Exklusive Entdeckung der haitianischen Klassikerin des 20. Jahrhunderts: «Weltliteratur.» Libération
Port-au-Prince, Haiti, Anfang der 1940er Jahre. Die junge Lotus gehört der herrschenden «mulattischen» Gesellschaftsschicht an. Doch als Tochter einer Prostituierten ist sie stigmatisiert und hat für Männer nur Verachtung übrig. «Weil sie meine Mutter gestohlen haben, sind sie meine schlimmsten Feinde.» Sie führt ein Leben in Langeweile und zerstreut sich mit oberflächlichen Männerbekanntschaften. Unter ihnen ist nur einer, zu dem sie sich wirklich hingezogen fühlt: Georges Caprou, einer der Führer der Opposition gegen das herrschende Regime. Er öffnet Lotus die Augen für das Elend der Menschen in Haiti. Also gibt sie ihr ausschweifendes Leben auf, um den Ärmsten in ihrem Viertel zu helfen. Dabei wird sie von ihrem Nachbarn, dem alten Charles, unterstützt. Lotus und Caprou führen eine Beziehung mit Wechselbädern, die durch den revolutionären Kampf, dem sich Lotus angeschlossen hat, zusammengeschweißt wird. Die von ihnen entfachten Unruhen führen zum Sturz der Regierung. Doch auf die Begeisterung folgt die Ernüchterung: Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet. Denn sobald sie von ihren Unterdrückern befreit sind, kehren die Menschen im Land zu ihren alten Dämonen zurück, der Rivalität zwischen Schwarzen und «Mulatten». Von der Polizei gejagt, verstecken sich Lotus und Caprou in den Bergen, wo sich die Ereignisse weiter zuspitzen ...
Schnörkellos erzählt, eindringlich, kraftvoll und ergreifend besticht Marie Vieux-Chauvet in «Töchter Haitis» durch ihre Weitsicht: 1957, drei Jahre nachdem sie diesen Roman schrieb, ergriff der blutrünstige Diktator Duvalier die Macht, wobei ihm die Konkurrenz von Schwarzen und «Mulatten» in die Hände spielte.
Port-au-Prince, Haiti, Anfang der 1940er Jahre. Die junge Lotus gehört der herrschenden «mulattischen» Gesellschaftsschicht an. Doch als Tochter einer Prostituierten ist sie stigmatisiert und hat für Männer nur Verachtung übrig. «Weil sie meine Mutter gestohlen haben, sind sie meine schlimmsten Feinde.» Sie führt ein Leben in Langeweile und zerstreut sich mit oberflächlichen Männerbekanntschaften. Unter ihnen ist nur einer, zu dem sie sich wirklich hingezogen fühlt: Georges Caprou, einer der Führer der Opposition gegen das herrschende Regime. Er öffnet Lotus die Augen für das Elend der Menschen in Haiti. Also gibt sie ihr ausschweifendes Leben auf, um den Ärmsten in ihrem Viertel zu helfen. Dabei wird sie von ihrem Nachbarn, dem alten Charles, unterstützt. Lotus und Caprou führen eine Beziehung mit Wechselbädern, die durch den revolutionären Kampf, dem sich Lotus angeschlossen hat, zusammengeschweißt wird. Die von ihnen entfachten Unruhen führen zum Sturz der Regierung. Doch auf die Begeisterung folgt die Ernüchterung: Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet. Denn sobald sie von ihren Unterdrückern befreit sind, kehren die Menschen im Land zu ihren alten Dämonen zurück, der Rivalität zwischen Schwarzen und «Mulatten». Von der Polizei gejagt, verstecken sich Lotus und Caprou in den Bergen, wo sich die Ereignisse weiter zuspitzen ...
