Produktdetails
  • Verlag: AST
  • Artikelnr. des Verlages: 4083
  • Seitenzahl: 350
  • Russisch
  • Gewicht: 306g
  • ISBN-13: 9785170265442
  • ISBN-10: 5170265441
  • Artikelnr.: 14462682
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Viktrorija Tokarjewa, geb. 1937 in St. Petersburg, arbeitete kurze Zeit als Klavierlehrerin, bevor sie nach Moskau ging, um an der Filmhochschule das Drehbuchschreiben zu lernen. Seit 1964 ist sie Schriftstellerin. Sie lebt heute meist auf ihrer Datscha bei Moskau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2006

Suche Ingenieur, biete Körper
Steppenwölfin: Viktorija Tokarjewas russische Seifenoper

Es beginnt mit einem Motiv aus einem russischen Volkslied, dem Glücksvogel des morgigen Tages, den alle Glücksuchenden herbeisehnen: "Flieg zu mir." Das Motiv kehrt im Verlauf der Handlung immer wieder, bis am Ende die Sehnsucht nach dem Vogel einer anderen Erkenntnis weicht. "Nadka verstand. Ihr Glück hatte nicht die Form eines Vogels, sondern es sah eher wie eine junge Wölfin aus, die umherstreifte, etwas riskierte und nie wußte, wie ihr Tag enden würde." Es ging ihr um das Abenteuer der Jagd, um die Beute.

Nadka ist die Protagonistin des neuen Romans "Glücksvogel" von Viktorija Tokarjewa. Rasch erfährt der Leser, daß sie auf ihrer Jagd nach Glück eine späte Verwandte von Nana ist. War es bei Zola die korrumpierte Pariser Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs, so ist es hier der russische Frühkapitalismus. Wie Nana besitzt Nadka zunächst nichts weiter als ihren jungen Körper. Er wird ihr Einsatz im Roulette des Lebens, das in Armut und mit wenig Zuwendung beginnt. Nadka ist das zur Unzeit geborene Kind einer Studentenliebe. Sie wächst bei den Großeltern auf dem Land auf, bis die Mutter in der Lage ist, für die Tochter zu sorgen und mit ihr die Zweizimmerwohnung in Moskau zu teilen. Die Phantasie der Heranwachsenden richtet sich nicht auf Bildung und Beruf, sondern auf rein Materielles, für das ihr früh die Klatschspalten ein Muster vorgeben. Nahrung liefert die bei ihren Großeltern gesammelte Zeitschrift "Amerika", aus denen sie alles über Jackie und Onassis erfährt. Wie die Präsidentenwitwe möchte sie einen Millionär heiraten. Das wird ihr Lebensprogramm, der Reigen beginnt.

Nadkas Talent besteht in der sexuellen Verführungsmacht. Ihre ersten zwei Eroberungen sind biedere Deutsche, Günther, der Ingenieur, und Rainer, ein "Chef", der sich später als Alkoholiker herausstellt. Beide sind nur Mittel zum Zweck, um dem Land der Sowjets zu entkommen. Von Moskau geht es weiter nach Paris, dort winkt ein lukratives Abenteuer mit Jean-Marie, einem Spieler und "erstklassigen Halsabschneider". Mit der Perestrojka zieht es Nadka zurück nach Moskau. Die Stadt hat sich verändert, Goldgräbermentalität greift um sich: "Jetzt lebten die Onassise auch hier." Ihrer Skrupellosigkeit fallen Juweliere, Kunsthändler, Bankiers und Politiker zum Opfer.

Jeder betrügt jeden - diesem einfachen Mechanismus eines Gesellschaftsspiels folgt die Erzählung in der Aneinanderreihung aller nur erdenklichen Klischees. Der Ort des Geschehens spielt kaum noch eine Rolle. Nicht nur die fiktiven Fälle dieser Erzählung zeigen, daß es auch international funktioniert. Das beiläufige Erwähnen realer Namen bringt den Bezug zur Realität. Denn die hat, bei aller plakativen Verknappung, die 1937 in St. Petersburg geborene, in Moskau lebende Tokarjewa fest im Blick. So lesen wir beiläufig, "daß auch Ford sein erstes Kapital auf kriminellem Wege erworben hatte, ganz zu schweigen von den russischen Oligarchen". Zola verglich seine blonde Nana mit einer "mouche dorée", einer schillernden Fliegenart, die sich von Fäulnis ernährt. Tokarjewa wählt den Vergleich mit einem Jagdtier. Dazu gehören eine instinkthafte Strategie und eine Wachsamkeit, die andauernd auf der Lauer liegt. Unter Nadkas Vorfahren hat es einen Mongolen gegeben, daher die asiatischen Gesichtszüge und das feste, schwarze Haar. Doch die moderne Steppennomadin strebt wie Nana - und eigentlich ja wie wir alle - nach Seßhaftigkeit und Anerkennung.

Das alles ist, mit seinen einfachen, kurzen Sätzen und der saloppen Ausdrucksweise, in einem Erzählstil gehalten, der nur gelegentlich Distanz zum Beschriebenen hält; er bleibt auf dem Niveau des betrügerischen Personals. Vielleicht ist einiges der bei dieser Übersetzerin doch etwas überraschend ungelenken Übertragung anzulasten. Die Träume, um die es hier geht, sind nach dem Muster von soap operas angefertigt.

BARBARA CATOIR

Viktorija Tokarjewa: "Glücksvogel". Roman. Aus dem Russischen von Angelika Schneider. Verlag Diogenes, Zürich 2005. 293 S., geb., 19,90 [Euro].

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