Der Schriftsteller Hans Lach ist verhaftet worden: Mordverdacht. Auf der Party in der Villa seines Verlegers, zu der er ganz gegen die Regeln geladen war, hatte er einen berühmten Kritiker angepöbelt und bedroht, nachdem dieser am selben Abend in der Fernsehsendung 'Sprechstunde' sein neues Buch böse verrissen hatte. Als am nächsten Morgen der gelbe Cashmere-Pullover des Kritikers blutgetränkt gefunden wird, fehlt zwar zunächst noch die Leiche (immerhin war in der Tatnacht ein halber Meter Neuschnee gefallen), aber Zweifel über den Mörder scheint niemand zu hegen. Lediglich Michael Landolf, ein in München lebender Historiker, spezialisiert auf Mystik, Kabbala, Alchemie und Rosenkreuzertum, schenkt den Vorwürfen gegen seinen Freund keinen Glauben.
Zwei Ermittlungsstränge laufen parallel. Kriminalhauptkommissar Wedekind will die Schuld Lachs beweisen, Landolf dessen Unschuld. Wedekind liest die Bücher des Verhafteten und zieht daraus seine Schlüsse; Landolf befragt Freunde, Kollege
Zwei Ermittlungsstränge laufen parallel. Kriminalhauptkommissar Wedekind will die Schuld Lachs beweisen, Landolf dessen Unschuld. Wedekind liest die Bücher des Verhafteten und zieht daraus seine Schlüsse; Landolf befragt Freunde, Kollege
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2002Ein antisemitischer Affektsturm
Wenn das Denken entgleist, führt der Haß die Feder: Über Martin Walsers umstrittenen Roman "Tod eines Kritikers" / Von Jan Philipp Reemtsma
In der öffentlichen Diskussion um Martin Walsers neuen Roman "Tod eines Kritikers" haben sich zwei Dinge vermischt, die es auseinanderzuhalten gilt. Einmal ist der Roman eine Phantasie über einen prominenten Literaturkritiker, der Züge - freilich karikaturhaft verzerrt - Marcel Reich-Ranickis trägt. Dieser, so heißt es im Roman, sei ermordet worden, und zwar von einem zuvor im Zuge einer Fernsehsendung verrissenen Autor. Er ist dann doch nicht ermordet worden. Marcel Reich-Ranicki und seine Frau haben das Warschauer Getto und anschließend in einem Versteck überlebt, wie, das hat er selbst in seiner Autobiographie geschildert. Einen Menschen, der einen Mordversuch überlebt hat - man kann hinzufügen: nicht nur durch Mut und Geschick, sondern auch mit sehr viel Glück -, zum Gegenstand einer veröffentlichten Mordphantasie zu machen, ist eine soziale Roheit, die das Werk, in dem das geschieht, von vornherein disqualifiziert, es mag ansonsten beschaffen sein, wie es will. Darum konnte man, auch ohne es zu lesen, allein aufgrund der Informationen, die der Autor selbst gab, zu dem Urteil kommen, dies Buch sei eine literarische Barbarei.
Auf den Vorwurf Frank Schirrmachers, der "Tod eines Kritikers" sei antisemitisch, hat Martin Walser empört geantwortet, wenn Schirrmacher dieses und jenes Attribut, das er, Walser, seiner "André Ehrl-König" genannten Zentralfigur mitgegeben habe, für typisch jüdisch halte, sei doch wohl er, Schirrmacher, der Antisemit. Wie kann ein - seine Essays beweisen es doch - im Denken nicht ungeübter Autor etwas so offensichtlich Unsinniges von sich geben? Folgte man Walser, wäre jeder, der eine "Stürmer"-Karikatur als antisemitisch identifiziert, selber ein Antisemit, weil er unterstellte, daß alle Juden krumme Nasen hätten. Wo das Denken so entgleist, sind, das lehrt die Lebenserfahrung, starke Emotionen am Werk, und man wird die Hypothese wagen können, daß sie auch im Buch ihren Ausdruck gefunden haben.
Aber bevor diese Hypothese überprüft werden soll, muß etwas Technisches geklärt werden. Walser hat klar gesagt, daß Reich-Ranicki Material zur Figur des Ehrl-König gegeben habe, aber die Figur sei darauf nicht reduzierbar - auch Joachim Kaiser hat das betont. Die Frage ist also: Verhält sich Ehrl-König zu Reich-Ranicki wie sich Thomas Manns Figur Naphta zu Georg Lukács verhält? Es ist richtig, daß Thomas Mann nicht nur in diesem Fall das Spiel mit Ähnlichkeiten exzessiv gespielt hat, auch zuweilen über das Maß des mitmenschlich Vertretbaren hinaus, aber der Unterschied ist eklatant. Er besteht nicht nur darin, daß der "Zauberberg" ein großes Kunstwerk ist und der "Tod eines Kritikers" nicht. Wer immer den "Zauberberg" liest und nicht weiß, daß Naphta physiognomische Züge von Georg Lukács trägt, dem fehlt nichts bei der Lektüre, und auch für den, der es weiß, tritt diese, tatsächlich nicht sonderlich wichtige, Information schnell in den Hintergrund. Das liegt daran, daß Naphta eine in sich stimmige und geschlossene Figur ist und daß alles, was an ihm sonderbar oder befremdlich auf den Leser wirken mag, zur Steigerung einer bedeutungsvollen Individualität dient.
Wer den "Tod eines Kritikers" liest, ohne die öffentliche Figur Reich-Ranickis zu kennen (und also seine Karikatur wiederzuerkennen), wird an der Figur Ehrl-Königs nichts weiter sehen können als einen zusammengeflickten Popanz jenseits aller Plausibilität. Für Naphta ist charakteristisch, daß sich, was immer zu seiner physischen wie intellektuellen Physiognomie als Material gedient haben mag, beim Lesen verliert und vom Text absorbiert wird. Für Ehrl-König ist charakteristisch, daß man diese Figur überhaupt nur dann versteht, wenn man einen zum Popanz gewordenen Reich-Ranicki stets vor Augen hat. Darum wirken alle übertriebenen, karikatur- oder farcenhaften Elemente und Attribute der Figur, als wären sie dem realen Reich-Ranicki zugehörig oder angehängt. Zugehörig wie der Hinweis, seine Sprache sei leicht parodierbar, und die Parodie der Sprache im Text selbst. Natürlich sagt Reich-Ranicki nicht "Literatür" und trägt auch keine gelben Pullover, aber wenn Walser seinen Ehrl-König so sprechen läßt und ihm einen gelben Pulli umhängt oder ihm am Ende das für ihn selbst, den Verfasser, charakteristische Kleidungsstück, einen "gewaltigen schwarzen Hut", aufsetzt, so wirkt das nicht wie ein Abweichen vom Vor-Bild, sondern wie ein ungeniertes Zurschaustellen der Freude darüber, diesen Popanz geschaffen zu haben und mit ihm anstellen zu können, was er will. Literatür, gelber Pulli, schwarzer Hut, Plateausohlen - und anderes mehr.
Die Figur des Ehrl-König lebt nicht aus sich und nicht aus der ästhetischen Stimmigkeit der Komposition, sondern nur aus ihrem Beleidigungs- und Skandalwert. Allerdings sieht man dem Buch "Tod eines Kritikers" an, daß es mehr wollte, daß es eine gewisse Komplexität intendierte. Ein Kritiker verschwindet, aus den zurückgebliebenen Spuren - ein gelber Pullover und Blut - schließt man auf einen Mord. Ein Autor gerät unter Verdacht, sein Freund, der Verfasser des Buches, will dessen Unschuld beweisen und befragt diejenigen, die Ehrl-König und Hans Lach vor der vermeintlichen Tat gesehen haben, und allerlei andere, die die Person des Kritikers gut kennen, nach dessen Persönlichkeit. Am Ende stellt sich heraus, daß der Verfasser des Buches der verdächtigte Schriftsteller (mit dem seltsam imperativischen Namen Hans Lach) selber ist, der nun ein Buch über den Vorgang schreibt und dazu eine Art Außenperspektive einnimmt.
Das Buch dreht sich um den Kritiker Ehrl-König, und er soll von allen Seiten beleuchtet werden, geschildert von denen, die ihn hassen, die ihn verachten, die ihn verehren. Das funktioniert nur nicht. Es funktioniert nicht, weil die Befragten mehr oder weniger alle dasselbe sagen und von ähnlichen Affekten getragen werden, nämlich denen des Autors. Das Grundanliegen Martin Walsers, Marcel Reich-Ranicki in absurder und bizarrer Gestalt mit höchstem Beleidigungswert in seinem Roman auftreten zu lassen, macht alle Bemühungen um eine annähernd komplexe Erzählstruktur zunichte. Es ist so, als umtanzten die Nebenfiguren den Popanz und behängten ihn unter den anfeuernden Rufen des Autors mit immer neuen, immer häßlicheren Versatzstücken. Welcher Art die sind, wird zu überprüfen sein.