Schnörkellos erzählt, eindringlich, kraftvoll und ergreifend besticht Marie Vieux-Chauvet in «Töchter Haitis» durch ihre Weitsicht: 1957, drei Jahre nachdem sie diesen Roman schrieb, ergriff der blutrünstige Diktator Duvalier die Macht, wobei ihm die Konkurrenz von Schwarzen und «Mulatten» in die Hände spielte.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Hans Christoph Buch kommt es einem Wunder gleich, was dem Münchner Menasse Verlag gelungen ist: die Herausgabe eines gelungen übersetzten "Klassikers aus und über Haiti", der zugleich ein "Meilenstein der Frauenliteratur" ist und auch noch von einem aufrichtigen, sich keinem "Denkverboten" beugenden Nachwort begleitet werde. Marie Vieux-Chauvet erzählt in ihrem Roman von der jungen Frau Lotus, ihrem Alter-Ego, die als "Mulattin" (der Begriff, der so auch im Roman verwendet wird, warnt Buch) im postkolonialen Haiti einen "schmerzvollen Prozess weiblicher Selbsterkundung" durchläuft. Dabei erfahre der Leser durch die politisch weitsichtige Perspektive der Protagonistin vieles über die Doppelmoral, die Haiti damals sowohl in Bezug auf den zwischen Schwarzen und "Mulatten" herrschenden Rassismus prägte, als auch in Bezug auf patriarchale Strukturen, so Buch. Außerdem merkt er dem in den 50er Jahren entstandenen Roman den großen Erfahrungsschatz der Autorin an, die den damaligen Kampf gegen die postkolonialen Strukturen miterlebte. Ein wichtiger Roman gerade für die Kenntnis der Haitianischen Geschichte im westlichen Raum, lobt Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2022Eine Frau stellt ihr ganzes Land infrage
Der Roman "Töchter Haitis" von Marie Vieux-Chauvet ist ein zeitloser Klassiker, der die postkoloniale Doppelmoral entlarvt
Ein Wunder ist zu vermelden: Im Münchner Manesse Verlag erschien soeben ein moderner Klassiker aus und über Haiti und zugleich ein Meilenstein der Frauenliteratur, sorgfältig übersetzt und mustergültig kommentiert ohne Konzessionen an Denkverbote, deren Engstirnigkeit die Lektüre postkolonialer Texte unnötig erschwert und manchmal zur Qual werden lässt. Dieser Roman, "Töchter Haitis" von Marie Vieux-Chauvet, ist das Gegenbuch zu Graham Greenes Bestseller "The Comedians" (nach wie vor lesens- und sehenswert als Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton) und erzählt die Genese des tropischen Faschismus von "Papa Doc" Duvalier nicht aus der Perspektive von Haiti begeisterten Touristen, sondern aus der Innenansicht einer jungen Frau
Einer Mulattin, genauer gesagt: Dass diese zum Unwort erklärte Selbstbezeichnung der hellhäutigen Oberschicht von Haiti hier nicht politisch korrekt umschrieben, sondern beibehalten wird, dürfte schockierend für militante "Woke"-Anhänger sein, die nicht wissen, dass der Begriff "nèg" auf Kreolisch gar nichts Herabsetzendes hat, sondern einfach nur Mensch oder Mann bedeutet. (Als ich einmal in einer Podiumsdiskussion darauf hingewiesen hatte, wurde ich aus der Debatte ausgeschlossen - das aber hier nur in Klammern.)
Lotus, die Protagonistin des Romans, deren Mutter sich prostituiert, um ihrer Tochter den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, entdeckt in ihrem schmerzvollen Prozess weiblicher Selbsterkundung, dass die traditionelle Kolonialherrschaft seit Haitis blutig erkämpfter Unabhängigkeit ersetzt wurde durch einen neuen Rassismus, der schwer zu durchschauen und zu bekämpfen ist, weil er unausgesprochen bleibt.
Anstelle des Antagonismus von Sklaven und Kolonialherren trat der Klassenkampf der schwarzen Bevölkerungsmehrheit gegen die Mulattenbourgeoisie: Die politische Macht ging an Schwarze über, Besitz und Bildung aber blieben Privilegien der hellhäutigen Elite. Mit sozialem Hass gepaarter Sexualneid verband sich mit Vorurteilen, die, wie die Judenfeindschaft in Europa, bei Bedarf demagogisch mobilisiert und manipuliert werde konnten - "Noirisme" ist der Fachausdruck dafür. Und das vor dem Hintergrund einer patriarchalischen Gesellschaft, die hinter der Fassade erotischer Freizügigkeit und karibischer Fröhlichkeit frauenfeindliche Strukturen konserviert - zweifache Doppelmoral, wenn man so will.
