Der international renommierte Kirchenhistoriker Arnold Angenendt behandelt in seinem neuen Buch die heute gängigen Anklagen gegen das Christentum. Die Liste der aufgerechneten "Todsünden" ist lang: Leib- und Geschlechterfeindlichkeit, Erzeugung falscher Schuldgefühle, Anspruch auf alleinseligmachende Wahrheit und damit Intoleranz, Absegnung der Kreuzritter als Beihilfe am Tod unschuldiger Moslems, die Inquisition mit Folterung und Verbrennung der Ketzer wie der Hexen, die Mission als Kolonialkrieg bei Ausrottung ganzer Volksstämme, Antijudaismus als Wegbereiter des Holocaust. Eine "Blutspur" von neun Millionen Opfern habe das Christentum in der Geschichte hinterlassen. In Summe sei es eine altgewordene Weltreligion, die am besten abdanke.
Auf breiter Faktenlage fußend legt Angenendt souverän dar, was die religions-, kultur- und allgemeingeschichtlichen Forschungen zu diesen Anklagen in den letzten zwanzig Jahren erbracht haben. Die Ergebnisse sind frappierend.
Auf breiter Faktenlage fußend legt Angenendt souverän dar, was die religions-, kultur- und allgemeingeschichtlichen Forschungen zu diesen Anklagen in den letzten zwanzig Jahren erbracht haben. Die Ergebnisse sind frappierend.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2006Der zornige Gott
Arnold Angenendt prüft das Christentum auf dessen Toleranz
"Allmächtiger Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer wiederhergestellt", so beginnt das Tagesgebet zum ersten Weihnachtsfeiertag. Gekleidet in den Lobpreis Gottes, betreibt dieser uralte, auf Leo den Großen zurückgehende Text eine religionsgeschichtlich einmalige Erhöhung des Menschen. Geschaffen nach dem Bild Gottes und erneuert durch Christi Erlösung, kommt ihm eine quasigöttliche Würde zu.
Aus diesem Befund wurden, wie der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt zeigt, in Spätantike und Mittelalter weitreichende Folgerungen gezogen. Wegen der Gottebenbildlichkeit verurteilten die Kirchenväter die Sklaverei und frühmittelalterliche Bußbücher den Mord. Der 1241 gestorbene Papst Gregor IX. berief sich zur Begründung seiner Forderung nach Gerechtigkeit für die Juden darauf, daß sie "das Bild des Erlösers besitzen und vom Schöpfer des Alls geschaffen sind". Francisco de Vitoria, einer der bedeutendsten Vertreter der spanischen Spätscholastik, erweiterte dieses Argument drei Jahrhunderte später auf die Indios Südamerikas.
Eine weitere tragende Säule des christlichen Glaubens bildet das Liebesgebot. Die Liebe zu Gott läßt sich freilich ebensowenig erzwingen wie die Liebe zu einem Menschen. Deshalb war nach der übereinstimmenden Auffassung aller frühchristlichen Autoren eine Bekehrung nur dann von Wert, wenn sie aus freien Stücken erfolgte. Die einzige Waffe der Verkündigung durfte danach das Wort sein; Zwangsmissionierung war unzulässig.
Das Verbot von Missionskriegen fand eine weitere Stütze in der hochmittelalterlichen Rezeption der aristotelischen Staatslehre. Danach hatten die Heiden mit den Christen die allgemeinmenschliche Natur gemeinsam. Deshalb konnten sie ein selbständiges Gemeinwesen haben, das naturrechtlich anzuerkennen war und nicht ob des bloßen Heidentums angegriffen werden durfte. "Die Sarazenen sind nicht zu töten", dekretierte die Kanonistik.
Wie aber, wenn sich jemand bekehrt hatte und hernach dem christlichen Glauben untreu wurde? Die Antwort Jesu erblickte man über lange Zeit in dem Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut. Dem "Lasset beides stehen bis zur Ernte" entnahmen die Autoren des ersten christlichen Jahrtausends ein Verbot physischer Gewalt gegen Häretiker und Gotteslästerer. Das Urteil über sie stehe allein Gott zu, der Mensch dürfe es nicht vorwegnehmen.
Damm des Liebesgebotes.