Walsers Versagen, jene Komplexität zu schaffen, die er sichtlich intendiert hatte, hat etwas Irritierendes. Walser schreibt wie übermannt. Als verfüge er nicht über seinen Text, sondern als führen ihm plötzlich kaum mehr kontrollierte Affekte in die Feder und führten sie ihm. Der Leser ist Zeuge eines Kontrollverlustes, der - siehe oben - sich auch außerhalb des Textes fortsetzt. Folge dieses Kontrollverlusts ist die Unfähigkeit, die intendierte literarische Form zu schaffen. Materiellen Ausdruck verschafft sich diese Aufgeregtheit in der eigenartigen Obszönität des Buches, genauer gesagt (da es ja Obszönität von literarischem Rang gibt): in der stupenden Schmierigkeit der Walserschen Phantasien.
Es hilft nichts, hier muß aufgezählt werden. Ehrl-König wird vorgeführt, wie er auf penetrante Weise an einer jungen Schriftstellerin herumfingert. Sie heißt Cosima von Syrgenstein - die Namen wären ein Kapitel für sich - und wird natürlich des fan tutte wegen Cosi genannt. Später wird er mit ihr auf ein Schloß fahren und dort die Zeit, in der man ihn für ermordet hält, verbringen. Der Fernsehauftritt Ehrl-Königs wird geschildert "vom tröpfelnden Anfang bis zum prasselnden Ende", bis zum "Höhepunkt" respektive "Orgasmus", dem sich das Publikum "entgegenklatsche", "das sei ja auch jedes Mal die Tendenz der Ehrl-König-Selbstdarstellung. Er sinke dann zurück in seinen . . . Sessel", in dem er danach "kraftlos" und "fast erlöschend" spricht. Dieser Ehrl-König wird uns als ejakulierender Penis vorgeführt, bereits zu Beginn, und zwar von einem seiner Bewunderer, und wenn das dann später wie folgt daherkommt, dann kann der Verfasser sich nicht damit herausreden, das sei doch der Tonbandmitschnitt des Gesprächs zweier Betrunkener, der Schriftsteller Lach und Streiff, und als Rollenprosa zu relativieren. Denn in diesem Roman spricht immer nur eine Stimme: "Hans Lach: Seit dem Chaplindiktator hat noch keiner mehr so vor laufender Kamera rumgerudert und rumgebrüllt. Eine unbekannte Stimme: Jetzt reicht's dann. Wieder Hans Lach: Man müsste mit den Kameraleuten reden, dass sie ihm einmal mit dem Zoom aufs Mundwerk fahren, dass endlich mal das weiße Zeug, das ihm in den Mundwinkeln bleibt, groß herauskäme, der vertrocknete Schaum ... Scheißschaum, gellte Bernd Streiff, das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der deutschen Literatür aufgeilt." Worauf die "unbekannte Stimme" sagt: "Ich geh' jetzt."
Ich glaube nicht, daß das "Ich geh' jetzt" ein Trick ist, etwas wie eine eingebaute Scheindistanzierung. Es wirkt zu authentisch, so als redeten in einem Kopf mehrere Stimmen, und die Stimme, die die Selbstkontrolle repräsentiert, verabschiedet sich, und der Autor wundert sich in der Maske der ersten Person Singular über sich selbst. Wie heißt es im Buch: "Erzähler und Erzählter sind eins." Und: "Schriftsteller sind ununterbrochen (und ununterbrechbar) damit beschäftigt, ihr Alibi zu notieren. Diesmal fällt das Alibi aus." Der "Tod eines Kritikers" spricht sich deutlich aus, deutlicher sicherlich, als dem Verfasser lieb wäre, gewönne er Distanz zu seinem Buch und die Fassung wieder, die der Text verloren hat.
So aber sind es die Leser, die mit zunehmender Fassungslosigkeit aus solchen Passagen in die Phantasie geraten, die Hans Lach über die Zukunft der Literaturkritik verfaßt: "Die E-O-Kultur war da. Wie bitte, fragte sie. Ejakulation und Orgasmus." In dieser Kultur "wurden die Kritiker wichtiger als die Schreibenden". Die wichtigsten Kritiker sind die "Großen Vier", ein literarisches Quartett, dessen Teilnehmer der "Aal", der "Affe", die "Auster" und "Klitornostra" heißen und einen Preis verleihen, der "PRICK" heißt (englischer Slang-Ausdruck für Penis). - Und so geht es bei den Autoren und den Kritikern zu: "Auch Onanieren kam vor. Aber nur der erste, der vor laufender Kamera lesend onanierte und ejakulierte, bekam den Publikumspreis. Dann auch die erste Autorin, die das öffentlich hinkriegte. Der Affe ließ sich von dem onanierenden Autor fast hinreißen, selber Hand an sich zu legen. Oder tat doch so. Ebenso Klitornostra, als eine Autorin sich selber bediente." Ohnehin sind die vier nackt. "Der Aal" - der "unübertreffbare Meister" im Preisen und Verreißen - "ließ, während er litt oder jubilierte, sein Geschlechtsteil zoomen. Und was dann zu sehen war, war Wirkung der Literatur. So oder so."
Bei der Charakterisierung der Zentralfigur Ehrl-König geht es ohnehin vor allem um Penisfunktionen und -fehlfunktionen. So redet seine Frau über ihn: "Seine unbremsbare Ejakulation. Also, er ist die Nullbefriedigung schlechthin." Ehrl-König und einen seiner Exfreunde vereint eine folie à deux, die Behauptung, der jeweils andere verlasse den Raum, wenn von Prostata-Problemen die Rede sei. Seine sexuellen Vorlieben werden wie folgt geschildert: "Es hat sich nie um Frauen gehandelt, immer um Mädels. Oder auch um Mädelchen. Mädel oder Mädelchen, da hat er immer scharf unterschieden. Am liebsten waren ihm natürlich Mädelchen, aber wenn's keine gab, nahm er auch Mädels. Frauen findet er langweilig. Unzumutbar. Besonders deutsche. Weibliches plus Schicksal, zum Davonlaufen! Aber schicksallose, ihres Aufblühens noch nicht ganz sichere Mädels oder Mädelchen, dann wisse er, sagte er, wozu er zur Welt gekommen sei." An anderer Stelle erfahren wir, Ehrl-König habe eine Vorliebe für Schwangere bis zum dritten Monat.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß Walser neben dieser oben zitierten Phantasie über die Literaturkritik als perverse, lüsterne, aber letztlich zeugungsunfähige Sexualität einen Gegenentwurf etabliert. Hans Lach, der Autor, hat ein Verhältnis mit der schönen Witwe seines Verlegers, den Walser im Roman sterben läßt. Daß auch hier Ähnlichkeiten mit Lebenden nicht zufällig, sondern beabsichtigt sind, hat sich herumgesprochen, ich kümmere mich darum weiter nicht. Dieses Verhältnis mit der schönen Verlegerswitwe, die immer aussehe, als sei sie gerade vom Pferd gestiegen, wirkt wie der wet dream eines Gymnasiasten: "Unsere geschlechtliche Praxis verlief ganz unter ihrer Regie. Sie bezeichnete mich da als Entwicklungsland. Das war mir recht. Sie war eine Virtuosin, die verbergen konnte, dass sie eine war. .. . Sie tat alles, als tue sie's zum ersten Mal. Man wusste, dass das nicht sein konnte ... und ihr Körper war eine Art saturnisches Mirakel. Sie schien seit etwa ihrem vierzigsten Jahr keinen Tag älter geworden zu sein" - und so weiter. Diese adoleszenten Phantasien wären auch bei einem jüngeren Autor kaum erträglich. Wozu sie da sind, ist klar. Sie sollen eine Sphäre reiner Sexualität gegen eine der perversen abgrenzen. Aber wie anderswo auch, so hier: In der Verklärung der Reinheit offenbart sich die Lust am Schmutz.