Den vorliegenden Roman schrieb Marie Vieux-Chauvet Anfang der Fünfzigerjahre, als Haitis starre postkoloniale Hierarchie endlich in Bewegung geriet. Nach fast zwanzigjähriger Okkupation des Inselstaats, die auch der Eindämmung des vor dem Ersten Weltkrieg dominierenden deutschen Einflusses diente, zogen die US-Marines aus Haiti ab. Sie hinterließen eine modernisierte Infrastruktur - Straßen, Schulen und Hospitäler -, aber unter dem Eindruck der Fremdherrschaft besannen Haitis Intellektuelle sich auf ihr afrikanisches Erbe und machten den von Kirche und Staat bekämpften Voodoo salonfähig.
Gleichzeitig lasen sie Freud und Marx und verknüpften die Rückbesinnung auf ihre kulturellen Wurzeln mit revolutionären Impulsen, für die stellvertretend der Surrealismus stand. Ein Vortrag von André Breton in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince Anfang 1946 löste eine Studentenrevolte aus, deren Anführer verhaftet wurden. Das wiederum führte zum Generalstreik, die Regierung stürzte, und Breton meinte später, in Haiti habe der Surrealismus eine veritable Revolution bewirkt.
Diese und andere Erfahrungen sind in Marie Vieux-Chauvets Roman eingegangen. Beim Protest gegen die amerikanischen Besatzer zogen Schwarze und Mulatten, wie einst im Widerstand gegen Frankreichs Kolonialregime, am gleichen Strang. Doch bald fanden sie sich auf verschiedenen Seiten der Barrikade wieder. Papa Doc hatte nach eigenem Bekunden von Hitler gelernt: Seine Killerkommandos, die Tontons Macoutes, waren von der SA inspiriert, während Jacques Roumain, Romancier und Gründer der Kommunistischen Partei Haitis, Stalin verehrte und Trotzkis Ermordung in Mexiko, wo er als Botschafter seines Landes amtierte, guthieß.
Es spricht für den politischen Weitblick der angehenden Autorin Lotus (das Alter Ego der Verfasserin im Roman), dass sie kommunistische Widerstandsgruppen in ihrem Haus empfängt und aktiv unterstützt, es aber ablehnt, sich der Parteidoktrin unterzuordnen und ihre Selbstverwirklichung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag nach dem Sieg der Revolution zu verschieben: "Leiden, wozu denn, großer Gott? Als machte es sich einen Spaß daraus, vervielfachte das Leben Not und Elend um mich herum; ich würde meine ganze Zeit damit verbringen, an andere zu denken, ohne ihren Qualen abhelfen zu können! Wozu sollte das gut sein?"
Literatur aus und über Haiti tut sich schwer im deutschen Sprachraum, denn das Armenhaus der westlichen Welt hat eine tragische Geschichte, ohne deren Kenntnis vieles unverständlich bleibt. Marie Vieux-Chauvet, die auch Theaterstücke schrieb, gehört zu den wenigen Autorinnen, denen es gelang, aus dem folkloristischen Ghetto auszubrechen, in das die haitianische Kultur sich zurückzog - Stichworte Voodoo und Karneval. Ihr in lesbares Deutsch übersetzter Erstlingsroman besticht dadurch, dass und wie die weibliche Selbstfindung der Ich-Erzählerin Lotus eingebettet ist in einen sozialen Kontext, der von der großen Politik bis zu den kleinen Leuten reicht, vom bibelgläubigen Schuster bis zur Dienstmagd, deren Hassliebe zu ihrer Herrin einem double bind gleicht. Unvergesslich ist das Porträt eines gegen die Korruption aufbegehrenden Intellektuellen, in den Lotus sich verliebt, während er sich um Kopf und Kragen redet: "Ich habe geschworen, an der Seite meines Volkes für die Errichtung einer gerechten und freien Gesellschaft zu streiten. Unser Land steht am Abgrund, also lasst es uns mit vereinten Kräften retten, indem wir auslöschen, was es schwächt: Armut, Unwissenheit, Dreck . . ."
