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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2009

Jeder Satz ein Sprengsatz
Zwei Kriminalromane, die anders als die anderen sind: Wolf Haas reanimiert seinen Helden Simon Brenner, und der Brite David Peace erzählt von "Tokio im Jahr null"

Im Literaturbetrieb hält sich ja hartnäckig die Meinung, es gebe für Kriminalromane oder Thriller todsichere Rezepte, so dass man einfach nur bestimmte Schauplätze, Delikte sowie Rollenmodelle für Gut und Böse nehmen und in möglichst schmucklos unauffälliger Gebrauchsprosa verarbeiten muss - und fertig ist das Buch. Dieser Glaube wird immer wieder bestätigt von Büchern, die sich lesen, als wären sie nach einer Gebrauchsanweisung zusammengeschraubt wie eine Schrankwand, und die bisweilen auch noch zu Bestsellern werden. Dieser Glaube ist eine Macht, er ist, wie jeder Glaube, durch Einsicht nicht auszuhebeln, weshalb auch kaum jemand an ihm irre wird.

Kriminalromane, die anders als die anderen sind, haben es entsprechend schwer. Manchmal kommen sie allerdings aus den verschiedensten Richtungen angeflogen, liegen nebeneinander auf dem Schreibtisch und fangen auf einmal an, quer durch die Zeiten und Welten miteinander zu sprechen. Simon Brenner und Inspektor Minami, das Österreich von heute und Tokyo im Jahr 1946, Wolf Haas, 48, und David Peace, 42, da gibt es erst einmal nicht viel Verbindendes. Aber das kann sich ändern, nach der Lektüre, wenn man festgestellt hat, dass beide Bücher große Sprachinszenierungen im Genre des Kriminalromans sind.

Ich muss gestehen, dass ich Wolf Haas lange gemieden habe. Weil er von zu vielen Feuilletons gelobt wurde, die normalerweise keine Kriminalromane zur Kenntnis nehmen, sofern sich nicht das Kunstetikett draufkleben lässt. Das war ein Fehler, er ließ sich leicht beheben, und deshalb war die Enttäuschung groß, als 2003 nach "Das ewige Leben" Schluss sein sollte - bis jetzt dann doch "Brenner und der liebe Gott" kam.

Brenner, Ex-Polizist, Ex-Detektiv, ist Chauffeur geworden, man nennt ihn den "Herrn Simon", Tabletten halten seine Depressionen in Schach, er chauffiert die zweijährige Tochter eines Bauunternehmers und einer Ärztin, die in Wien eine Abtreibungsklinik betreibt und von sogenannten Lebensschützern belagert wird. Dann ist das Mädchen weg, entführt an einer Tankstelle, Brenner ist arbeitslos und wild entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, etwas langsam, methodisch unorthodox wie immer, aber beharrlich.

Natürlich gibt der ominöse Ich-Erzähler wieder den Ton an, von dem man inzwischen ja weiß, dass er ein Untermieter von Brenners Großeltern war. Er ist notorisch unzuverlässig, weil er gar nicht alles wissen kann, was er zu wissen behauptet, er spricht auch weiterhin in diesem leicht zum Hochdeutschen hin geglätteten österreichischen Idiom, und seine Existenz, die immer schon sehr zweifelhaft war, wird nun vollends zum Mysterium, weil er schließlich im "Ewigen Leben" gestorben ist - aber soll er doch jetzt ruhig aus dem Jenseits erzählen, das stört niemanden, wenn man nur daran denkt, dass Lars Gustafsson schon mal einen Bienenschwarm im Totenschädel eines Zollinspektors zum Erzähler gemacht hat.

Das Untermieter-Ich ist auf der Höhe seines Schwadronierens. Mutwilliges Abschweifen in Absurditäten des Alltags, abseitige Betrachtungen, die zwischen Stammtisch und Oberseminar pendeln, die unterschlagenen Verben, die falschen Weil-Konstruktionen, die kleinen Widerhaken - all das ergibt den Brenner-Sound, der dann zum Beispiel so klingt: "Es gibt ja nichts, was es nicht gibt auf der Welt. Ich sage sogar, das ist der größte Fehler an unserer Welt, dass es nicht wenigstens ein paar Dinge gibt, die es nicht gibt." Da hat er zugleich die eigene Existenz ein bisschen legitimiert und jenen seltsamen Bogen angedeutet, den die Handlung beschreibt, in der auch eine Tafel Schokolade, eine Sickergrube, ein großes Bauprojekt im Prater und eine Südtirolerin eine Rolle spielen.

Denn Wolf Haas ist einer, der angemessen vertrackte Plots entwickelt, aber nicht, wie die Erzähleringenieure, mit einem heimlichen Stolz dauernd die Schaltkreise, Schrauben und Verstrebungen vorführen muss. Für einen Whodunit hat der Roman Spannung genug, aber das ist eben nicht alles, weil die Sprache hier nicht wie eine billige Plastikhülle die ausgefeilte Konstruktion verdeckt. Es ist eher so, dass man sich überhaupt nicht vorstellen kann, dass sich diese Geschichte auf eine andere Weise erzählen ließe - wenn sie nicht wie ein Fernsehkrimi wirken soll.