Laut Walsers Auskunft soll sein Buch von der Macht im Literaturbetrieb handeln. Tatsächlich zeigt es die obszönen Phantasien eines Autors über einen mächtigen Literaturkritiker. Dieser Literaturkritiker ist, wie Marcel Reich-Ranicki, Jude. Bekanntlich gehört zum Kernbestand antisemitischer Stereotype das Bild vom geilen Juden, der Macht ausübt, die zu haben er nicht legitimiert ist - besonders im Kulturbetrieb. Er ist der Schuldige schlechthin an der Transformation der Kultur in den Betrieb, so wie Ehrl-König: "in der ganzen Literaturgeschichte habe keiner so viel Macht ausgeübt wie Ehrl-König, singen und sagen seine Chorknaben im DAS-Magazin." Aber er ist eben nicht die wirkliche Kultur, nur die "Operettenversion des jüdisch-christlichen Abendlandes". - Wenn der Verlegersgattin auf einer Auktion ein seltenes und wertvolles Buch, das letzte Exemplar, das noch auf dem Markt ist, weggeschnappt wird, so steckt hinter dem bietenden Strohmann ein gewisser Lessing Rosenwald. Und während der Jude Rosenwald sich heimlich die antiquarische Seite der europäischen Kultur aneignet, macht Ehrl-König die deutsche Gegenwartsliteratur hin, indem er Hans Lach verreißt, den amerikanischen Juden Philip Roth statt dessen preist. Er versteht nichts von deutscher Literatur, er versteht nur etwas vom Entertainment. "Er hat aus der Ästhetik eine Moral gemacht ... die Moral des Gefallens, des Vergnügens, der Unterhaltung. Die Pleasure-Moral." - "Er war die Macht und die Macht war er. Und wenn man wissen will, was Macht ist, dann schaue man ihn an: etwas Zusammengeschraubtes, eine Kulissenschieberei, etwas Hohles, Leeres, das nur durch seine Schädlichkeit besteht." Und: "er blieb im Giftigsein hängen". Denn er ist nicht produktiv, nicht einmal das, was er ist, ist er aus sich selbst.
Denn im Grunde ist Ehrl-König, der giftige Schädling, "weniger als ein Schemen"
Fortsetzung auf der folgenden Seite
und nur das Retortengeschöpf eines anderen, der ihm alles beigebracht haben soll - alles, das heißt "ein Repertoire von zwölf bis fünfzehn Sätzen ... dazu noch fünfzehn bis achtzehn Zitaten." Ohne diese Hintergrundfigur sei Ehrl-Königs Position im Literaturbetrieb nicht zu erklären, denn er sei als "ein Monsieur Nichts aus Lothringen in unser Land gekommen". Ehrl-König, Vorname André - fehlte der Akzent, wäre er der "Andre" -, ist Franzose. Reich-Ranicki, der ebenfalls einen französischen Vornamen trägt, ist aus Deutschland nach Polen deportiert worden, hat in Polen die deutsche Besatzung überlebt und ist nach Deutschland - "in unser Land" - auch nicht als der gekommen, der er heute ist. Die Insinuierung ist deutlich: Aus sich heraus schafft so einer das nicht, der eine nicht und nicht der andre. Aber was für einer ist "so einer"?
Walser vertauscht die Himmelsrichtungen. Ehrl-König kommt aus dem Westen, nicht aus dem Osten. Als Hans Lach, der vom Schädling schlecht Besprochene, ihn anschreit, ab null Uhr werde zurückgeschossen, wird die Geographie wieder klar. Ehrl-Königs Vater war Bankier, aber es kursiert auch das Gerücht, er sei ein Pferdehändler gewesen. Was man als Jude so ist: Pferdehändler, Bankier oder im Kulturbetrieb. Jedenfalls sei der Vater "eine schauderhafte Gestalt, klein, dicklich, große Ohren, die Mutter hat er, als sie siebzehn war, geschwängert", der Sohn sehe aus wie er: die Ohren, "der stets das überentwickelte Kinn überwölbende Wulstmund", die "so kräftige wie feine Nase". Kräftige Nase muß sein, aber wieso soll das eine antisemitische Karikatur sein, höre ich jemanden einwenden, da steht doch "feine Nase"? Ebendarum. Weil es auffällt, daß da etwas fehlt am Klischee, fällt es auf. Immer wenn Walser etwas verbergen will, zeigt er es überall herum.
Es gehört zum Diskurs des modernen Antisemitismus, Juden mit Nazis zu vergleichen. Die Erben der Täter entlasten sich, indem sie behaupten, die Erben der Opfer täten nichts anderes als jene. Walser hatte in der ersten, dieser Zeitung zum Abdruck angebotenen Fassung Ehrl-König mit Freisler und seine TV-Sendung mit der Reichsschrifttumskammer verglichen. Später, zu spät, hat ihm der Verlag wohl geraten, die beiden Stellen zu streichen. Aber der Drang zum Vergleich ist zu groß: statt Freisler ist es - siehe oben - der "Chaplindiktator", also gleich Hitler oder doch, pardon, natürlich nicht, sondern bloß dessen Parodie.
Auch nicht unbekannt ist die Attitüde des Aufbegehrens: "Man wird doch wohl noch Juden kritisieren dürfen!", wobei diese Phrase den Unterschied der Kritik an jemandem, der zufällig Jude ist, verwechselt mit der Kritik eines Menschen, weil er Jude ist oder durch mehr oder weniger versteckte Anspielung darauf, daß er Jude sei. Im Roman wird irgendwann der vermeintliche Mord als Mord an einem Juden diskutiert, und "erst jetzt hatten die Medien ihr Saisonthema gefunden". Er läßt einen Journalisten sagen: "Wenn Ehrl-König ermordet worden wäre, weil er Jude gewesen sei, hätten die anderen Recht. Aber es sei ja noch nicht einmal sicher, ob Ehrl-König Jude gewesen sei. Er wisse an Ehrl-König nichts so sehr zu schätzen wie dessen Zurückhaltung in der Herkunftsfrage." Auch das geht nach dem Muster "gelber Pulli" und "feine Nase". Reich-Ranicki, ohne dessen öffentliches Bild das Wider-Bild des Ehrl-König nicht auskommt, ist eben nicht "zurückhaltend in der Herkunftsfrage", und eines seiner Verdienste um die politische Kultur der Bundesrepublik liegt genau darin. Die Passage sagt: "Man wird doch wohl noch einen Juden ermorden dürfen!", wenn man sagt, daß man es aus anderen Gründen tut. Aber nein, es ist ja alles ein Mißverständnis, denn er ist ja gar nicht umgebracht worden, das paßt gar nicht zu ihm.
Umgebracht zu werden passe doch nicht zu Ehrl-König, läßt Walser dessen Frau am Ende sagen, und dies ist eine schlimme Anspielung - daß sie beabsichtigt ist, dürfte daraus ersichtlich sein, daß der vermeintliche Mord an einer Thomas-Mann-Allee stattfindet. Als der jüdische Schriftsteller Theodor Lessing, von Mann einst als "Schreckbeispiel schlechter jüdischer Rasse" geschmäht, 1933 in Marienbad von Nationalsozialisten ermordet wird, notiert dieser in sein Tagebuch: "Mir graust vor einem solchen Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir." Mit dieser Anspielung auf Thomas Mann jongliert Walser angesichts des von Nationalsozialisten beinahe ermordeten Reich-Ranicki.
Die Sache wird noch erheblich schlimmer. Vor einigen Jahren haben wir gelesen, daß Marcel Reich-Ranicki für den polnischen Geheimdienst gearbeitet hat. Die Transposition ins Westliche geht so: "Daß der Vater der Madame zuerst Privatsekretär Pétains und dann Geheimdienstchef des Vichy-Regimes gewesen sein soll, kann genauso in den Strauß der Gerüchte gehören wie das Gruselfaktum, Ehrl-König habe, um zu überleben, selber der Sureté zugearbeitet. Und: er habe zur Résistance gehört." Dies ist wirklich unerhört. Walser macht aus dem Überlebenden des Gettos den Klischee-Popanz des geilen, machthungrigen, aber in jeder Hinsicht impotenten, die deutsche Kultur ruinierenden Judenschädlings. Und er hängt der Karikatur dann noch das Gerücht an, entweder in der Résistance oder ein Nazi-Kollaborateur gewesen zu sein, der, um zu überleben, andere ausgeliefert habe. Reich-Ranicki war Übersetzer des "Judenrats", der das Warschauer Getto verwaltete.
