Der Beginn des Alles oder Nichts
Am 1. Juni 1944 beherrschen deutsche Truppen fast ganz Europa; drei Monate später stehen die Alliierten an den Grenzen des Reichs. Das Ende des blutigsten Kriegs der Geschichte scheint unmittelbar bevorzustehen, doch es wird weitere acht Monate dauern, in denen noch einmal so viele Menschen wie in den fünf Jahren zuvor sterben werden. Und: Als zwischen Mai und Juli über 400.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert werden, kommt der Holocaust zu einem seiner letzten Exzesse.
Im Sommer 1944 begann sich der Todeswalzer in einer nie zuvor für moglich gehaltenen Geschwindigkeit zu drehen. Die Gleichzeitigkeit des Mordens und der Lebensfreude, auch im Reich, packend dargestellt in Christian Bommarius' großer Erzahlung, macht uns bis heute fassungslos.
Am 1. Juni 1944 beherrschen deutsche Truppen fast ganz Europa; drei Monate später stehen die Alliierten an den Grenzen des Reichs. Das Ende des blutigsten Kriegs der Geschichte scheint unmittelbar bevorzustehen, doch es wird weitere acht Monate dauern, in denen noch einmal so viele Menschen wie in den fünf Jahren zuvor sterben werden. Und: Als zwischen Mai und Juli über 400.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert werden, kommt der Holocaust zu einem seiner letzten Exzesse.
Im Sommer 1944 begann sich der Todeswalzer in einer nie zuvor für moglich gehaltenen Geschwindigkeit zu drehen. Die Gleichzeitigkeit des Mordens und der Lebensfreude, auch im Reich, packend dargestellt in Christian Bommarius' großer Erzahlung, macht uns bis heute fassungslos.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Arno Orzessek gibt zu, dass es Christian Bommarius gelingt, den Leser ins Geschehen des Jahres 1944 hineinzuziehen. Allerdings ist die Gemengelage auch enorm explosiv. Es scheint, als unternehme Bommarius nicht eben viel, um seinem Konvolut aus Selbstzeugnissen, historischer Fachliteratur und Belletristik Kontur oder Dichte zu verleihen. Die Lektüre ist trotzdem spannend, versichert Orzessek, schon weil die Großereignisse Hitler-Attentat, D-Day, Warschauer Aufstand so sehr fesseln. Irritiert zeigt sich der Rezensent angesichts des zynisch wirkenden Buchtitels.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wie wenige aber beherrscht Bommarius die Kunst, die Perspektiven ganz unterschiedlicher Menschen auf die Geschehnisse einiger Tage und Wochen zu einem dichten Gewebe zu verknüpfen, in das sich die Leserinnen und Leser gleichsam einhüllen können - je nach Verfasstheit staunend, ergriffen, entsetzt, erschüttert, wütend... Cord Aschenbrenner Süddeutsche Zeitung 20240205
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.02.2024Crescendo der Vernichtung
Christian Bommarius schildert den mörderischen Kriegssommer 1944 aus den Blickwinkeln zahlreicher Augenzeugen. Diese Montagetechnik hat viele Vor- und einige Nachteile.
Der Krieg ist im Frühsommer 1944 für die Deutschen schon längst nicht mehr zu gewinnen. Aber mit der Landung der Alliierten an der Küste der Normandie am 6. Juni und der „Operation Bagration“ der Roten Armee an der Ostfront wenige Wochen später nimmt er noch einmal erheblich Fahrt auf. Schließlich, als Folge des missglückten Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli, steigert er sich in den nächsten Monaten zu einem anhaltenden Crescendo des Schreckens und der Vernichtung – ein entgrenztes Morden und Sterben, das in der Geschichte nicht seinesgleichen hat.
In einem eindrücklichen, lesenswerten Buch schildert der Publizist Christian Bommarius diesen infernalischen letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs in Europa. Er reicht bis in die späten Augusttage, als in Paris die deutschen Besatzer kapitulieren und wenig später die Royal Air Force die ostpreußische Hauptstadt Königsberg mit ihren Bomben in Brand setzt. Das historische Königsberg zerfällt zu Asche. Vierhundert Kilometer weiter südlich, in Warschau, kämpft seit dem 1. August die polnische Armia Krajowa (AK), die „Heimatarmee“ heroisch, aber vergeblich gegen SS und Wehrmacht, die an die 200 000 Menschen umbringen – Kämpfer der AK ebenso wie Kinder, Frauen und Alte – und Warschau umfassend und akribisch zerstören.
