung von Städten und Militäranlagen. Er verband technische Modernität mit staatlicher Disziplinierung. Sirenen bestimmten seit 1939 den Kriegsalltag der Bevölkerung und ihre Kriegsmoral galt beiden Nationen als gesellschaftlicher Kitt. Doch was war gemeint, wenn von "guter" oder "schlechter" Kriegsmoral, von "Gemeinschaft" und vom "Durchhalten" die Rede war?
Dietmar Süß untersucht den Umgang mit dem "Tod aus der Luft" und geht der Frage nach, wie beide Nationenden Einsatz von Massentötungswaffen ethisch, religiös und politisch legitimierten. Welche Rolle spielten dabei die christlichen Kirchen, die Themen Vergeltung und "gerechter Krieg"? Das Buch zeigt, wie sehr solche Fragen auch nach 1945 immer wieder Wunden aufrissen und wie die Erinnerung an den Bombenkrieg noch bis in unsere Gegenwart hineinragt.
Der Luftkrieg gehört zu den zentralen Erfahrungen der Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert. Noch heute wird der Streit über Schuld und Verbrechen hoch emotional geführt. Das Buch von Dietmar Süß zeigt erstmals im Vergleich, welche Folgen der Bombenkrieg für Deutschland und England hatte und auf welche Weise Diktatur und Demokratie die Militarisierung der Bevölkerung betrieben.
Mit dem Zweiten Weltkrieg radikalisierte sich der Luftkrieg zur massenhaften Zerstörung von Städten und Militäranlagen. Er verband technische Modernität mit staatlicher Disziplinierung. Sirenen bestimmten seit 1939 den Kriegsalltag der Bevölkerung und ihre Kriegsmoral galt beiden Nationen als gesellschaftlicher Kitt. Doch was war gemeint, wenn von "guter" oder "schlechter" Kriegsmoral, von "Gemeinschaft" und vom "Durchhalten" die Rede war?
Dietmar Süß untersucht den Umgang mit dem "Tod aus der Luft" und geht der Frage nach, wie beide Nationenden Einsatz von Massentötungswaffen ethisch, religiös und politisch legitimierten. Welche Rolle spielten dabei die christlichen Kirchen, die Themen Vergeltung und "gerechter Krieg"? Das Buch zeigt, wie sehr solche Fragen auch nach 1945 immer wieder Wunden aufrissen und wie die Erinnerung an den Bombenkrieg noch bis in unsere Gegenwart hineinragt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Eingebunkert und ausgebombt
Mit den Luftangriffen gegen Deutschland und England sollten die Zentren der modernen Gesellschaft und deren Selbstverständnis erschüttert werden.
Von Rolf-Dieter Müller
Der todbringende Einsatz von Flugzeugen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts traf vor allem die Soldaten und entschied über die meisten Schlachten. Doch starben in beiden Weltkriegen auch mehr als eine Million Zivilisten infolge von Luftangriffen, größtenteils in Mittel- und Westeuropa. Betroffen war hauptsächlich die Bevölkerung in den Großstädten. Deren Bedrohung und Zerstörung erschütterte das Selbstverständnis der westlichen Zivilisation so sehr, dass sich die von Kriegen geprägte Geschichte Europas nach 1945 schrittweise in Richtung einer zivilen Bürgergesellschaft entwickelte. Nach der Niederlegung der Stadtmauern im 19. Jahrhundert und der Schließung von Luftschutzbunkern Ende des 20. Jahrhunderts ist die europäische Stadt endlich frei von dem Albtraum, zum Ziel militärischer Angriffe zu werden.
Dietmar Süß ist es gelungen, für das bis heute immer wieder umstrittene Thema des strategischen Bombenkriegs neue Perspektiven zu eröffnen. Er setzt nicht die alten Schlachten der ehemaligen Kriegsgegner fort, nicht die zeitgenössischen Diskussionen um die Schuldfrage, um Moral, Kriegsvölkerrecht, Opferzahlen und militärische Aspekte. Der Autor beschränkt sich auch nicht auf das populistische Anprangern der Schrecken des Bombenkrieges und das Leiden der Opfer. Seine umfangreiche, auf einer breiten Quellenbasis angelegte Studie analysiert nüchtern und gut lesbar eine moderne Gewaltgeschichte.