"Er ist betrunken", sagt jemand im Hintergrund des Raums. "Und unvorsichtig", antwortet ihm ein anderer.
HANS CHRISTOPH BUCH
Marie Vieux-Chauvet: "Töchter Haitis". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Lemmens. Nachwort von Kaiama L. Glover. Manesse Verlag, München 2022. 282 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Roman "Töchter Haitis" von Marie Vieux-Chauvet ist ein zeitloser Klassiker, der die postkoloniale Doppelmoral entlarvt
Ein Wunder ist zu vermelden: Im Münchner Manesse Verlag erschien soeben ein moderner Klassiker aus und über Haiti und zugleich ein Meilenstein der Frauenliteratur, sorgfältig übersetzt und mustergültig kommentiert ohne Konzessionen an Denkverbote, deren Engstirnigkeit die Lektüre postkolonialer Texte unnötig erschwert und manchmal zur Qual werden lässt. Dieser Roman, "Töchter Haitis" von Marie Vieux-Chauvet, ist das Gegenbuch zu Graham Greenes Bestseller "The Comedians" (nach wie vor lesens- und sehenswert als Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton) und erzählt die Genese des tropischen Faschismus von "Papa Doc" Duvalier nicht aus der Perspektive von Haiti begeisterten Touristen, sondern aus der Innenansicht einer jungen Frau
Einer Mulattin, genauer gesagt: Dass diese zum Unwort erklärte Selbstbezeichnung der hellhäutigen Oberschicht von Haiti hier nicht politisch korrekt umschrieben, sondern beibehalten wird, dürfte schockierend für militante "Woke"-Anhänger sein, die nicht wissen, dass der Begriff "nèg" auf Kreolisch gar nichts Herabsetzendes hat, sondern einfach nur Mensch oder Mann bedeutet. (Als ich einmal in einer Podiumsdiskussion darauf hingewiesen hatte, wurde ich aus der Debatte ausgeschlossen - das aber hier nur in Klammern.)
Lotus, die Protagonistin des Romans, deren Mutter sich prostituiert, um ihrer Tochter den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, entdeckt in ihrem schmerzvollen Prozess weiblicher Selbsterkundung, dass die traditionelle Kolonialherrschaft seit Haitis blutig erkämpfter Unabhängigkeit ersetzt wurde durch einen neuen Rassismus, der schwer zu durchschauen und zu bekämpfen ist, weil er unausgesprochen bleibt.
Anstelle des Antagonismus von Sklaven und Kolonialherren trat der Klassenkampf der schwarzen Bevölkerungsmehrheit gegen die Mulattenbourgeoisie: Die politische Macht ging an Schwarze über, Besitz und Bildung aber blieben Privilegien der hellhäutigen Elite. Mit sozialem Hass gepaarter Sexualneid verband sich mit Vorurteilen, die, wie die Judenfeindschaft in Europa, bei Bedarf demagogisch mobilisiert und manipuliert werde konnten - "Noirisme" ist der Fachausdruck dafür. Und das vor dem Hintergrund einer patriarchalischen Gesellschaft, die hinter der Fassade erotischer Freizügigkeit und karibischer Fröhlichkeit frauenfeindliche Strukturen konserviert - zweifache Doppelmoral, wenn man so will.
Den vorliegenden Roman schrieb Marie Vieux-Chauvet Anfang der Fünfzigerjahre, als Haitis starre postkoloniale Hierarchie endlich in Bewegung geriet. Nach fast zwanzigjähriger Okkupation des Inselstaats, die auch der Eindämmung des vor dem Ersten Weltkrieg dominierenden deutschen Einflusses diente, zogen die US-Marines aus Haiti ab. Sie hinterließen eine modernisierte Infrastruktur - Straßen, Schulen und Hospitäler -, aber unter dem Eindruck der Fremdherrschaft besannen Haitis Intellektuelle sich auf ihr afrikanisches Erbe und machten den von Kirche und Staat bekämpften Voodoo salonfähig.