In den neuneinhalb Monaten vom Anschlag auf den Diktator bis zum 8. Mai 1945 werden noch einmal mehr als vier Millionen Deutsche – Soldaten und Zivilbevölkerung – sterben, fast drei Millionen waren es bis dahin schon seit Kriegsbeginn. Und das sind nur die Deutschen. Bommarius zählt auf, dass bis Anfang Mai 1945 noch 1,5 Millionen Rotarmisten umkommen werden, mehr als 100 000 amerikanische und britische Soldaten und Hunderttausende Häftlinge der Konzentrationslager, die die Deutschen bis dahin ermorden. Die europäischen Juden haben sie zu diesem Zeitpunkt schon fast alle umgebracht, weit im Osten, in Polen, Weißrussland und der Ukraine – vergast in Vernichtungslagern wie Auschwitz, Majdanek oder Maly Trostinez, erschossen in Dörfern, auf Feldern und in Wäldern. Eine unvorstellbare Zahl getöteter Menschen. Hinzu kommen die Soldaten und Zivilisten anderer Nationen; insgesamt sterben im Zweiten Weltkrieg 60 bis 70 Millionen Menschen, in der Mehrzahl Zivilisten, unter ihnen sind 27 Millionen Bürger der Sowjetunion und sechs Millionen Polen.
Ein blutgetränktes, entsetzliches Tableau also, das Christian Bommarius wohl auch deshalb auf den Sommer 1944 verengt, weil dieser nun bald 80 Jahre zurückliegt. Die Konzentration auf die drei, vier Sommermonate des Jahres 1944 erweist sich aber bei näherem Hinsehen als Schein: Ohne Vor- und Rückgriffe auf das Frühjahr und den Winter 1944 sowie auf die Jahre 1943 und 1945 und ohne mehrere Exkurse konnte auch der souveräne und kenntnisreiche Erzähler Bommarius seines Themas nicht Herr werden. Von einem Krieg und schon gar von diesem lässt sich ohne die Vorgeschichte und den historisch-politischen Hintergrund nicht berichten. Allerdings ist Bommarius, was diese Zusammenhänge betrifft, ein Freund äußerster Reduktion. Es geht also nicht um Schlachtverläufe oder um Politik und Strategie der Alliierten, die nach der Landung in Frankreich und nach der Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront Ende Juni Deutschland von zwei Seiten in die Zange nehmen.
Bommarius ist ein geschickter Arrangeur von Stimmen, Erlebnissen und Ereignissen. Es gelingt ihm so, eine Schneise durch den kaum noch zu durchdringenden Dschungel der Literatur über den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und die Shoah zu schlagen. Augenzeugenberichte, Tagebucheinträge, biografisches Material tragen sein Buch. Erfunden hat Christian Bommarius diese Art der Montage nicht; Bücher, die so oder ähnlich vorgehen, gibt es mittlerweile einige, auch zum Zweiten Weltkrieg.
Wie wenige aber beherrscht Bommarius die Kunst, die Perspektiven ganz unterschiedlicher Menschen auf die Geschehnisse einiger Tage und Wochen zu einem dichten Gewebe zu verknüpfen, in das sich die Leserinnen und Leser gleichsam einhüllen können – je nach Verfasstheit staunend, ergriffen, entsetzt, erschüttert, wütend. . . Außer Verfolgten oder Ausgegrenzten wie der Jüdin Margot Friedländer und dem Deutsch-Kameruner Theodor Michael kommen auch Männer wie jene deutschen Generäle zu Wort, deren mitleidloses, krudes Geschwätz die Briten im Gefangenenlager Trent Park mithörten; oder Hitlers willfährige Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Bommarius versammelt noch viele andere mittlerweile nicht mehr allzu bekannte, aber auf ihre Art jeweils illustre Protagonisten wie die mutige Berliner Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich und den englischen Schriftsteller Patrick Leigh Fermor, der 1944 auf Kreta einen deutschen General entführte. Oder den einst legendären Publizisten Erich Kuby, der 1944 Gefreiter in Frankreich war. Joel Berger, einen jüdischen Jungen aus Budapest, der später Landesrabbiner von Württemberg wurde. Den hessischen Justizangestellten Friedrich Kellner, der erst offen, dann in seinen Tagebüchern eine zwölfjährige wütende Auseinandersetzung mit den Nazis führte. Ihm und dem deutschen Hauptmann Wilm Hosenfeld, der im zerstörten Warschau verfolgten Juden half, wie auch Mordechai Papirblat, der Auschwitz und einen „Todesmarsch“ im Februar 1945 überlebte, gelten die erwähnten Exkurse.
