Tokio, 5. Juli 1949. Sadanori Shimoyama, Präsident der Nationalen Japanischen Eisenbahngesellschaft, verschwindet spurlos - einen Tag nachdem er die Entlassung von 30.000 Angestellten verkünden musste. Die amerikanischen Besatzer führen in dem kriegsversehrten, gedemütigten Land umfassende Reformen durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Auf den Straßen herrschen Gewalt und Chaos, die Kommunisten gewinnen an Einfluss, was die Amerikaner mit allen Mitteln verhindern wollen. Detective Harry Sweeney aus der Abteilung für öffentliche Sicherheit leitet die Vermisstensuche, auf direkten Befehl von General MacArthurs Hauptquartier. Doch dann wird der verstümmelte Leichnam Shimoyamas gefunden. Der Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft wurde von einem Zug überrollt. Hat er Selbstmord begangen, aus Verzweiflung darüber, Abertausend Menschen ins Elend zu stürzen? Oder waren die Kommunisten für seinen Tod verantwortlich? Der Krieg ist vorbei, aber die dunklen Schatten der Vergangenheit werden immer länger ...
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Sylvia Staude verortet den britischen Autor David Peace auf einem "einzigartigen Außenposten" der Kriminalliteratur. Wie bereits in seinen vorigen Romanen widmet sich Peace, der lange in Japan lebte, auch in "Tokio, neue Stadt" einem historischen Verbrechen, dem mysterösen Tod des Eisenbahnchefs Sadanori Shimoyama, der kurz zuvor 30.000 Arbeiter entlassen wollte. Wie Staude von Peace erfährt, liegen die Akten zum Fall bei der CIA noch immer unter Verschluss. Herausragend macht diesen Roman für die Rezensentin jedoch nicht die Handlung, die ihr tatsächlich viel über die Besatzungszeit vermittelt, sondern in der hypnotisierenden Sprache, dem rhythmischen Sound, der sie tief in die Dunkelheit hinabzieht, die um die Figuren herum und in ihrem tiefesten Inneren herrsche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2021Das Flüstern am Telefon
Wenn dreißigtausend Leute verdächtig sind: David Peace blickt im dritten Band seiner Tokio-Trilogie auf einen mysteriösen Todesfall und stellt sein Gespür für Stil unter Beweis.
Am 5. Juli 1949 verschwindet Sadanori Shimoyama auf dem Weg zur Arbeit. Einen Tag später werden seine Überreste an den Gleisen im Adachi-Distrikt von Tokio gefunden. Der Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft wurde von einem Zug überrollt. Viel ist nicht von ihm übrig, hier ein Arm, dort ein Fuß. Da es auch noch in Strömen regnet, gestaltet sich die Spurensicherung fast unmöglich. Bleibt die Frage: Mord oder Selbstmord?
Mindestens dreißigtausend Menschen haben ein Motiv: Sie wurden gerade von Shimoyama entlassen. Die Maßnahme soll den Einfluss der Kommunistischen Partei auf die Eisenbahnergewerkschaft auflösen. So jedenfalls wünschen sich das die japanische Regierung und die amerikanischen Besatzer.
David Peace, 1967 im englischen Ossett geboren, hat den letzten Band seiner Tokio-Trilogie dem Fall Shimoyama gewidmet. In drei Teilen erzählt er von drei Männern, die direkt oder über Bande damit zu tun haben: Harry Sweeney als Ermittler, Murota Hideki als Privatdetektiv fünfzehn Jahre später, Donald Reichenbach, der sich 1988 als Lehrer in Japan verdingt. Rund zehn Jahre hat Peace mit ungebrochener Routine an dem Krimi gearbeitet, von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags, sieben Tage die Woche. In einem Gespräch, das er für den Guardian mit seinem Kollegen David Mitchell führte, bekennt Peace, sein Vertrauen in die eigenen Qualitäten als Autor sei dramatisch geschwunden. Zuweilen fühle er sich aufgrund von Selbstzweifeln regelrecht gelähmt.
Wer "Tokio, neue Stadt" liest, könnte auf die Idee kommen, in dieser Auskunft stecke mehr als ein Gran Koketterie. Denn nur selten vereinen sich Inhalt und Form auf vierhundert Seiten Genreliteratur zu einem so stimmigen Gesamtgefüge. Nimmt man die paratextuellen Signale des Romans ernst, bekommt man schon vor Handlungsbeginn eine Vorstellung von seinen wichtigsten Sujets: Zeit und Rhythmus.