Auf Frank Schirrmachers "Offenen Brief", mit dem er begründete, warum die Frankfurter Allgemeine den "Tod eines Kritikers" nicht vorabdrucken werde, sagte Walser, ein Buch, das so wäre, wie Schirrmacher das seine vorstelle, würde er nie schreiben - er sei doch nicht verrückt. Tatsächlich fragt man sich während der Lektüre in zunehmendem Maße, was für eine Art Text man hier vor sich hat. Auch Joachim Kaiser, der die antisemitischen Muster des Textes partout nicht wahrhaben oder wahrnehmen will und dabei Walsers Argument wiederholt, daß, wer dies tue, selbst Antisemit sei, ist ein wenig beunruhigt: "in der zweiten Hälfte des Textes entgleiten Walser manchmal gewisse Passagen ins Rauschhafte".
Wie über so vieles andere spricht sich der Roman selbst ganz unbefangen auch darüber aus. Als Hans Lach verhaftet wird, steht er zunächst unter Schock, dann gesteht er den Mord, und zwar in einem Zustand, den der Arzt so beschreibt: "ein kleines bisschen psychotisch dekompensiert". Eine Dekompensation ist die Überwältigung durch Affekte, ausgelöst von einem plötzlichen Kontrollverlust des seelischen Apparates. Die überbordenden Sexualphantasien, das unbefangene Umgehen mit antisemitischen Topoi, die Unfähigkeit, die intendierte Differenziertheit der formalen Komposition auch zu erreichen - all das zeigt, daß hier im Text - ich spreche nota bene über den Text - etwas geschieht, das mit diesem klinischen Ausdruck zu Recht bezeichnet werden kann.
"Schizophren werde man", läßt Walser seinen Lach sagen, "wenn die andern einem anders begegneten, als sie dächten. Insgeheim redet man über einen wie über einen Wahnsinnigen, ins Gesicht hinein tut man so, als hielte man einen für normal. Da unsereins beides wahrnimmt, ist eine Verwirrung die Folge, eine nichts verschonende Desorientierung." Walsers Lach ist jemand, der zunächst habe damit rechnen können, von Ehrl-König positiv besprochen zu werden, sei dann aber schlimmer verrissen worden denn je. Walser läßt hier seinen Hans Lach das erleben, was er selber erlebt hat. Reich-Ranickis Walser-Kritiken fielen ja darum besonders gewichtig aus, weil sie stets ein bestimmtes Muster aufwiesen: "Große Begabung, großes Scheitern", bringt es Gustav Seibt in der SZ auf den Nenner, und: "Die regelmäßig konstatierte Fallhöhe erlaubte es dem Kritiker, diesen Autor immer besonders tief fallen zu lassen und besonders hart aufschlagen zu lassen." Wie sehr Walser seinen Lach mit sich selbst identifiziert, zeigt er daran, daß Ehrl-König im selben Atem, mit dem er Lach schmäht, Philip Roth lobt - wie in der Wirklichkeit geschehen, als anläßlich der Besprechung von "Jenseits der Liebe" Reich-Ranicki Walser und Philip Roth gegeneinanderstellte.
Vielleicht muß man es sich so erklären: Walser, dessen Kritik-Empfindlichkeit sein Freund Joachim Kaiser als "fast pathologisch" empfindet, hat sich eine Romanwelt geschaffen, in der er sich erlaubt hat, seinem - ich zitiere noch einmal Kaiser - "wilden, vielleicht sogar mordlustigen Haß" freien Lauf zu lassen. Das, was seinem durch die Kritik verletzten und zwischenzeitlich verrückt gewordenen Hans Lach widerfährt, widerfährt Walser auf dem Papier. Er erlebt schreibend jene Dekompensation, die seiner Romanfigur von ihrem Arzt zugeschrieben wird. Die persönliche Verletzung gerät Walser zur Zerstörung der deutschen Literatur durch den mächtigen jüdischen Schädling, die Phantasien laufen Amok. Kein untypisches Muster. Der Antisemitismus ist als Weltdeutungsmuster latent vorhanden; die Rage, in die einer gerät, wird zum antisemitischen Affektsturm. Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" ist die Folge einer durch Autosuggestion entstandenen Verstörung.
"Erlkönig" war in dem Roman "Ohne einander" der Spitzname des dort auftretenden Kritikers Willi André König gewesen, anspielend auf "in seinen Armen das Kind war tot"; das Kind: die deutsche Literatur. Der Spitzname ist nun zum Namen geworden. Ich glaube, er signalisiert vor allem eines: "Ehrl-König hat mir ein Leids getan". Das ist wohl so. Aber es entschuldigt nichts. - Es erklärt auch wenig. Denn jemand entwickelt ja nicht darum antisemitische Affekte, weil er sich von einem Juden gekränkt fühlt, sondern um sich den Kränkenden als kränkenden Juden zu imaginieren, muß ein antisemitisches Deutungsmuster schon vorhanden gewesen sein.
Ist Walser darum ein Antisemit? Er ist niemand, dessen bisheriges Werk durch antisemitische Topoi geprägt wäre. Aber er ist jemand, der Roman belegt es, der ein antisemitisches Buch geschrieben hat.
Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma ist Gründer und Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Martin Walser: "Tod eines Kritikers". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 220 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn das Denken entgleist, führt der Haß die Feder: Über Martin Walsers umstrittenen Roman "Tod eines Kritikers" / Von Jan Philipp Reemtsma
In der öffentlichen Diskussion um Martin Walsers neuen Roman "Tod eines Kritikers" haben sich zwei Dinge vermischt, die es auseinanderzuhalten gilt. Einmal ist der Roman eine Phantasie über einen prominenten Literaturkritiker, der Züge - freilich karikaturhaft verzerrt - Marcel Reich-Ranickis trägt. Dieser, so heißt es im Roman, sei ermordet worden, und zwar von einem zuvor im Zuge einer Fernsehsendung verrissenen Autor. Er ist dann doch nicht ermordet worden. Marcel Reich-Ranicki und seine Frau haben das Warschauer Getto und anschließend in einem Versteck überlebt, wie, das hat er selbst in seiner Autobiographie geschildert. Einen Menschen, der einen Mordversuch überlebt hat - man kann hinzufügen: nicht nur durch Mut und Geschick, sondern auch mit sehr viel Glück -, zum Gegenstand einer veröffentlichten Mordphantasie zu machen, ist eine soziale Roheit, die das Werk, in dem das geschieht, von vornherein disqualifiziert, es mag ansonsten beschaffen sein, wie es will. Darum konnte man, auch ohne es zu lesen, allein aufgrund der Informationen, die der Autor selbst gab, zu dem Urteil kommen, dies Buch sei eine literarische Barbarei.
Auf den Vorwurf Frank Schirrmachers, der "Tod eines Kritikers" sei antisemitisch, hat Martin Walser empört geantwortet, wenn Schirrmacher dieses und jenes Attribut, das er, Walser, seiner "André Ehrl-König" genannten Zentralfigur mitgegeben habe, für typisch jüdisch halte, sei doch wohl er, Schirrmacher, der Antisemit. Wie kann ein - seine Essays beweisen es doch - im Denken nicht ungeübter Autor etwas so offensichtlich Unsinniges von sich geben? Folgte man Walser, wäre jeder, der eine "Stürmer"-Karikatur als antisemitisch identifiziert, selber ein Antisemit, weil er unterstellte, daß alle Juden krumme Nasen hätten. Wo das Denken so entgleist, sind, das lehrt die Lebenserfahrung, starke Emotionen am Werk, und man wird die Hypothese wagen können, daß sie auch im Buch ihren Ausdruck gefunden haben.
Aber bevor diese Hypothese überprüft werden soll, muß etwas Technisches geklärt werden. Walser hat klar gesagt, daß Reich-Ranicki Material zur Figur des Ehrl-König gegeben habe, aber die Figur sei darauf nicht reduzierbar - auch Joachim Kaiser hat das betont. Die Frage ist also: Verhält sich Ehrl-König zu Reich-Ranicki wie sich Thomas Manns Figur Naphta zu Georg Lukács verhält? Es ist richtig, daß Thomas Mann nicht nur in diesem Fall das Spiel mit Ähnlichkeiten exzessiv gespielt hat, auch zuweilen über das Maß des mitmenschlich Vertretbaren hinaus, aber der Unterschied ist eklatant. Er besteht nicht nur darin, daß der "Zauberberg" ein großes Kunstwerk ist und der "Tod eines Kritikers" nicht. Wer immer den "Zauberberg" liest und nicht weiß, daß Naphta physiognomische Züge von Georg Lukács trägt, dem fehlt nichts bei der Lektüre, und auch für den, der es weiß, tritt diese, tatsächlich nicht sonderlich wichtige, Information schnell in den Hintergrund. Das liegt daran, daß Naphta eine in sich stimmige und geschlossene Figur ist und daß alles, was an ihm sonderbar oder befremdlich auf den Leser wirken mag, zur Steigerung einer bedeutungsvollen Individualität dient.