Auch der Inhalt des neuen Romans von David Peace, der in Deutschland durch sein "Red Riding Quartett" über den Yorkshire-Ripper der siebziger Jahre zumindest unter Krimilesern einigermaßen bekannt wurde, ließe sich referieren wie ein japanischer Ableger der Schwarzen Serie. Ein schuldgeplagter Inspektor, der von seinen Dämonen heimgesucht wird, ein Serienmörder, der im Tokyo des Jahres 1946 junge Frauen umbringt, eine exotische historische Kulisse mit Schwarzmarktgangstern, Polizeiintrigen und viel Blut.

Man hat Peace gern mit James Ellroy verglichen - der hat für "Tokio im Jahr null" auch prompt einen Blurb geliefert: "wie ein Krimi von Kurosawa" -, wegen des unerbittlichen Stakkatos der Sätze, wegen der Drastik und Ungerührtheit in der Beschreibung von Szenen, bei denen sich einem fast der Magen umdrehen kann. Doch die Manie und sprachliche Präzision, mit denen Peace sich in den Köpfen seiner Protagonisten einnistet, ihre Ängste wie ein Mantra ausspricht, ihre Fieberphantasien, wie unter Wiederholungszwang, das geht deutlich über Ellroy hinaus.

Peace' Bücher haben eine ganz eigene, metallisch harte Musikalität. Man muss nicht gleich vom Prosagedicht reden, denkt aber auch schon mal an konkrete Poesie (über deren "sprachtheoretische Grundlagen" Wolf Haas seine Doktorarbeit geschrieben hat!), wenn da Peng! Peng! Peng! und weitere Pengs! so gesetzt sind, dass die Zeilen immer kürzer werden und schließlich ein Druckbild ergeben, das einem gleichseitigen Dreieck ähnelt.

David Peace, der 15 Jahre in Japan gelebt hat, schreibt "True Crime"-Geschichten, seine Romane beruhen auf historischen Kriminalfällen, und er ist ein besessener Rechercheur, so dass man sich auch auf die Angaben zu Wetterlage und Temperatur im Tokyo des Jahres 1946 verlassen kann, die über jedem Kapitel stehen. Für realistisch oder dokumentarisch sollte man seine Prosa deshalb allerdings nicht halten. Tokyo nach der Kapitulation, das ist eine Trümmerlandschaft, voller Tod und Schmutz und Hunger, voller Schuldiger und Gedemütigter, in welcher zugleich der Wiederaufbau beginnt. Eine Welt, beschrieben wie in einem Stück rückwärtsgewandter Science-Fiction, in dem die Überlebenden sich wie Gespenster zwischen rauchgeschwärzten Ruinen bewegen, über denen der Gestank verfaulender Aprikosen liegt, "der der Gestank der Toten war".

Das Geräusch der Presslufthämmer ("Ton-ton. Ton-ton."), das Ticken der Uhr ("Chiku-taku. Chiku-taku."), die wiederkehrenden Sätze: "Keiner ist, was er zu sein scheint", das Kratzen, Sich-Jucken und das japanische Wort "gari-gari" für das dabei entstehende Geräusch: Im Kopf des Ich-Erzählers herrscht ein rasender Stillstand, auch wenn die Ermittlung sich langsam voranbewegt - und Peace lässt den Leser nicht hinaus. Er durchschießt Minamis Ich-Erzählung mit Liedfetzen, Erinnerungen an die Grausamkeiten, an denen er als Soldat der japanischen Armee in China beteiligt war, mit Bildern seiner Geliebten, die zusehends irrealer werden.

Was real ist und was Einbildung, wann sich Wahn und Wirklichkeit vermischen, das behält auf den mehr als vierhundert Seiten eine beunruhigende Unschärfe. David Peace ist keiner, der eine Vergangenheit einfach rekonstruiert. Er gräbt sie aus, er bricht sie auf, er lässt dabei keinen Stein auf dem anderen, und deshalb haben seine Sätze oft die Wirkung von Sprengsätzen.

"Say the words for what they are worth", heißt es in Don DeLillos "Unterwelt". In diesen beiden Romanen, die alles haben, was man von einem Kriminalroman erwartet, kann man spüren, was das heißt, wenn jedes Wort, jeder Satz seinen Wert, sein spezifisches Gewicht, seinen Klang hat. Da ist nichts Verpackung. Die Sprache sitzt wie eine Haut, sie zeigt die Runzeln, Risse, Falten, die kleinsten Muskelbewegungen. Und genau deshalb kann man sich auch ohne Mühe zwischen dem Wien der Gegenwart und dem Tokyo der Nachkriegszeit bewegen, ohne historischen Jetlag.

In dieser Unverwechselbarkeit lauert allerdings bei beiden Autoren auch eine Gefahr: dass sich diese Prosa zur Pose verfestigt, dass der Reiz eines bestimmten Tonfalls und seiner Modulationen irgendwann nachlässt. In "Brenner und der liebe Gott" ist das phasenweise schon spürbar, weil die wundersame Wiederauferstehung eines sowieso schon sehr schattenhaften Erzählers dann doch fast zu viel Wunder ist. Bei David Peace dagegen wird aufgerüstet: Wenn man den Rezensionen des in England bereits erschienenen zweiten Teils seiner Tokyo-Trilogie glaubt, gibt es in "Tokyo Occupied City" zwölf einander überlagernde Erzählerstimmen.

PETER KÖRTE

Wolf Haas: "Der Brenner und der liebe Gott". Roman. Hoffmann & Campe, 224 Seiten, 18,99 Euro

David Peace: "Tokio im Jahr null". Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, 416 Seiten, 22 Euro

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