Auf den ersten Seiten finden sich das Foto einer Uhr und ein Gedicht über den Fall Shimoyama. Der temporale Aspekt erschöpft sich indes nicht darin, dass der Plot knapp vierzig Jahre umfasst. Wichtiger ist die Organisation des Geschehens. Peace tut so, als würde er konventionell und linear erzählen, rekapituliert aber fortwährend bereits Gesagtes, blickt mit den immer gleichen Einlassungen zurück in die Vergangenheit oder führt mit einer Randbemerkung eine Figur ein, die erst viel später an Bedeutung gewinnt.
Gerade die Wiederholungen geben dem Roman einen Takt, der im besten Sinne irritiert. So streut der Autor etwa folgenden, auf einen rätselhaften Anruf vom Beginn der Handlung verweisenden Satz ständig in den Text: "Zu spät, flüsterte die Stimme eines Japaners, dann war sie verschwunden, die Leitung tot, die Verbindung abgebrochen." Einmal heißt es über Harry Sweeney: "Hier, irgendwo im Nirgendwo, stieg er aus und sah am Lagerhaus aus Beton, Eisen und Holz Töne in Grau, Rost und Braun, unzählige schwarze Flecken." Später geht der Ermittler "zum Lagerhaustor hinaus, hinaus in Töne von Grau, Rost und Braun". Wenige Seiten darauf: "Irgendwo im Nirgendwo drehte sich Harry Sweeney auf der Rückbank des Wagens abrupt um, wandte sich ab von Tönen aus Grau und Rost und Braun." Und so fort.
Peace unterstreicht mit solchen rhetorischen Manövern, die einzelnen Kapiteln eine Art Refrain verleihen, die Musikalität seiner Diktion. Prosa gilt für gewöhnlich als ungebundene Sprache, die auf ein Ziel zuführt. Gedichte hingegen geben sich durch formale und inhaltliche Wiederholungen als solche zu erkennen. Setzt der Autor eines Romans auf Elemente der Lyrik, sagt er damit: "Seht her, hier passiert stilistisch Eigenwilliges." Solche Experimente können leicht verunglücken, nicht allerdings bei einem Könner wie Peace. Das Ballett seiner Wörter, Sätze und Wendungen vollzieht sich in harmonischer Perfektion. "Tokio, neue Stadt" ist streckenweise nichts anderes als ein ausgeufertes Gedicht.
Dabei spielt die Verwendung von Adjektiven eine besondere Rolle. Mal fehlen sie ganz, wenige Zeilen später ballen sie sich auf engstem Raum: "Unter ihm erstreckte sich der Fluss, so still und schwarz, so weich und warm, einladend und gastfreundlich, verlockend, so verlockend, immer so verlockend." Anschließend nüchtert Peace seinen Text abermals aus und belässt es bei parataktischen Reihungen, die den Eindruck erwecken, die Poesie lege zugunsten von Wahrhaftigkeit eine Sendepause ein.
Das alles hat den Charakter einer künstlerischen Versuchsanordnung. Deswegen spielt es für "Tokio, neue Stadt" keine Rolle, dass nie geklärt wurde, wie Sadanori Shimoyama ums Leben kam. Interessant ist hier nicht die Frage nach der Wirklichkeit, sondern die Form ihrer Darstellung.
KAI SPANKE
David Peace: "Tokio, neue Stadt". Roman.
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Liebeskind Verlag, München 2021.
432 S., geb., 24.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn dreißigtausend Leute verdächtig sind: David Peace blickt im dritten Band seiner Tokio-Trilogie auf einen mysteriösen Todesfall und stellt sein Gespür für Stil unter Beweis.
Am 5. Juli 1949 verschwindet Sadanori Shimoyama auf dem Weg zur Arbeit. Einen Tag später werden seine Überreste an den Gleisen im Adachi-Distrikt von Tokio gefunden. Der Präsident der Nationalen Eisenbahngesellschaft wurde von einem Zug überrollt. Viel ist nicht von ihm übrig, hier ein Arm, dort ein Fuß. Da es auch noch in Strömen regnet, gestaltet sich die Spurensicherung fast unmöglich. Bleibt die Frage: Mord oder Selbstmord?
Mindestens dreißigtausend Menschen haben ein Motiv: Sie wurden gerade von Shimoyama entlassen. Die Maßnahme soll den Einfluss der Kommunistischen Partei auf die Eisenbahnergewerkschaft auflösen. So jedenfalls wünschen sich das die japanische Regierung und die amerikanischen Besatzer.