Die "Kriegsmoral" der Bevölkerung ist seine wichtigste Erkenntniskategorie, der deutsch-britische Vergleich das Instrument, um über einen Systemvergleich die Annahme nationaler Sonderwege moderner Kriegsgesellschaften kritisch zu hinterfragen. Der Erste Weltkrieg erwies sich demnach als Testlauf für die Herausforderung der modernen Gesellschaft durch neue Formen der industriellen Kriegführung. Die deutschen Bombenangriffe auf London führten in Großbritannien zu einem Schock, der in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nachklang. Auf der einen Seite verbreiteten Luftkriegsvisionen Angst und Schrecken, was das politische System zu ausgedehnten Vorsorge- und Schutzmaßnahmen zwang, um in einem künftigen Krieg die "Moral" der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite förderten sie in Politik und Militär die Annahme, dass es möglich und notwendig sei, die eigene "Kriegsgesellschaft" zu stabilisieren und die des Feindes durch den Bombenkrieg zu erschüttern.
Für Großbritannien sei der Wandel von der Friedens- zur Kriegsgesellschaft im Jahre 1939 einschneidender gewesen als für den NS-Staat, der sich mit seiner kriegerischen Ideologie schon länger auf den Krieg als Gesellschaftszustand eingestellt hatte. Dennoch lässt sich erkennen, dass die britische Demokratie - anders als in der deutschen Führerdiktatur - die zentralen rechtlichen und administrativen Regeln gleich bei Kriegsbeginn, wenn auch widerwillig, akzeptierte und diese später nicht veränderte. Dagegen setzte der Krieg, den der Nationalsozialismus als Lebenselixier verstand, im Reich eine Spirale der Radikalisierung in Gang. Das Nebeneinander von bürokratischer Tradition und der Utopie einer rassistischen "Volksgemeinschaft" führte zu einem permanenten Ausnahmezustand und sich überlagernden Zuständigkeiten. Kurz: In Großbritannien blieb, bei aller Bereitschaft, sich auf den totalen Krieg einzustellen, ein Konsens darüber bestehen, was trotz des "Notstands" ausgeschlossen war.
Natürlich gab es im Gefolge des Luftkriegs viele Gemeinsamkeiten und ähnliche Lösungen. Im Kampf um das Vertrauen der Bevölkerung und die "Kriegsmoral" spielte die Repräsentanz der Politik eine große Rolle, ebenso die Propaganda, Gerüchte und Evakuierungen, schließlich auch die Parole der Vergeltung. Der Luftkrieg galt in beiden Ländern unter Experten als große Chance, bei dem späteren Wiederaufbau Vorstellungen von einer Stadt der Zukunft zu verwirklichen. Während es in England um die Beseitigung von Armut und Elend ging, stellte sich der NS-Planung die neue Stadt aber als "Heimat" und zugleich als Trutzburg vor. Dazu gehörten Plätze für den Massenaufmarsch ebenso wie Flaktürme und Bunkerfestungen: das Leben als dauernder Kriegszustand.
Beide Gesellschaften sahen in dem Mikrokosmos des Luftschutzbunkers den Vorboten einer neuen Gesellschaftsordnung. Hier verband sich die staatliche Sicherheitsgarantie mit dem Zwang zu Disziplin, Sauberkeit und Gehorsam. Die Lösungsstrategien waren offenbar nicht ausschließlich systemspezifisch angelegt, sondern ähnlich, wenngleich die repressiven Instrumente in England weniger stark ausgeprägt waren als in Deutschland. Die Verwandlung von Zivilbevölkerung in Soldaten der Heimatfront galt aber in beiden Ländern als Notwendigkeit. Das Maß dieser Transformation glaubten Experten in beiden Ländern mit wissenschaftlichem Anspruch messen zu können. Abweichendes Verhalten wurde schnell als pathologisch gedeutet, die "Gewöhnung" an den Schrecken galt als Ausdruck einer "gesunden" Persönlichkeit. Gemeinsamkeiten finden sich in Großbritannien wie in Deutschland bei ikonographischen Darstellungen, politischen Normierungen sowie bei männlichen und weiblichen Zuschreibungen.