Mit diesen Forderungen traf das Christentum auf religionsgeschichtlich tiefverwurzelte Gegenmächte. So wurde das Verbot Heiliger Kriege von der Kreuzzugsbegeisterung überspült, deren Umwertung des brutalen Kriegsdienstes zur Bußableistung ihrerseits ein Begleiteffekt der großen geistlichen Reformbewegung des Hochmittelalters war. Als besonders wirkungsmächtig erwies sich die Überzeugung, die Vernichtung von Gottesfeinden sei Staatsaufgabe. Bereits im Codex Justinianus war deren Tötung vorgesehen. Gottes Zorn ob der an ihm verübten Schmähung müsse durch die schwerste Strafe besänftigt werden, damit er nicht Erdbeben, Hungersnot und Pestilenz auf die Erde schicke. Dessenungeachtet gab es im ersten christlichen Jahrtausend nur eine einzige Ketzertötung. Noch hielt der Damm des Liebesgebotes stand.
Seit der Jahrtausendwende aber setzten die Verfolgungen ein, nun mit Schwert und Feuer. Auf dem Vierten Lateran-Konzil erhielt das System von kirchlicher Aburteilung und weltlicher Hinrichtung seine kirchenamtliche Bestätigung. Wie verhielten sich die mittelalterlichen Theologen zu dieser neuen Linie? Die Antwort ist nach Angenendt "so kurz wie bestürzend: Sie paßten sich meistenteils an." Selbst der größte unter ihnen, Thomas von Aquin, machte keine Ausnahme. Hartnäckige Ketzer verdienen in seinen Worten "nicht nur von der Kirche durch den Bann ausgeschieden, sondern auch durch den Tod von der Welt ausgeschlossen zu werden".
Auch der frühneuzeitliche Staat beharrte auf einem genuin religiösen Selbstverständnis, gerichtet gegen alle Gottesfeinde, eingeschlossen deren Tötung. Noch im Landrecht für das Königreich Preußen aus dem Jahre 1721 wurde die im Codex Justinianus enthaltene Strafvorschrift samt ihrer dortigen Begründung wiederholt. Der frühneuzeitliche Staat intensivierte den Vernichtungskampf gegen die Gottesfeinde sogar noch einmal. Angenendt weist dies anhand der Hexenverfolgungen nach. Die Inquisition sowie die Päpste lehnten Hexentötungen ausdrücklich ab. Entscheidend daran beteiligt war "jener Kreis von Personen, die eigentlich als die Modernisierer gelten: die Juristen in den städtischen und landesherrlichen Diensten". Erst die Aufklärung hat mit der Säkularisierung des Staates das uralte Syndrom der staatlich zu strafenden Gottesfeindschaft beseitigt. "Dies ist ein einmaliger und für alle Moderne fortan grundlegender Durchbruch." Zuvor gab es Freiheit nur für den Eintritt in das Christentum, nicht für das Verlassen.
Stammesbekehrungen.
Mit der Freiheit des Eintritts war es allerdings mitunter nicht weit her. Mission im Mittelalter war, wie Angenendt einräumt, über weite Strecken Kollektiv- und auch Gewaltmission. Aber wie hätte es auch anders sein können? Mit der Völkerwanderung waren sowohl das Religionsverständnis wie die Sozialformationen wieder stammesreligiös geworden. In dieser Lage waren Individualbekehrungen ausgeschlossen. Bekehren mußte sich vielmehr "der Verband als ganzer, weil eben Stammesreligionen geschlossen auf das eigene Volk hin denken und leben. Darum mußten erstens alle Volksangehörigen ein und derselben Religion angehören und mußten zweitens bei Ausdehnung des eigenen Volksraumes die Unterlegenen gleichfalls diese eine Religion annehmen."
Historisch wichtiger war, wie Angenendt nachweist, etwas anderes. Die Christianisierung bewirkte die Transponierung der primitiven Stammesreligionen der Germanen zur Hochreligion und integrierte auf diese Weise Europa in die Kulturentwicklung der Menschheit. Dieser Prozeß benötigte einen Zeitraum von fast tausend Jahren. Erst um 1500 war nach Angenendts Einschätzung der Aufbau so weit vorangetrieben, daß das Christentum in der Lebenspraxis der Gläubigen wieder es selbst sein konnte. "Für die zuvorigen Perioden ist davon auszugehen, daß sich das Christentum ob der mangelnden zivilisatorischen, mentalen und kulturellen Voraussetzungen gar nicht erst realisieren konnte." Als es dann soweit war, kam die Reformation. Statt aber die westliche Christenheit in einem neuen Glaubensfrühling zu einen, führte sie tragischerweise zu deren Spaltung und gab den Anlaß zu jenen furchtbaren Religionskriegen, aus denen die politische Philosophie schließlich keinen anderen Ausweg sah als den der Säkularisierung des Staates.