Gleichzeitig lasen sie Freud und Marx und verknüpften die Rückbesinnung auf ihre kulturellen Wurzeln mit revolutionären Impulsen, für die stellvertretend der Surrealismus stand. Ein Vortrag von André Breton in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince Anfang 1946 löste eine Studentenrevolte aus, deren Anführer verhaftet wurden. Das wiederum führte zum Generalstreik, die Regierung stürzte, und Breton meinte später, in Haiti habe der Surrealismus eine veritable Revolution bewirkt.
Diese und andere Erfahrungen sind in Marie Vieux-Chauvets Roman eingegangen. Beim Protest gegen die amerikanischen Besatzer zogen Schwarze und Mulatten, wie einst im Widerstand gegen Frankreichs Kolonialregime, am gleichen Strang. Doch bald fanden sie sich auf verschiedenen Seiten der Barrikade wieder. Papa Doc hatte nach eigenem Bekunden von Hitler gelernt: Seine Killerkommandos, die Tontons Macoutes, waren von der SA inspiriert, während Jacques Roumain, Romancier und Gründer der Kommunistischen Partei Haitis, Stalin verehrte und Trotzkis Ermordung in Mexiko, wo er als Botschafter seines Landes amtierte, guthieß.
Es spricht für den politischen Weitblick der angehenden Autorin Lotus (das Alter Ego der Verfasserin im Roman), dass sie kommunistische Widerstandsgruppen in ihrem Haus empfängt und aktiv unterstützt, es aber ablehnt, sich der Parteidoktrin unterzuordnen und ihre Selbstverwirklichung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag nach dem Sieg der Revolution zu verschieben: "Leiden, wozu denn, großer Gott? Als machte es sich einen Spaß daraus, vervielfachte das Leben Not und Elend um mich herum; ich würde meine ganze Zeit damit verbringen, an andere zu denken, ohne ihren Qualen abhelfen zu können! Wozu sollte das gut sein?"
Literatur aus und über Haiti tut sich schwer im deutschen Sprachraum, denn das Armenhaus der westlichen Welt hat eine tragische Geschichte, ohne deren Kenntnis vieles unverständlich bleibt. Marie Vieux-Chauvet, die auch Theaterstücke schrieb, gehört zu den wenigen Autorinnen, denen es gelang, aus dem folkloristischen Ghetto auszubrechen, in das die haitianische Kultur sich zurückzog - Stichworte Voodoo und Karneval. Ihr in lesbares Deutsch übersetzter Erstlingsroman besticht dadurch, dass und wie die weibliche Selbstfindung der Ich-Erzählerin Lotus eingebettet ist in einen sozialen Kontext, der von der großen Politik bis zu den kleinen Leuten reicht, vom bibelgläubigen Schuster bis zur Dienstmagd, deren Hassliebe zu ihrer Herrin einem double bind gleicht. Unvergesslich ist das Porträt eines gegen die Korruption aufbegehrenden Intellektuellen, in den Lotus sich verliebt, während er sich um Kopf und Kragen redet: "Ich habe geschworen, an der Seite meines Volkes für die Errichtung einer gerechten und freien Gesellschaft zu streiten. Unser Land steht am Abgrund, also lasst es uns mit vereinten Kräften retten, indem wir auslöschen, was es schwächt: Armut, Unwissenheit, Dreck . . ."
"Er ist betrunken", sagt jemand im Hintergrund des Raums. "Und unvorsichtig", antwortet ihm ein anderer.
HANS CHRISTOPH BUCH
Marie Vieux-Chauvet: "Töchter Haitis". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Lemmens. Nachwort von Kaiama L. Glover. Manesse Verlag, München 2022. 282 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein Wunder ist zu vermelden: im Münchner Manesse Verlag erschien soeben ein moderner Klassiker aus und über Haiti und zugleich ein Meilenstein der Frauenliteratur, sorgfältig übersetzt und mustergültig kommentiert ohne Konzessionen an Denkverbote, deren Engstirnigkeit die Lektüre postkolonialer texte unnötig erschwert und manchmal zur Qual werden lässt.« FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hans-Christoph Buch