In einer Nachbemerkung, entstanden vor den großen Demonstrationen gegen die AfD und ihre Pläne in diesen Tagen, schlägt Christian Bommarius den Bogen vom mörderischen Sommer 1944 zurück zum Versagen der Weimarer Republik vor ihren Feinden. Was man vor Kurzem vielleicht noch als Pflichtübung eines engagierten Autors empfunden hätte, liest man jetzt mit anderen Augen. Die letzten Kriegsmonate und der Weg dorthin liegen nicht so fern, wie es scheint.
CORD ASCHENBRENNER
Christian Bommarius:
Todeswalzer.
Der Sommer 1944. dtv München, 2024.
320 Seiten. 26 Euro.
E-Book: 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christian Bommarius schildert den mörderischen Kriegssommer 1944 aus den Blickwinkeln zahlreicher Augenzeugen. Diese Montagetechnik hat viele Vor- und einige Nachteile.
Der Krieg ist im Frühsommer 1944 für die Deutschen schon längst nicht mehr zu gewinnen. Aber mit der Landung der Alliierten an der Küste der Normandie am 6. Juni und der „Operation Bagration“ der Roten Armee an der Ostfront wenige Wochen später nimmt er noch einmal erheblich Fahrt auf. Schließlich, als Folge des missglückten Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli, steigert er sich in den nächsten Monaten zu einem anhaltenden Crescendo des Schreckens und der Vernichtung – ein entgrenztes Morden und Sterben, das in der Geschichte nicht seinesgleichen hat.
In einem eindrücklichen, lesenswerten Buch schildert der Publizist Christian Bommarius diesen infernalischen letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs in Europa. Er reicht bis in die späten Augusttage, als in Paris die deutschen Besatzer kapitulieren und wenig später die Royal Air Force die ostpreußische Hauptstadt Königsberg mit ihren Bomben in Brand setzt. Das historische Königsberg zerfällt zu Asche. Vierhundert Kilometer weiter südlich, in Warschau, kämpft seit dem 1. August die polnische Armia Krajowa (AK), die „Heimatarmee“ heroisch, aber vergeblich gegen SS und Wehrmacht, die an die 200 000 Menschen umbringen – Kämpfer der AK ebenso wie Kinder, Frauen und Alte – und Warschau umfassend und akribisch zerstören.
In den neuneinhalb Monaten vom Anschlag auf den Diktator bis zum 8. Mai 1945 werden noch einmal mehr als vier Millionen Deutsche – Soldaten und Zivilbevölkerung – sterben, fast drei Millionen waren es bis dahin schon seit Kriegsbeginn. Und das sind nur die Deutschen. Bommarius zählt auf, dass bis Anfang Mai 1945 noch 1,5 Millionen Rotarmisten umkommen werden, mehr als 100 000 amerikanische und britische Soldaten und Hunderttausende Häftlinge der Konzentrationslager, die die Deutschen bis dahin ermorden. Die europäischen Juden haben sie zu diesem Zeitpunkt schon fast alle umgebracht, weit im Osten, in Polen, Weißrussland und der Ukraine – vergast in Vernichtungslagern wie Auschwitz, Majdanek oder Maly Trostinez, erschossen in Dörfern, auf Feldern und in Wäldern. Eine unvorstellbare Zahl getöteter Menschen. Hinzu kommen die Soldaten und Zivilisten anderer Nationen; insgesamt sterben im Zweiten Weltkrieg 60 bis 70 Millionen Menschen, in der Mehrzahl Zivilisten, unter ihnen sind 27 Millionen Bürger der Sowjetunion und sechs Millionen Polen.