Die "Erfindung" der Kriegsmoral, so meint Süß, sei kein Spezifikum von Diktatur oder Demokratie, kein nationaler Sonderweg, sondern das Ergebnis einer modernen Kriegsmobilisierung, die am Ende die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten aufhebt. Bei allen Ähnlichkeiten in der Krisenbewältigung dürften zentrale Unterschiede nicht übersehen werden. Trotz Reglementierung und Zensur blieben in Großbritannien öffentliche Räume wie das Parlament und die Presse, in denen die Regierung ihr Handeln legitimieren musste. Obwohl in England wachsender Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als Begleiterscheinung des Krieges nicht ausblieben, öffnete das - anders als im "Dritten Reich" - nicht sämtliche Schleusen, kam es nicht zu einer gewalttätigen Praxis und zum Ausschluss ganzer Gruppen aus dem staatlichen Sicherheitsnetz. Die Untersuchung der kommunalen Krisenbewältigung mit ihrer Gewalt und einer rassistischen Verteilungs- beziehungsweise Ausgrenzungspolitik bildet einen Hauptteil des Buches. Der Umgang mit den Toten des Luftkrieges bietet ein sehr spannendes Kapitel. Es berührte in beiden Ländern das sensible Verhältnis von Bürger und Staat. Süß macht deutlich, dass bei aller Ähnlichkeit der Problemwahrnehmung und der administrativen Instrumente die normativen Unterschiede doch erheblich gewesen sind, entsprechend auch die Trauerkulturen und Rituale. Den Kirchen kam hier eine besondere Rolle zu. Vertreter der anglikanischen Kirche nutzten die Spielräume zur Kritik an der eigenen Kriegführung. In Deutschland veränderten die kirchlichen Würdenträger ihre Deutung des Luftkriegs seit 1943 immer stärker hin zur Sprache der Apokalypse. Sie lieferten damit aber weiterhin ein religiöses Fundament der Kriegsmoral, Tröster an der Heimatfront und Propagandisten eines Durchhaltens, das den Nationalsozialismus nicht in Frage stellte.
Nach Kriegsende nahmen die Kirchen für sich in Anspruch, "Siegerinnen in Trümmern" zu sein, auf dem Weg zu einer Friedenstheologie. Sie vereinigte die Erfahrung des Bombenkriegs mit dem Postulat der Versöhnung. Mit der Begegnung in Coventry wollten deutsche und britische Christen einen Schlussstrich unter die kriegerische Vergangenheit ziehen. Es bedeutete Vergebung auf Augenhöhe, im Bewusstsein, dass der Zweite Weltkrieg nicht eine ausschließlich deutsche, sondern auch europäische Katastrophe gewesen ist, "in der sich alle Nationen von Gott abgewandt hatten". Im Schlusskapitel des wichtigen Buches zeigt sich noch einmal, wie sinnvoll der deutsch-britische Vergleich in einer Gewaltgeschichte des Bombenkriegs ist.
Dietmar Süß: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England.
Siedler Verlag, München 2011. 717 S., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit den Luftangriffen gegen Deutschland und England sollten die Zentren der modernen Gesellschaft und deren Selbstverständnis erschüttert werden.
Von Rolf-Dieter Müller
Der todbringende Einsatz von Flugzeugen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts traf vor allem die Soldaten und entschied über die meisten Schlachten. Doch starben in beiden Weltkriegen auch mehr als eine Million Zivilisten infolge von Luftangriffen, größtenteils in Mittel- und Westeuropa. Betroffen war hauptsächlich die Bevölkerung in den Großstädten. Deren Bedrohung und Zerstörung erschütterte das Selbstverständnis der westlichen Zivilisation so sehr, dass sich die von Kriegen geprägte Geschichte Europas nach 1945 schrittweise in Richtung einer zivilen Bürgergesellschaft entwickelte. Nach der Niederlegung der Stadtmauern im 19. Jahrhundert und der Schließung von Luftschutzbunkern Ende des 20. Jahrhunderts ist die europäische Stadt endlich frei von dem Albtraum, zum Ziel militärischer Angriffe zu werden.