Seither entfalten eine säkulare Theorie und Praxis, "was das Christentum angebahnt, aber selber nicht zustande gebracht hatte und in der Neuzeit nicht mehr voll mitzutragen bereit war". Für ihre Verweigerungshaltung haben die christlichen Kirchen einen hohen Preis bezahlt: Das europäische Bewußtsein, das sich von seiner christlichen Vorgeschichte zunehmend entfremdet hat, assoziiert seit dem neunzehnten Jahrhundert Fortschritt weithin mit Aufklärung und Französischer Revolution und schreibt der Religion eine unheilvolle Affinität zu Intoleranz und Gewalt zu.
Diese Auffassung kann mit Angenendts Buch für das Christentum als widerlegt angesehen werden. Auch der kritische Leser kann danach kaum mehr bezweifeln, daß die monotheistische Religionsform ihre besonderen, ja einmaligen Möglichkeiten zur Begründung von Menschenwürde und Toleranz besitzt, zumal wenn sie einen Gott verehrt, der - in einer Krippe geboren und am Kreuz gestorben - die normalen Erwartungen an einen Heilsbringer buchstäblich auf den Kopf stellt. Mehr als Möglichkeiten sind es freilich nicht. Deren Kehrseite bildet das abgründige Terrorpotential, das auch Angenendt nicht bestreitet und das sich christlicherseits in Inquisition und Ketzertötungen, Schwertmission und Kreuzzügen entladen hat. Mehr noch: Religionsgeschichtlich gesehen, ist die Option für die Gewalt das Naheliegende, die Sublimierung die Ausnahme. Das Schreckliche der Religion zu neutralisieren erfordert - dies macht Angenendt eindringlich deutlich - eine ungemeine Kulturanstrengung. Daß das Christentum diese Anstrengung häufig nicht aufgebracht hat, weiß heute jeder. An die andere Seite erinnert zu haben, und zwar mit ebenso großer Gelehrsamkeit wie Darstellungskunst, ist das Verdienst Angenendts.
MICHAEL PAWLIK.
Arnold Angenendt: "Toleranz und Gewalt". Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Aschendorff Verlag, Münster 2007. 797 S., geb., 24,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Arnold Angenendt prüft das Christentum auf dessen Toleranz
"Allmächtiger Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer wiederhergestellt", so beginnt das Tagesgebet zum ersten Weihnachtsfeiertag. Gekleidet in den Lobpreis Gottes, betreibt dieser uralte, auf Leo den Großen zurückgehende Text eine religionsgeschichtlich einmalige Erhöhung des Menschen. Geschaffen nach dem Bild Gottes und erneuert durch Christi Erlösung, kommt ihm eine quasigöttliche Würde zu.
Aus diesem Befund wurden, wie der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt zeigt, in Spätantike und Mittelalter weitreichende Folgerungen gezogen. Wegen der Gottebenbildlichkeit verurteilten die Kirchenväter die Sklaverei und frühmittelalterliche Bußbücher den Mord. Der 1241 gestorbene Papst Gregor IX. berief sich zur Begründung seiner Forderung nach Gerechtigkeit für die Juden darauf, daß sie "das Bild des Erlösers besitzen und vom Schöpfer des Alls geschaffen sind". Francisco de Vitoria, einer der bedeutendsten Vertreter der spanischen Spätscholastik, erweiterte dieses Argument drei Jahrhunderte später auf die Indios Südamerikas.
Eine weitere tragende Säule des christlichen Glaubens bildet das Liebesgebot. Die Liebe zu Gott läßt sich freilich ebensowenig erzwingen wie die Liebe zu einem Menschen. Deshalb war nach der übereinstimmenden Auffassung aller frühchristlichen Autoren eine Bekehrung nur dann von Wert, wenn sie aus freien Stücken erfolgte. Die einzige Waffe der Verkündigung durfte danach das Wort sein; Zwangsmissionierung war unzulässig.
Das Verbot von Missionskriegen fand eine weitere Stütze in der hochmittelalterlichen Rezeption der aristotelischen Staatslehre. Danach hatten die Heiden mit den Christen die allgemeinmenschliche Natur gemeinsam. Deshalb konnten sie ein selbständiges Gemeinwesen haben, das naturrechtlich anzuerkennen war und nicht ob des bloßen Heidentums angegriffen werden durfte. "Die Sarazenen sind nicht zu töten", dekretierte die Kanonistik.