Wer den "Tod eines Kritikers" liest, ohne die öffentliche Figur Reich-Ranickis zu kennen (und also seine Karikatur wiederzuerkennen), wird an der Figur Ehrl-Königs nichts weiter sehen können als einen zusammengeflickten Popanz jenseits aller Plausibilität. Für Naphta ist charakteristisch, daß sich, was immer zu seiner physischen wie intellektuellen Physiognomie als Material gedient haben mag, beim Lesen verliert und vom Text absorbiert wird. Für Ehrl-König ist charakteristisch, daß man diese Figur überhaupt nur dann versteht, wenn man einen zum Popanz gewordenen Reich-Ranicki stets vor Augen hat. Darum wirken alle übertriebenen, karikatur- oder farcenhaften Elemente und Attribute der Figur, als wären sie dem realen Reich-Ranicki zugehörig oder angehängt. Zugehörig wie der Hinweis, seine Sprache sei leicht parodierbar, und die Parodie der Sprache im Text selbst. Natürlich sagt Reich-Ranicki nicht "Literatür" und trägt auch keine gelben Pullover, aber wenn Walser seinen Ehrl-König so sprechen läßt und ihm einen gelben Pulli umhängt oder ihm am Ende das für ihn selbst, den Verfasser, charakteristische Kleidungsstück, einen "gewaltigen schwarzen Hut", aufsetzt, so wirkt das nicht wie ein Abweichen vom Vor-Bild, sondern wie ein ungeniertes Zurschaustellen der Freude darüber, diesen Popanz geschaffen zu haben und mit ihm anstellen zu können, was er will. Literatür, gelber Pulli, schwarzer Hut, Plateausohlen - und anderes mehr.
Die Figur des Ehrl-König lebt nicht aus sich und nicht aus der ästhetischen Stimmigkeit der Komposition, sondern nur aus ihrem Beleidigungs- und Skandalwert. Allerdings sieht man dem Buch "Tod eines Kritikers" an, daß es mehr wollte, daß es eine gewisse Komplexität intendierte. Ein Kritiker verschwindet, aus den zurückgebliebenen Spuren - ein gelber Pullover und Blut - schließt man auf einen Mord. Ein Autor gerät unter Verdacht, sein Freund, der Verfasser des Buches, will dessen Unschuld beweisen und befragt diejenigen, die Ehrl-König und Hans Lach vor der vermeintlichen Tat gesehen haben, und allerlei andere, die die Person des Kritikers gut kennen, nach dessen Persönlichkeit. Am Ende stellt sich heraus, daß der Verfasser des Buches der verdächtigte Schriftsteller (mit dem seltsam imperativischen Namen Hans Lach) selber ist, der nun ein Buch über den Vorgang schreibt und dazu eine Art Außenperspektive einnimmt.
Das Buch dreht sich um den Kritiker Ehrl-König, und er soll von allen Seiten beleuchtet werden, geschildert von denen, die ihn hassen, die ihn verachten, die ihn verehren. Das funktioniert nur nicht. Es funktioniert nicht, weil die Befragten mehr oder weniger alle dasselbe sagen und von ähnlichen Affekten getragen werden, nämlich denen des Autors. Das Grundanliegen Martin Walsers, Marcel Reich-Ranicki in absurder und bizarrer Gestalt mit höchstem Beleidigungswert in seinem Roman auftreten zu lassen, macht alle Bemühungen um eine annähernd komplexe Erzählstruktur zunichte. Es ist so, als umtanzten die Nebenfiguren den Popanz und behängten ihn unter den anfeuernden Rufen des Autors mit immer neuen, immer häßlicheren Versatzstücken. Welcher Art die sind, wird zu überprüfen sein.
Walsers Versagen, jene Komplexität zu schaffen, die er sichtlich intendiert hatte, hat etwas Irritierendes. Walser schreibt wie übermannt. Als verfüge er nicht über seinen Text, sondern als führen ihm plötzlich kaum mehr kontrollierte Affekte in die Feder und führten sie ihm. Der Leser ist Zeuge eines Kontrollverlustes, der - siehe oben - sich auch außerhalb des Textes fortsetzt. Folge dieses Kontrollverlusts ist die Unfähigkeit, die intendierte literarische Form zu schaffen. Materiellen Ausdruck verschafft sich diese Aufgeregtheit in der eigenartigen Obszönität des Buches, genauer gesagt (da es ja Obszönität von literarischem Rang gibt): in der stupenden Schmierigkeit der Walserschen Phantasien.
Es hilft nichts, hier muß aufgezählt werden. Ehrl-König wird vorgeführt, wie er auf penetrante Weise an einer jungen Schriftstellerin herumfingert. Sie heißt Cosima von Syrgenstein - die Namen wären ein Kapitel für sich - und wird natürlich des fan tutte wegen Cosi genannt. Später wird er mit ihr auf ein Schloß fahren und dort die Zeit, in der man ihn für ermordet hält, verbringen. Der Fernsehauftritt Ehrl-Königs wird geschildert "vom tröpfelnden Anfang bis zum prasselnden Ende", bis zum "Höhepunkt" respektive "Orgasmus", dem sich das Publikum "entgegenklatsche", "das sei ja auch jedes Mal die Tendenz der Ehrl-König-Selbstdarstellung. Er sinke dann zurück in seinen . . . Sessel", in dem er danach "kraftlos" und "fast erlöschend" spricht. Dieser Ehrl-König wird uns als ejakulierender Penis vorgeführt, bereits zu Beginn, und zwar von einem seiner Bewunderer, und wenn das dann später wie folgt daherkommt, dann kann der Verfasser sich nicht damit herausreden, das sei doch der Tonbandmitschnitt des Gesprächs zweier Betrunkener, der Schriftsteller Lach und Streiff, und als Rollenprosa zu relativieren. Denn in diesem Roman spricht immer nur eine Stimme: "Hans Lach: Seit dem Chaplindiktator hat noch keiner mehr so vor laufender Kamera rumgerudert und rumgebrüllt. Eine unbekannte Stimme: Jetzt reicht's dann. Wieder Hans Lach: Man müsste mit den Kameraleuten reden, dass sie ihm einmal mit dem Zoom aufs Mundwerk fahren, dass endlich mal das weiße Zeug, das ihm in den Mundwinkeln bleibt, groß herauskäme, der vertrocknete Schaum ... Scheißschaum, gellte Bernd Streiff, das ist sein Ejakulat. Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der deutschen Literatür aufgeilt." Worauf die "unbekannte Stimme" sagt: "Ich geh' jetzt."
Ich glaube nicht, daß das "Ich geh' jetzt" ein Trick ist, etwas wie eine eingebaute Scheindistanzierung. Es wirkt zu authentisch, so als redeten in einem Kopf mehrere Stimmen, und die Stimme, die die Selbstkontrolle repräsentiert, verabschiedet sich, und der Autor wundert sich in der Maske der ersten Person Singular über sich selbst. Wie heißt es im Buch: "Erzähler und Erzählter sind eins." Und: "Schriftsteller sind ununterbrochen (und ununterbrechbar) damit beschäftigt, ihr Alibi zu notieren. Diesmal fällt das Alibi aus." Der "Tod eines Kritikers" spricht sich deutlich aus, deutlicher sicherlich, als dem Verfasser lieb wäre, gewönne er Distanz zu seinem Buch und die Fassung wieder, die der Text verloren hat.
So aber sind es die Leser, die mit zunehmender Fassungslosigkeit aus solchen Passagen in die Phantasie geraten, die Hans Lach über die Zukunft der Literaturkritik verfaßt: "Die E-O-Kultur war da. Wie bitte, fragte sie. Ejakulation und Orgasmus." In dieser Kultur "wurden die Kritiker wichtiger als die Schreibenden". Die wichtigsten Kritiker sind die "Großen Vier", ein literarisches Quartett, dessen Teilnehmer der "Aal", der "Affe", die "Auster" und "Klitornostra" heißen und einen Preis verleihen, der "PRICK" heißt (englischer Slang-Ausdruck für Penis). - Und so geht es bei den Autoren und den Kritikern zu: "Auch Onanieren kam vor. Aber nur der erste, der vor laufender Kamera lesend onanierte und ejakulierte, bekam den Publikumspreis. Dann auch die erste Autorin, die das öffentlich hinkriegte. Der Affe ließ sich von dem onanierenden Autor fast hinreißen, selber Hand an sich zu legen. Oder tat doch so. Ebenso Klitornostra, als eine Autorin sich selber bediente." Ohnehin sind die vier nackt. "Der Aal" - der "unübertreffbare Meister" im Preisen und Verreißen - "ließ, während er litt oder jubilierte, sein Geschlechtsteil zoomen. Und was dann zu sehen war, war Wirkung der Literatur. So oder so."