Dietmar Süß ist es gelungen, für das bis heute immer wieder umstrittene Thema des strategischen Bombenkriegs neue Perspektiven zu eröffnen. Er setzt nicht die alten Schlachten der ehemaligen Kriegsgegner fort, nicht die zeitgenössischen Diskussionen um die Schuldfrage, um Moral, Kriegsvölkerrecht, Opferzahlen und militärische Aspekte. Der Autor beschränkt sich auch nicht auf das populistische Anprangern der Schrecken des Bombenkrieges und das Leiden der Opfer. Seine umfangreiche, auf einer breiten Quellenbasis angelegte Studie analysiert nüchtern und gut lesbar eine moderne Gewaltgeschichte.
Die "Kriegsmoral" der Bevölkerung ist seine wichtigste Erkenntniskategorie, der deutsch-britische Vergleich das Instrument, um über einen Systemvergleich die Annahme nationaler Sonderwege moderner Kriegsgesellschaften kritisch zu hinterfragen. Der Erste Weltkrieg erwies sich demnach als Testlauf für die Herausforderung der modernen Gesellschaft durch neue Formen der industriellen Kriegführung. Die deutschen Bombenangriffe auf London führten in Großbritannien zu einem Schock, der in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nachklang. Auf der einen Seite verbreiteten Luftkriegsvisionen Angst und Schrecken, was das politische System zu ausgedehnten Vorsorge- und Schutzmaßnahmen zwang, um in einem künftigen Krieg die "Moral" der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite förderten sie in Politik und Militär die Annahme, dass es möglich und notwendig sei, die eigene "Kriegsgesellschaft" zu stabilisieren und die des Feindes durch den Bombenkrieg zu erschüttern.
Für Großbritannien sei der Wandel von der Friedens- zur Kriegsgesellschaft im Jahre 1939 einschneidender gewesen als für den NS-Staat, der sich mit seiner kriegerischen Ideologie schon länger auf den Krieg als Gesellschaftszustand eingestellt hatte. Dennoch lässt sich erkennen, dass die britische Demokratie - anders als in der deutschen Führerdiktatur - die zentralen rechtlichen und administrativen Regeln gleich bei Kriegsbeginn, wenn auch widerwillig, akzeptierte und diese später nicht veränderte. Dagegen setzte der Krieg, den der Nationalsozialismus als Lebenselixier verstand, im Reich eine Spirale der Radikalisierung in Gang. Das Nebeneinander von bürokratischer Tradition und der Utopie einer rassistischen "Volksgemeinschaft" führte zu einem permanenten Ausnahmezustand und sich überlagernden Zuständigkeiten. Kurz: In Großbritannien blieb, bei aller Bereitschaft, sich auf den totalen Krieg einzustellen, ein Konsens darüber bestehen, was trotz des "Notstands" ausgeschlossen war.
Natürlich gab es im Gefolge des Luftkriegs viele Gemeinsamkeiten und ähnliche Lösungen. Im Kampf um das Vertrauen der Bevölkerung und die "Kriegsmoral" spielte die Repräsentanz der Politik eine große Rolle, ebenso die Propaganda, Gerüchte und Evakuierungen, schließlich auch die Parole der Vergeltung. Der Luftkrieg galt in beiden Ländern unter Experten als große Chance, bei dem späteren Wiederaufbau Vorstellungen von einer Stadt der Zukunft zu verwirklichen. Während es in England um die Beseitigung von Armut und Elend ging, stellte sich der NS-Planung die neue Stadt aber als "Heimat" und zugleich als Trutzburg vor. Dazu gehörten Plätze für den Massenaufmarsch ebenso wie Flaktürme und Bunkerfestungen: das Leben als dauernder Kriegszustand.
Beide Gesellschaften sahen in dem Mikrokosmos des Luftschutzbunkers den Vorboten einer neuen Gesellschaftsordnung. Hier verband sich die staatliche Sicherheitsgarantie mit dem Zwang zu Disziplin, Sauberkeit und Gehorsam. Die Lösungsstrategien waren offenbar nicht ausschließlich systemspezifisch angelegt, sondern ähnlich, wenngleich die repressiven Instrumente in England weniger stark ausgeprägt waren als in Deutschland. Die Verwandlung von Zivilbevölkerung in Soldaten der Heimatfront galt aber in beiden Ländern als Notwendigkeit. Das Maß dieser Transformation glaubten Experten in beiden Ländern mit wissenschaftlichem Anspruch messen zu können. Abweichendes Verhalten wurde schnell als pathologisch gedeutet, die "Gewöhnung" an den Schrecken galt als Ausdruck einer "gesunden" Persönlichkeit. Gemeinsamkeiten finden sich in Großbritannien wie in Deutschland bei ikonographischen Darstellungen, politischen Normierungen sowie bei männlichen und weiblichen Zuschreibungen.