Wie aber, wenn sich jemand bekehrt hatte und hernach dem christlichen Glauben untreu wurde? Die Antwort Jesu erblickte man über lange Zeit in dem Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut. Dem "Lasset beides stehen bis zur Ernte" entnahmen die Autoren des ersten christlichen Jahrtausends ein Verbot physischer Gewalt gegen Häretiker und Gotteslästerer. Das Urteil über sie stehe allein Gott zu, der Mensch dürfe es nicht vorwegnehmen.
Damm des Liebesgebotes.
Mit diesen Forderungen traf das Christentum auf religionsgeschichtlich tiefverwurzelte Gegenmächte. So wurde das Verbot Heiliger Kriege von der Kreuzzugsbegeisterung überspült, deren Umwertung des brutalen Kriegsdienstes zur Bußableistung ihrerseits ein Begleiteffekt der großen geistlichen Reformbewegung des Hochmittelalters war. Als besonders wirkungsmächtig erwies sich die Überzeugung, die Vernichtung von Gottesfeinden sei Staatsaufgabe. Bereits im Codex Justinianus war deren Tötung vorgesehen. Gottes Zorn ob der an ihm verübten Schmähung müsse durch die schwerste Strafe besänftigt werden, damit er nicht Erdbeben, Hungersnot und Pestilenz auf die Erde schicke. Dessenungeachtet gab es im ersten christlichen Jahrtausend nur eine einzige Ketzertötung. Noch hielt der Damm des Liebesgebotes stand.
Seit der Jahrtausendwende aber setzten die Verfolgungen ein, nun mit Schwert und Feuer. Auf dem Vierten Lateran-Konzil erhielt das System von kirchlicher Aburteilung und weltlicher Hinrichtung seine kirchenamtliche Bestätigung. Wie verhielten sich die mittelalterlichen Theologen zu dieser neuen Linie? Die Antwort ist nach Angenendt "so kurz wie bestürzend: Sie paßten sich meistenteils an." Selbst der größte unter ihnen, Thomas von Aquin, machte keine Ausnahme. Hartnäckige Ketzer verdienen in seinen Worten "nicht nur von der Kirche durch den Bann ausgeschieden, sondern auch durch den Tod von der Welt ausgeschlossen zu werden".
Auch der frühneuzeitliche Staat beharrte auf einem genuin religiösen Selbstverständnis, gerichtet gegen alle Gottesfeinde, eingeschlossen deren Tötung. Noch im Landrecht für das Königreich Preußen aus dem Jahre 1721 wurde die im Codex Justinianus enthaltene Strafvorschrift samt ihrer dortigen Begründung wiederholt. Der frühneuzeitliche Staat intensivierte den Vernichtungskampf gegen die Gottesfeinde sogar noch einmal. Angenendt weist dies anhand der Hexenverfolgungen nach. Die Inquisition sowie die Päpste lehnten Hexentötungen ausdrücklich ab. Entscheidend daran beteiligt war "jener Kreis von Personen, die eigentlich als die Modernisierer gelten: die Juristen in den städtischen und landesherrlichen Diensten". Erst die Aufklärung hat mit der Säkularisierung des Staates das uralte Syndrom der staatlich zu strafenden Gottesfeindschaft beseitigt. "Dies ist ein einmaliger und für alle Moderne fortan grundlegender Durchbruch." Zuvor gab es Freiheit nur für den Eintritt in das Christentum, nicht für das Verlassen.
Stammesbekehrungen.
Mit der Freiheit des Eintritts war es allerdings mitunter nicht weit her. Mission im Mittelalter war, wie Angenendt einräumt, über weite Strecken Kollektiv- und auch Gewaltmission. Aber wie hätte es auch anders sein können? Mit der Völkerwanderung waren sowohl das Religionsverständnis wie die Sozialformationen wieder stammesreligiös geworden. In dieser Lage waren Individualbekehrungen ausgeschlossen. Bekehren mußte sich vielmehr "der Verband als ganzer, weil eben Stammesreligionen geschlossen auf das eigene Volk hin denken und leben. Darum mußten erstens alle Volksangehörigen ein und derselben Religion angehören und mußten zweitens bei Ausdehnung des eigenen Volksraumes die Unterlegenen gleichfalls diese eine Religion annehmen."