Bei der Charakterisierung der Zentralfigur Ehrl-König geht es ohnehin vor allem um Penisfunktionen und -fehlfunktionen. So redet seine Frau über ihn: "Seine unbremsbare Ejakulation. Also, er ist die Nullbefriedigung schlechthin." Ehrl-König und einen seiner Exfreunde vereint eine folie à deux, die Behauptung, der jeweils andere verlasse den Raum, wenn von Prostata-Problemen die Rede sei. Seine sexuellen Vorlieben werden wie folgt geschildert: "Es hat sich nie um Frauen gehandelt, immer um Mädels. Oder auch um Mädelchen. Mädel oder Mädelchen, da hat er immer scharf unterschieden. Am liebsten waren ihm natürlich Mädelchen, aber wenn's keine gab, nahm er auch Mädels. Frauen findet er langweilig. Unzumutbar. Besonders deutsche. Weibliches plus Schicksal, zum Davonlaufen! Aber schicksallose, ihres Aufblühens noch nicht ganz sichere Mädels oder Mädelchen, dann wisse er, sagte er, wozu er zur Welt gekommen sei." An anderer Stelle erfahren wir, Ehrl-König habe eine Vorliebe für Schwangere bis zum dritten Monat.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß Walser neben dieser oben zitierten Phantasie über die Literaturkritik als perverse, lüsterne, aber letztlich zeugungsunfähige Sexualität einen Gegenentwurf etabliert. Hans Lach, der Autor, hat ein Verhältnis mit der schönen Witwe seines Verlegers, den Walser im Roman sterben läßt. Daß auch hier Ähnlichkeiten mit Lebenden nicht zufällig, sondern beabsichtigt sind, hat sich herumgesprochen, ich kümmere mich darum weiter nicht. Dieses Verhältnis mit der schönen Verlegerswitwe, die immer aussehe, als sei sie gerade vom Pferd gestiegen, wirkt wie der wet dream eines Gymnasiasten: "Unsere geschlechtliche Praxis verlief ganz unter ihrer Regie. Sie bezeichnete mich da als Entwicklungsland. Das war mir recht. Sie war eine Virtuosin, die verbergen konnte, dass sie eine war. .. . Sie tat alles, als tue sie's zum ersten Mal. Man wusste, dass das nicht sein konnte ... und ihr Körper war eine Art saturnisches Mirakel. Sie schien seit etwa ihrem vierzigsten Jahr keinen Tag älter geworden zu sein" - und so weiter. Diese adoleszenten Phantasien wären auch bei einem jüngeren Autor kaum erträglich. Wozu sie da sind, ist klar. Sie sollen eine Sphäre reiner Sexualität gegen eine der perversen abgrenzen. Aber wie anderswo auch, so hier: In der Verklärung der Reinheit offenbart sich die Lust am Schmutz.
Laut Walsers Auskunft soll sein Buch von der Macht im Literaturbetrieb handeln. Tatsächlich zeigt es die obszönen Phantasien eines Autors über einen mächtigen Literaturkritiker. Dieser Literaturkritiker ist, wie Marcel Reich-Ranicki, Jude. Bekanntlich gehört zum Kernbestand antisemitischer Stereotype das Bild vom geilen Juden, der Macht ausübt, die zu haben er nicht legitimiert ist - besonders im Kulturbetrieb. Er ist der Schuldige schlechthin an der Transformation der Kultur in den Betrieb, so wie Ehrl-König: "in der ganzen Literaturgeschichte habe keiner so viel Macht ausgeübt wie Ehrl-König, singen und sagen seine Chorknaben im DAS-Magazin." Aber er ist eben nicht die wirkliche Kultur, nur die "Operettenversion des jüdisch-christlichen Abendlandes". - Wenn der Verlegersgattin auf einer Auktion ein seltenes und wertvolles Buch, das letzte Exemplar, das noch auf dem Markt ist, weggeschnappt wird, so steckt hinter dem bietenden Strohmann ein gewisser Lessing Rosenwald. Und während der Jude Rosenwald sich heimlich die antiquarische Seite der europäischen Kultur aneignet, macht Ehrl-König die deutsche Gegenwartsliteratur hin, indem er Hans Lach verreißt, den amerikanischen Juden Philip Roth statt dessen preist. Er versteht nichts von deutscher Literatur, er versteht nur etwas vom Entertainment. "Er hat aus der Ästhetik eine Moral gemacht ... die Moral des Gefallens, des Vergnügens, der Unterhaltung. Die Pleasure-Moral." - "Er war die Macht und die Macht war er. Und wenn man wissen will, was Macht ist, dann schaue man ihn an: etwas Zusammengeschraubtes, eine Kulissenschieberei, etwas Hohles, Leeres, das nur durch seine Schädlichkeit besteht." Und: "er blieb im Giftigsein hängen". Denn er ist nicht produktiv, nicht einmal das, was er ist, ist er aus sich selbst.
Denn im Grunde ist Ehrl-König, der giftige Schädling, "weniger als ein Schemen"
Fortsetzung auf der folgenden Seite
und nur das Retortengeschöpf eines anderen, der ihm alles beigebracht haben soll - alles, das heißt "ein Repertoire von zwölf bis fünfzehn Sätzen ... dazu noch fünfzehn bis achtzehn Zitaten." Ohne diese Hintergrundfigur sei Ehrl-Königs Position im Literaturbetrieb nicht zu erklären, denn er sei als "ein Monsieur Nichts aus Lothringen in unser Land gekommen". Ehrl-König, Vorname André - fehlte der Akzent, wäre er der "Andre" -, ist Franzose. Reich-Ranicki, der ebenfalls einen französischen Vornamen trägt, ist aus Deutschland nach Polen deportiert worden, hat in Polen die deutsche Besatzung überlebt und ist nach Deutschland - "in unser Land" - auch nicht als der gekommen, der er heute ist. Die Insinuierung ist deutlich: Aus sich heraus schafft so einer das nicht, der eine nicht und nicht der andre. Aber was für einer ist "so einer"?
Walser vertauscht die Himmelsrichtungen. Ehrl-König kommt aus dem Westen, nicht aus dem Osten. Als Hans Lach, der vom Schädling schlecht Besprochene, ihn anschreit, ab null Uhr werde zurückgeschossen, wird die Geographie wieder klar. Ehrl-Königs Vater war Bankier, aber es kursiert auch das Gerücht, er sei ein Pferdehändler gewesen. Was man als Jude so ist: Pferdehändler, Bankier oder im Kulturbetrieb. Jedenfalls sei der Vater "eine schauderhafte Gestalt, klein, dicklich, große Ohren, die Mutter hat er, als sie siebzehn war, geschwängert", der Sohn sehe aus wie er: die Ohren, "der stets das überentwickelte Kinn überwölbende Wulstmund", die "so kräftige wie feine Nase". Kräftige Nase muß sein, aber wieso soll das eine antisemitische Karikatur sein, höre ich jemanden einwenden, da steht doch "feine Nase"? Ebendarum. Weil es auffällt, daß da etwas fehlt am Klischee, fällt es auf. Immer wenn Walser etwas verbergen will, zeigt er es überall herum.
Es gehört zum Diskurs des modernen Antisemitismus, Juden mit Nazis zu vergleichen. Die Erben der Täter entlasten sich, indem sie behaupten, die Erben der Opfer täten nichts anderes als jene. Walser hatte in der ersten, dieser Zeitung zum Abdruck angebotenen Fassung Ehrl-König mit Freisler und seine TV-Sendung mit der Reichsschrifttumskammer verglichen. Später, zu spät, hat ihm der Verlag wohl geraten, die beiden Stellen zu streichen. Aber der Drang zum Vergleich ist zu groß: statt Freisler ist es - siehe oben - der "Chaplindiktator", also gleich Hitler oder doch, pardon, natürlich nicht, sondern bloß dessen Parodie.