Die "Erfindung" der Kriegsmoral, so meint Süß, sei kein Spezifikum von Diktatur oder Demokratie, kein nationaler Sonderweg, sondern das Ergebnis einer modernen Kriegsmobilisierung, die am Ende die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten aufhebt. Bei allen Ähnlichkeiten in der Krisenbewältigung dürften zentrale Unterschiede nicht übersehen werden. Trotz Reglementierung und Zensur blieben in Großbritannien öffentliche Räume wie das Parlament und die Presse, in denen die Regierung ihr Handeln legitimieren musste. Obwohl in England wachsender Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als Begleiterscheinung des Krieges nicht ausblieben, öffnete das - anders als im "Dritten Reich" - nicht sämtliche Schleusen, kam es nicht zu einer gewalttätigen Praxis und zum Ausschluss ganzer Gruppen aus dem staatlichen Sicherheitsnetz. Die Untersuchung der kommunalen Krisenbewältigung mit ihrer Gewalt und einer rassistischen Verteilungs- beziehungsweise Ausgrenzungspolitik bildet einen Hauptteil des Buches. Der Umgang mit den Toten des Luftkrieges bietet ein sehr spannendes Kapitel. Es berührte in beiden Ländern das sensible Verhältnis von Bürger und Staat. Süß macht deutlich, dass bei aller Ähnlichkeit der Problemwahrnehmung und der administrativen Instrumente die normativen Unterschiede doch erheblich gewesen sind, entsprechend auch die Trauerkulturen und Rituale. Den Kirchen kam hier eine besondere Rolle zu. Vertreter der anglikanischen Kirche nutzten die Spielräume zur Kritik an der eigenen Kriegführung. In Deutschland veränderten die kirchlichen Würdenträger ihre Deutung des Luftkriegs seit 1943 immer stärker hin zur Sprache der Apokalypse. Sie lieferten damit aber weiterhin ein religiöses Fundament der Kriegsmoral, Tröster an der Heimatfront und Propagandisten eines Durchhaltens, das den Nationalsozialismus nicht in Frage stellte.
Nach Kriegsende nahmen die Kirchen für sich in Anspruch, "Siegerinnen in Trümmern" zu sein, auf dem Weg zu einer Friedenstheologie. Sie vereinigte die Erfahrung des Bombenkriegs mit dem Postulat der Versöhnung. Mit der Begegnung in Coventry wollten deutsche und britische Christen einen Schlussstrich unter die kriegerische Vergangenheit ziehen. Es bedeutete Vergebung auf Augenhöhe, im Bewusstsein, dass der Zweite Weltkrieg nicht eine ausschließlich deutsche, sondern auch europäische Katastrophe gewesen ist, "in der sich alle Nationen von Gott abgewandt hatten". Im Schlusskapitel des wichtigen Buches zeigt sich noch einmal, wie sinnvoll der deutsch-britische Vergleich in einer Gewaltgeschichte des Bombenkriegs ist.
Dietmar Süß: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England.
Siedler Verlag, München 2011. 717 S., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine wirklich umfassende sozial- und kulturgeschichtliche Aufarbeitung des Luftkrieges." Kompass, 4/11
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Joachim Käppner begrüßt dieses Buch über den Luftkrieg in Deutschland und England, das der Historiker Dietmar Süß vorgelegt hat. Er liest das umfangreiche Werk als "erste Sozialgeschichte des Luftkriegs", welche die Erfahrungen beider Länder gegenüberstellt. Deutlich werden für ihn "verblüffende Parallelen" im Umgang mit den Bombardements, etwa in der Mobilisierung der Bürger oder der propandistischen Nutzung der Zerstörungen. Dabei betont Käppner, dass der Autor die Unterschied zwischen dem demokratischen Großbritannien und Nazideutschland nie verwischt. Entstanden ist für ihn ein reflektiertes, wissenschaftlich fundiertes und zugleich packendes Werk.
© Perlentaucher Medien GmbH
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