Historisch wichtiger war, wie Angenendt nachweist, etwas anderes. Die Christianisierung bewirkte die Transponierung der primitiven Stammesreligionen der Germanen zur Hochreligion und integrierte auf diese Weise Europa in die Kulturentwicklung der Menschheit. Dieser Prozeß benötigte einen Zeitraum von fast tausend Jahren. Erst um 1500 war nach Angenendts Einschätzung der Aufbau so weit vorangetrieben, daß das Christentum in der Lebenspraxis der Gläubigen wieder es selbst sein konnte. "Für die zuvorigen Perioden ist davon auszugehen, daß sich das Christentum ob der mangelnden zivilisatorischen, mentalen und kulturellen Voraussetzungen gar nicht erst realisieren konnte." Als es dann soweit war, kam die Reformation. Statt aber die westliche Christenheit in einem neuen Glaubensfrühling zu einen, führte sie tragischerweise zu deren Spaltung und gab den Anlaß zu jenen furchtbaren Religionskriegen, aus denen die politische Philosophie schließlich keinen anderen Ausweg sah als den der Säkularisierung des Staates.
Seither entfalten eine säkulare Theorie und Praxis, "was das Christentum angebahnt, aber selber nicht zustande gebracht hatte und in der Neuzeit nicht mehr voll mitzutragen bereit war". Für ihre Verweigerungshaltung haben die christlichen Kirchen einen hohen Preis bezahlt: Das europäische Bewußtsein, das sich von seiner christlichen Vorgeschichte zunehmend entfremdet hat, assoziiert seit dem neunzehnten Jahrhundert Fortschritt weithin mit Aufklärung und Französischer Revolution und schreibt der Religion eine unheilvolle Affinität zu Intoleranz und Gewalt zu.
Diese Auffassung kann mit Angenendts Buch für das Christentum als widerlegt angesehen werden. Auch der kritische Leser kann danach kaum mehr bezweifeln, daß die monotheistische Religionsform ihre besonderen, ja einmaligen Möglichkeiten zur Begründung von Menschenwürde und Toleranz besitzt, zumal wenn sie einen Gott verehrt, der - in einer Krippe geboren und am Kreuz gestorben - die normalen Erwartungen an einen Heilsbringer buchstäblich auf den Kopf stellt. Mehr als Möglichkeiten sind es freilich nicht. Deren Kehrseite bildet das abgründige Terrorpotential, das auch Angenendt nicht bestreitet und das sich christlicherseits in Inquisition und Ketzertötungen, Schwertmission und Kreuzzügen entladen hat. Mehr noch: Religionsgeschichtlich gesehen, ist die Option für die Gewalt das Naheliegende, die Sublimierung die Ausnahme. Das Schreckliche der Religion zu neutralisieren erfordert - dies macht Angenendt eindringlich deutlich - eine ungemeine Kulturanstrengung. Daß das Christentum diese Anstrengung häufig nicht aufgebracht hat, weiß heute jeder. An die andere Seite erinnert zu haben, und zwar mit ebenso großer Gelehrsamkeit wie Darstellungskunst, ist das Verdienst Angenendts.
MICHAEL PAWLIK.
Arnold Angenendt: "Toleranz und Gewalt". Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Aschendorff Verlag, Münster 2007. 797 S., geb., 24,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Arnold Angenendts Buch über "Toleranz und Gewalt" im Christentum hat Rezensent Michael Pawlik rundum überzeugt. Das Buch zeigt für ihn die einmaligen Möglichkeiten auf, die das Christentum für die Begründung von Toleranz und Menschenwürde bietet. Vor allem die Auffassung einer verhängnisvollen Neigung des Christentums zu Intoleranz und Gewalt sieht Pawlik damit widerlegt, aber auch die seit dem 19. Jahrhundert unkritisch verbreitete Assoziation von Fortschritt mit Aufklärung und Französischer Revolution. So lege Angenendt dar, wie die Christianisierung die primitiven Stammesreligionen der Germanen zur Hochreligion transportierte und auf diese Weise Europa in die Kulturentwicklung der Menschheit integrierte. Pawlik bescheinigt dem Autor, die Kehrseite dieses Prozesses, den christlichen Terror von Inquisition und Ketzertötungen, Schwertmission und Kreuzzügen keineswegs zu verschweigen. Das Verdienst dieses Buchs sieht er aber darin, mit "großer Gelehrsamkeit" und "Darstellungskunst" an die andere Seite zu erinnern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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