Auch nicht unbekannt ist die Attitüde des Aufbegehrens: "Man wird doch wohl noch Juden kritisieren dürfen!", wobei diese Phrase den Unterschied der Kritik an jemandem, der zufällig Jude ist, verwechselt mit der Kritik eines Menschen, weil er Jude ist oder durch mehr oder weniger versteckte Anspielung darauf, daß er Jude sei. Im Roman wird irgendwann der vermeintliche Mord als Mord an einem Juden diskutiert, und "erst jetzt hatten die Medien ihr Saisonthema gefunden". Er läßt einen Journalisten sagen: "Wenn Ehrl-König ermordet worden wäre, weil er Jude gewesen sei, hätten die anderen Recht. Aber es sei ja noch nicht einmal sicher, ob Ehrl-König Jude gewesen sei. Er wisse an Ehrl-König nichts so sehr zu schätzen wie dessen Zurückhaltung in der Herkunftsfrage." Auch das geht nach dem Muster "gelber Pulli" und "feine Nase". Reich-Ranicki, ohne dessen öffentliches Bild das Wider-Bild des Ehrl-König nicht auskommt, ist eben nicht "zurückhaltend in der Herkunftsfrage", und eines seiner Verdienste um die politische Kultur der Bundesrepublik liegt genau darin. Die Passage sagt: "Man wird doch wohl noch einen Juden ermorden dürfen!", wenn man sagt, daß man es aus anderen Gründen tut. Aber nein, es ist ja alles ein Mißverständnis, denn er ist ja gar nicht umgebracht worden, das paßt gar nicht zu ihm.
Umgebracht zu werden passe doch nicht zu Ehrl-König, läßt Walser dessen Frau am Ende sagen, und dies ist eine schlimme Anspielung - daß sie beabsichtigt ist, dürfte daraus ersichtlich sein, daß der vermeintliche Mord an einer Thomas-Mann-Allee stattfindet. Als der jüdische Schriftsteller Theodor Lessing, von Mann einst als "Schreckbeispiel schlechter jüdischer Rasse" geschmäht, 1933 in Marienbad von Nationalsozialisten ermordet wird, notiert dieser in sein Tagebuch: "Mir graust vor einem solchen Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir." Mit dieser Anspielung auf Thomas Mann jongliert Walser angesichts des von Nationalsozialisten beinahe ermordeten Reich-Ranicki.
Die Sache wird noch erheblich schlimmer. Vor einigen Jahren haben wir gelesen, daß Marcel Reich-Ranicki für den polnischen Geheimdienst gearbeitet hat. Die Transposition ins Westliche geht so: "Daß der Vater der Madame zuerst Privatsekretär Pétains und dann Geheimdienstchef des Vichy-Regimes gewesen sein soll, kann genauso in den Strauß der Gerüchte gehören wie das Gruselfaktum, Ehrl-König habe, um zu überleben, selber der Sureté zugearbeitet. Und: er habe zur Résistance gehört." Dies ist wirklich unerhört. Walser macht aus dem Überlebenden des Gettos den Klischee-Popanz des geilen, machthungrigen, aber in jeder Hinsicht impotenten, die deutsche Kultur ruinierenden Judenschädlings. Und er hängt der Karikatur dann noch das Gerücht an, entweder in der Résistance oder ein Nazi-Kollaborateur gewesen zu sein, der, um zu überleben, andere ausgeliefert habe. Reich-Ranicki war Übersetzer des "Judenrats", der das Warschauer Getto verwaltete.
Auf Frank Schirrmachers "Offenen Brief", mit dem er begründete, warum die Frankfurter Allgemeine den "Tod eines Kritikers" nicht vorabdrucken werde, sagte Walser, ein Buch, das so wäre, wie Schirrmacher das seine vorstelle, würde er nie schreiben - er sei doch nicht verrückt. Tatsächlich fragt man sich während der Lektüre in zunehmendem Maße, was für eine Art Text man hier vor sich hat. Auch Joachim Kaiser, der die antisemitischen Muster des Textes partout nicht wahrhaben oder wahrnehmen will und dabei Walsers Argument wiederholt, daß, wer dies tue, selbst Antisemit sei, ist ein wenig beunruhigt: "in der zweiten Hälfte des Textes entgleiten Walser manchmal gewisse Passagen ins Rauschhafte".
Wie über so vieles andere spricht sich der Roman selbst ganz unbefangen auch darüber aus. Als Hans Lach verhaftet wird, steht er zunächst unter Schock, dann gesteht er den Mord, und zwar in einem Zustand, den der Arzt so beschreibt: "ein kleines bisschen psychotisch dekompensiert". Eine Dekompensation ist die Überwältigung durch Affekte, ausgelöst von einem plötzlichen Kontrollverlust des seelischen Apparates. Die überbordenden Sexualphantasien, das unbefangene Umgehen mit antisemitischen Topoi, die Unfähigkeit, die intendierte Differenziertheit der formalen Komposition auch zu erreichen - all das zeigt, daß hier im Text - ich spreche nota bene über den Text - etwas geschieht, das mit diesem klinischen Ausdruck zu Recht bezeichnet werden kann.
"Schizophren werde man", läßt Walser seinen Lach sagen, "wenn die andern einem anders begegneten, als sie dächten. Insgeheim redet man über einen wie über einen Wahnsinnigen, ins Gesicht hinein tut man so, als hielte man einen für normal. Da unsereins beides wahrnimmt, ist eine Verwirrung die Folge, eine nichts verschonende Desorientierung." Walsers Lach ist jemand, der zunächst habe damit rechnen können, von Ehrl-König positiv besprochen zu werden, sei dann aber schlimmer verrissen worden denn je. Walser läßt hier seinen Hans Lach das erleben, was er selber erlebt hat. Reich-Ranickis Walser-Kritiken fielen ja darum besonders gewichtig aus, weil sie stets ein bestimmtes Muster aufwiesen: "Große Begabung, großes Scheitern", bringt es Gustav Seibt in der SZ auf den Nenner, und: "Die regelmäßig konstatierte Fallhöhe erlaubte es dem Kritiker, diesen Autor immer besonders tief fallen zu lassen und besonders hart aufschlagen zu lassen." Wie sehr Walser seinen Lach mit sich selbst identifiziert, zeigt er daran, daß Ehrl-König im selben Atem, mit dem er Lach schmäht, Philip Roth lobt - wie in der Wirklichkeit geschehen, als anläßlich der Besprechung von "Jenseits der Liebe" Reich-Ranicki Walser und Philip Roth gegeneinanderstellte.
Vielleicht muß man es sich so erklären: Walser, dessen Kritik-Empfindlichkeit sein Freund Joachim Kaiser als "fast pathologisch" empfindet, hat sich eine Romanwelt geschaffen, in der er sich erlaubt hat, seinem - ich zitiere noch einmal Kaiser - "wilden, vielleicht sogar mordlustigen Haß" freien Lauf zu lassen. Das, was seinem durch die Kritik verletzten und zwischenzeitlich verrückt gewordenen Hans Lach widerfährt, widerfährt Walser auf dem Papier. Er erlebt schreibend jene Dekompensation, die seiner Romanfigur von ihrem Arzt zugeschrieben wird. Die persönliche Verletzung gerät Walser zur Zerstörung der deutschen Literatur durch den mächtigen jüdischen Schädling, die Phantasien laufen Amok. Kein untypisches Muster. Der Antisemitismus ist als Weltdeutungsmuster latent vorhanden; die Rage, in die einer gerät, wird zum antisemitischen Affektsturm. Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" ist die Folge einer durch Autosuggestion entstandenen Verstörung.
"Erlkönig" war in dem Roman "Ohne einander" der Spitzname des dort auftretenden Kritikers Willi André König gewesen, anspielend auf "in seinen Armen das Kind war tot"; das Kind: die deutsche Literatur. Der Spitzname ist nun zum Namen geworden. Ich glaube, er signalisiert vor allem eines: "Ehrl-König hat mir ein Leids getan". Das ist wohl so. Aber es entschuldigt nichts. - Es erklärt auch wenig. Denn jemand entwickelt ja nicht darum antisemitische Affekte, weil er sich von einem Juden gekränkt fühlt, sondern um sich den Kränkenden als kränkenden Juden zu imaginieren, muß ein antisemitisches Deutungsmuster schon vorhanden gewesen sein.
Ist Walser darum ein Antisemit? Er ist niemand, dessen bisheriges Werk durch antisemitische Topoi geprägt wäre. Aber er ist jemand, der Roman belegt es, der ein antisemitisches Buch geschrieben hat.
Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma ist Gründer und Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Martin Walser: "Tod eines Kritikers". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 220 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der umstrittenste deutschsprachige Roman der letzten Jahre
An diesem Buch kam schon keiner mehr vorbei, da war es noch nicht einmal erschienen. Martin Walsers Tod eines Kritikers löste eine Diskussion aus, in deren Verlauf beinahe alle zu Wort kamen, die in Sachen deutscher Literatur etwas zu sagen haben. Ins Rollen kam die Debatte, als F.A.Z.-Feuilleton-Chef Frank Schirrmacher den Vorabdruck des Werkes in der Frankfurter Allgemeinen mit dem Hinweis auf darin enthaltene antisemitische Äußerungen ablehnte. Walter Jens pflichtete ihm bei, Hellmuth Karasek sprach in Anlehnung an den Romantitel vom Selbstmord eines Literaten, Walser-Freund Joachim Kaiser widerum lobte die literarische Qualität des Buches und den "herzlichen Walser-Sound". Marcel Reich-Ranicki schließlich nannte den Band einen "erbärmlichen Roman".
Erscheinungstermin vorverlegt
Soweit also der Abriss der Vorgeschichte. Angesichts des gestiegenen öffentlichen Interesses hat der Verlag die Veröffentlichung des Buches eilig vorverlegt, und so kann das zahlende Publikum nun die darin niedergeschriebene Geschichte über das Verhältnis eines Literaten zu seinem Kritiker selbst beurteilen. Der Plot ist schnell skizziert: Der populäre Fernseh-Literaturkritiker André Ehrl-König verschwindet spurlos, man findet statt seiner nur einen Pullover. Der Kritiker ist tot, vermutet die Polizei, die allerdings keine Leiche finden kann, da es in der Nacht der vermeintlichen Bluttat einen halben Meter Neuschnee gegeben hat. Einen Toten hat es also noch nicht, dafür aber schnell einen Verdächtigen: Hans Lach, Schriftsteller, Zeit seines Lebens verschmäht von Ehrl-König, der unmittelbar nach einem neuerlichen Verriss seines aktuellen Romans durch den Literatur-Papst uneingeladen auf dessen Aftershow-Party aufgetaucht war und ihm unter Zeugen drohte. Nur wenige Stunden vor der vermeintlichen Bluttat trug sich das zu, und nun also ist Ehrl-König unter einem halben Meter Schnee begraben. Vermutlich. Lach wird in Haft genommen. Der mit dem Verdächtigen befreundete Schriftsteller Michael Landolf nimmt sich der Geschichte an. Er sucht nach Indizien, die Lachs Unschuld beweisen könnten, doch findet er mehr und mehr Motive, die den Mord tatsächlich erklären könnten - in dem er sich dem Opfer nähert, in zahlreichen Gesprächen die unterschiedlichsten Seiten des André Ehrl-König ausleuchtet.
Walser gegen Reich-Ranicki
Walser bemüht sich nicht, zu verbergen, dass er diesen Roman als eine Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki geschrieben hat. André Ehrl-König ist eine über alle Maßen überzeichnete Karikatur Reich-Ranickis, die Hinweise auf den familiären (jüdischen) Hintergrund, auf die leicht nachzuahmende Sprechweise, auf die Gestik und vieles mehr sind unmissverständlich, ja plump. Wenn Joachim Kaiser vom "herzlichen Walser-Sound" redet, bleibt - zumindest was die Hauptperson des Romans angeht - schleierhaft, was er meint. Der Ton in diesem Buch ist in etwa so herzlich wie der eines Richters beim Verlesen eines Urteils, das den Angeklagten für zwanzig Jahre hinter Gitter bringt. Die von Schirrmacher und anderen erhobenen Vorwürfe des Antisemitismus wären tiefer zu ergründen, nach Walsers umstrittener Festrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 ist immer schnell die Rede davon. Walser ist in diesem Punkt allenfalls mangelnde Sensibilität vorzuwerfen. In der Diskussion untergegangen ist der vielleicht interessanteste Aspekt des Buches: Das Verhältnis der Literaten zu Star-Kritikern, die das Medienzeitalter hervorbringt. Deren scharfes Urteil relativiert sich bisweilen, wie sich an diesem Beispiel zeigt. Wenn Reich-Ranicki den "Tod eines Kritikers" ein erbärmliches Buch nennt, ist ihm das nicht zu verübeln. Wer wird schon ein Buch lieben, in dem er selber umgebracht zu werden scheint? (ah/André Lorenz. Medien)
An diesem Buch kam schon keiner mehr vorbei, da war es noch nicht einmal erschienen. Martin Walsers Tod eines Kritikers löste eine Diskussion aus, in deren Verlauf beinahe alle zu Wort kamen, die in Sachen deutscher Literatur etwas zu sagen haben. Ins Rollen kam die Debatte, als F.A.Z.-Feuilleton-Chef Frank Schirrmacher den Vorabdruck des Werkes in der Frankfurter Allgemeinen mit dem Hinweis auf darin enthaltene antisemitische Äußerungen ablehnte. Walter Jens pflichtete ihm bei, Hellmuth Karasek sprach in Anlehnung an den Romantitel vom Selbstmord eines Literaten, Walser-Freund Joachim Kaiser widerum lobte die literarische Qualität des Buches und den "herzlichen Walser-Sound". Marcel Reich-Ranicki schließlich nannte den Band einen "erbärmlichen Roman".
Erscheinungstermin vorverlegt
Soweit also der Abriss der Vorgeschichte. Angesichts des gestiegenen öffentlichen Interesses hat der Verlag die Veröffentlichung des Buches eilig vorverlegt, und so kann das zahlende Publikum nun die darin niedergeschriebene Geschichte über das Verhältnis eines Literaten zu seinem Kritiker selbst beurteilen. Der Plot ist schnell skizziert: Der populäre Fernseh-Literaturkritiker André Ehrl-König verschwindet spurlos, man findet statt seiner nur einen Pullover. Der Kritiker ist tot, vermutet die Polizei, die allerdings keine Leiche finden kann, da es in der Nacht der vermeintlichen Bluttat einen halben Meter Neuschnee gegeben hat. Einen Toten hat es also noch nicht, dafür aber schnell einen Verdächtigen: Hans Lach, Schriftsteller, Zeit seines Lebens verschmäht von Ehrl-König, der unmittelbar nach einem neuerlichen Verriss seines aktuellen Romans durch den Literatur-Papst uneingeladen auf dessen Aftershow-Party aufgetaucht war und ihm unter Zeugen drohte. Nur wenige Stunden vor der vermeintlichen Bluttat trug sich das zu, und nun also ist Ehrl-König unter einem halben Meter Schnee begraben. Vermutlich. Lach wird in Haft genommen. Der mit dem Verdächtigen befreundete Schriftsteller Michael Landolf nimmt sich der Geschichte an. Er sucht nach Indizien, die Lachs Unschuld beweisen könnten, doch findet er mehr und mehr Motive, die den Mord tatsächlich erklären könnten - in dem er sich dem Opfer nähert, in zahlreichen Gesprächen die unterschiedlichsten Seiten des André Ehrl-König ausleuchtet.
Walser gegen Reich-Ranicki
Walser bemüht sich nicht, zu verbergen, dass er diesen Roman als eine Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki geschrieben hat. André Ehrl-König ist eine über alle Maßen überzeichnete Karikatur Reich-Ranickis, die Hinweise auf den familiären (jüdischen) Hintergrund, auf die leicht nachzuahmende Sprechweise, auf die Gestik und vieles mehr sind unmissverständlich, ja plump. Wenn Joachim Kaiser vom "herzlichen Walser-Sound" redet, bleibt - zumindest was die Hauptperson des Romans angeht - schleierhaft, was er meint. Der Ton in diesem Buch ist in etwa so herzlich wie der eines Richters beim Verlesen eines Urteils, das den Angeklagten für zwanzig Jahre hinter Gitter bringt. Die von Schirrmacher und anderen erhobenen Vorwürfe des Antisemitismus wären tiefer zu ergründen, nach Walsers umstrittener Festrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 ist immer schnell die Rede davon. Walser ist in diesem Punkt allenfalls mangelnde Sensibilität vorzuwerfen. In der Diskussion untergegangen ist der vielleicht interessanteste Aspekt des Buches: Das Verhältnis der Literaten zu Star-Kritikern, die das Medienzeitalter hervorbringt. Deren scharfes Urteil relativiert sich bisweilen, wie sich an diesem Beispiel zeigt. Wenn Reich-Ranicki den "Tod eines Kritikers" ein erbärmliches Buch nennt, ist ihm das nicht zu verübeln. Wer wird schon ein Buch lieben, in dem er selber umgebracht zu werden scheint? (ah/André Lorenz. Medien)