David Peace, 1967 im englischen Ossett geboren, hat den letzten Band seiner Tokio-Trilogie dem Fall Shimoyama gewidmet. In drei Teilen erzählt er von drei Männern, die direkt oder über Bande damit zu tun haben: Harry Sweeney als Ermittler, Murota Hideki als Privatdetektiv fünfzehn Jahre später, Donald Reichenbach, der sich 1988 als Lehrer in Japan verdingt. Rund zehn Jahre hat Peace mit ungebrochener Routine an dem Krimi gearbeitet, von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags, sieben Tage die Woche. In einem Gespräch, das er für den Guardian mit seinem Kollegen David Mitchell führte, bekennt Peace, sein Vertrauen in die eigenen Qualitäten als Autor sei dramatisch geschwunden. Zuweilen fühle er sich aufgrund von Selbstzweifeln regelrecht gelähmt.
Wer "Tokio, neue Stadt" liest, könnte auf die Idee kommen, in dieser Auskunft stecke mehr als ein Gran Koketterie. Denn nur selten vereinen sich Inhalt und Form auf vierhundert Seiten Genreliteratur zu einem so stimmigen Gesamtgefüge. Nimmt man die paratextuellen Signale des Romans ernst, bekommt man schon vor Handlungsbeginn eine Vorstellung von seinen wichtigsten Sujets: Zeit und Rhythmus.
Auf den ersten Seiten finden sich das Foto einer Uhr und ein Gedicht über den Fall Shimoyama. Der temporale Aspekt erschöpft sich indes nicht darin, dass der Plot knapp vierzig Jahre umfasst. Wichtiger ist die Organisation des Geschehens. Peace tut so, als würde er konventionell und linear erzählen, rekapituliert aber fortwährend bereits Gesagtes, blickt mit den immer gleichen Einlassungen zurück in die Vergangenheit oder führt mit einer Randbemerkung eine Figur ein, die erst viel später an Bedeutung gewinnt.
Gerade die Wiederholungen geben dem Roman einen Takt, der im besten Sinne irritiert. So streut der Autor etwa folgenden, auf einen rätselhaften Anruf vom Beginn der Handlung verweisenden Satz ständig in den Text: "Zu spät, flüsterte die Stimme eines Japaners, dann war sie verschwunden, die Leitung tot, die Verbindung abgebrochen." Einmal heißt es über Harry Sweeney: "Hier, irgendwo im Nirgendwo, stieg er aus und sah am Lagerhaus aus Beton, Eisen und Holz Töne in Grau, Rost und Braun, unzählige schwarze Flecken." Später geht der Ermittler "zum Lagerhaustor hinaus, hinaus in Töne von Grau, Rost und Braun". Wenige Seiten darauf: "Irgendwo im Nirgendwo drehte sich Harry Sweeney auf der Rückbank des Wagens abrupt um, wandte sich ab von Tönen aus Grau und Rost und Braun." Und so fort.
Peace unterstreicht mit solchen rhetorischen Manövern, die einzelnen Kapiteln eine Art Refrain verleihen, die Musikalität seiner Diktion. Prosa gilt für gewöhnlich als ungebundene Sprache, die auf ein Ziel zuführt. Gedichte hingegen geben sich durch formale und inhaltliche Wiederholungen als solche zu erkennen. Setzt der Autor eines Romans auf Elemente der Lyrik, sagt er damit: "Seht her, hier passiert stilistisch Eigenwilliges." Solche Experimente können leicht verunglücken, nicht allerdings bei einem Könner wie Peace. Das Ballett seiner Wörter, Sätze und Wendungen vollzieht sich in harmonischer Perfektion. "Tokio, neue Stadt" ist streckenweise nichts anderes als ein ausgeufertes Gedicht.
Dabei spielt die Verwendung von Adjektiven eine besondere Rolle. Mal fehlen sie ganz, wenige Zeilen später ballen sie sich auf engstem Raum: "Unter ihm erstreckte sich der Fluss, so still und schwarz, so weich und warm, einladend und gastfreundlich, verlockend, so verlockend, immer so verlockend." Anschließend nüchtert Peace seinen Text abermals aus und belässt es bei parataktischen Reihungen, die den Eindruck erwecken, die Poesie lege zugunsten von Wahrhaftigkeit eine Sendepause ein.
Das alles hat den Charakter einer künstlerischen Versuchsanordnung. Deswegen spielt es für "Tokio, neue Stadt" keine Rolle, dass nie geklärt wurde, wie Sadanori Shimoyama ums Leben kam. Interessant ist hier nicht die Frage nach der Wirklichkeit, sondern die Form ihrer Darstellung.
KAI SPANKE
David Peace: "Tokio, neue Stadt". Roman.
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Liebeskind Verlag, München 2021.
432 S., geb., 24.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main