Ein blutgetränktes, entsetzliches Tableau also, das Christian Bommarius wohl auch deshalb auf den Sommer 1944 verengt, weil dieser nun bald 80 Jahre zurückliegt. Die Konzentration auf die drei, vier Sommermonate des Jahres 1944 erweist sich aber bei näherem Hinsehen als Schein: Ohne Vor- und Rückgriffe auf das Frühjahr und den Winter 1944 sowie auf die Jahre 1943 und 1945 und ohne mehrere Exkurse konnte auch der souveräne und kenntnisreiche Erzähler Bommarius seines Themas nicht Herr werden. Von einem Krieg und schon gar von diesem lässt sich ohne die Vorgeschichte und den historisch-politischen Hintergrund nicht berichten. Allerdings ist Bommarius, was diese Zusammenhänge betrifft, ein Freund äußerster Reduktion. Es geht also nicht um Schlachtverläufe oder um Politik und Strategie der Alliierten, die nach der Landung in Frankreich und nach der Zerschlagung der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront Ende Juni Deutschland von zwei Seiten in die Zange nehmen.
Bommarius ist ein geschickter Arrangeur von Stimmen, Erlebnissen und Ereignissen. Es gelingt ihm so, eine Schneise durch den kaum noch zu durchdringenden Dschungel der Literatur über den Zweiten Weltkrieg, den Nationalsozialismus und die Shoah zu schlagen. Augenzeugenberichte, Tagebucheinträge, biografisches Material tragen sein Buch. Erfunden hat Christian Bommarius diese Art der Montage nicht; Bücher, die so oder ähnlich vorgehen, gibt es mittlerweile einige, auch zum Zweiten Weltkrieg.
Wie wenige aber beherrscht Bommarius die Kunst, die Perspektiven ganz unterschiedlicher Menschen auf die Geschehnisse einiger Tage und Wochen zu einem dichten Gewebe zu verknüpfen, in das sich die Leserinnen und Leser gleichsam einhüllen können – je nach Verfasstheit staunend, ergriffen, entsetzt, erschüttert, wütend. . . Außer Verfolgten oder Ausgegrenzten wie der Jüdin Margot Friedländer und dem Deutsch-Kameruner Theodor Michael kommen auch Männer wie jene deutschen Generäle zu Wort, deren mitleidloses, krudes Geschwätz die Briten im Gefangenenlager Trent Park mithörten; oder Hitlers willfährige Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Bommarius versammelt noch viele andere mittlerweile nicht mehr allzu bekannte, aber auf ihre Art jeweils illustre Protagonisten wie die mutige Berliner Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich und den englischen Schriftsteller Patrick Leigh Fermor, der 1944 auf Kreta einen deutschen General entführte. Oder den einst legendären Publizisten Erich Kuby, der 1944 Gefreiter in Frankreich war. Joel Berger, einen jüdischen Jungen aus Budapest, der später Landesrabbiner von Württemberg wurde. Den hessischen Justizangestellten Friedrich Kellner, der erst offen, dann in seinen Tagebüchern eine zwölfjährige wütende Auseinandersetzung mit den Nazis führte. Ihm und dem deutschen Hauptmann Wilm Hosenfeld, der im zerstörten Warschau verfolgten Juden half, wie auch Mordechai Papirblat, der Auschwitz und einen „Todesmarsch“ im Februar 1945 überlebte, gelten die erwähnten Exkurse.
In einer Nachbemerkung, entstanden vor den großen Demonstrationen gegen die AfD und ihre Pläne in diesen Tagen, schlägt Christian Bommarius den Bogen vom mörderischen Sommer 1944 zurück zum Versagen der Weimarer Republik vor ihren Feinden. Was man vor Kurzem vielleicht noch als Pflichtübung eines engagierten Autors empfunden hätte, liest man jetzt mit anderen Augen. Die letzten Kriegsmonate und der Weg dorthin liegen nicht so fern, wie es scheint.
CORD ASCHENBRENNER
Christian Bommarius:
Todeswalzer.
Der Sommer 1944. dtv München, 2024.
320 Seiten. 26 Euro.
E-Book: 22 Euro.
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