Produktdetails
- Verlag: HERDER
- ISBN-13: 9783451170621
- Artikelnr.: 24210782
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2010Zärtliche Chaoten
2010 ist das Jubeljahr für Mark Twain. Es gibt aber noch viele andere gute Gründe, die Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu lesen
Er klingt nicht so, wegen seiner vier hellen Vokale und der zappeligen Konsonanten drum herum, aber eigentlich ist der Mississippi grau und träge. Schleppt sich so dahin, mal breiter, mal schmaler, gähnt sich an fast einem Dutzend amerikanischer Bundesstaaten vorbei Richtung Süden, wo er romantisch in den Golf von Mexiko mündet. Viel weiter oben allerdings, dort, wo Mark Twain aufgewachsen ist, damals hieß er noch Samuel Langhorne Clemens und wünschte sich, Dampfschifflotse zu werden, dort oben also, im Städtchen Hannibal, fließt er bis heute so einsam am flachen Land Missouris vorbei, dass man am Ufer steht und denkt: Von hier wäre ich auch abgehauen.
Aber so einfach ist das nicht, jedenfalls nicht nach Osten: Bis zur nächstgrößeren Stadt, das ist damals wie heute St. Louis, hundertfünfzig Meilen südlich, führt nur eine Brücke über den Fluss.
Als Samuel Langhorne Clemens aber dann nicht nur Dampfschifflotse, sondern Schriftsteller geworden war, reich geheiratet hatte und im noch reicheren Hartford lebte, schrieb er sich wieder hierher zurück. Nach Hannibal. An den Anfang, in die barfüßigen Kindertage, als das Geld knapp und die Sommernächte endlos waren.
"Tom Sawyers Abenteuer" hieß dieses Buch, 1876 ist es erschienen und war selbst ein Anfang: Denn so hatte man noch nicht über Kinder gelesen, so witzig und anarchisch und frei in der Form. Ein paar Jahre später schrieb Mark Twain dann noch eine Fortsetzung, "Huckleberry Finns Abenteuer", und mit diesem Buch, das noch witziger und anarchischer und freier in der Form war als das davor, schlug die Stunde der amerikanischen Literatur. Sagte jedenfalls Ernest Hemingway. "Davor gab es nichts. Danach ist nie wieder etwas so gut gewesen."
2010 ist ein Jubeljahr für Mark Twain. Vor 175 Jahren wurde er geboren, vor 100 Jahren ist er gestorben, vor 125 Jahren ist "Huckleberry Finn" erschienen. Einige seiner Bücher erscheinen jetzt wieder auf Deutsch, andere zum ersten Mal. Eines ragt heraus, die Neuübersetzung von "Tom Sawyer & Huckleberry Finn", die Andreas Nohl gemacht hat. Es heißt in solchen Fällen oft, wie notwendig es gewesen sei, diesen Klassiker neu zu übersetzen, als seien die alten Versionen, von denen es einige gab, jedem Leser geläufig und das englische Original natürlich auch. Bei Tom Sawyer und Huckleberry Finn ist es aber so, dass die meisten die beiden Jungs wohl nur aus Adaptionen kennen, aus den eingekürzten Jugendbuchausgaben oder Fernsehverfilmungen: Dann stürzt man sich auf dieses unerwartet lange Buch wie Huck und Tom auf jeden neuen Tag am Mississippi.
Revolutionär an Mark Twains Geschichten war, so erklärt es Andreas Nohl in seinem sehr genauen Nachwort, wie hier Alltagssprache und Slang in die Literatur einfuhren: ein Windstoß Leben, der die europäischen Konventionen in Unordnung brachte, denen man in den amerikanischen Salons des 19. Jahrhunderts noch nacheiferte. Für Toms Geschichten gibt es noch einen Erzähler, der dem genialischen Chaoten beim Zaunstreichen und Schuleschwänzen zuschaut. Huck ergreift dann neun Jahre später selbst das Wort, und das geht oft schief: weil Huck, der Halbwaise, ungefähr siebeneinhalb Minuten in der Schule war und deshalb "Pallerment" oder "Predigtination" buchstabiert. Im nächsten Augenblick aber redet er schon davon, dass jemand ein Lachen hat, "bei dem man sich fühlt, als würde man Brot mit Sand essen". Und das ist nur eine von vielen Wunderformeln; in Toms Abenteuern tauchen bei einem Schulfest "ganze Schneewehen von jungen Mädchen" auf, da muss man ein bisschen weinen, weil es so schön ist.
Zwischendurch ist Huck nicht mehr Hauptdarsteller seiner Lebenserzählung, sondern zwei fahrende Schwindler, die sich König und Herzog nennen: Überhaupt wirken beide Bücher so, als seien sie erst beim Schreiben konzipiert worden, aus dem Moment und dem nächsten guten Einfall heraus, denn so sehr eiert die Handlung hin und her, es geht alles in allem schon recht modern zu für eine Geschichte, die noch vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg spielt.
Revolutionär war aber auch, wie Huckleberry Finn im entflohenen Sklaven Jim erst einen Menschen und dann seinen besten Freund erkennt, auch wenn er ihn nach wie vor "Nigger" nennt; Nohl hat den Ausdruck in seiner Übersetzung nicht getilgt, um Twain nicht nachträglich klüger aussehen zu lassen, als er war. Das Buch ist oft emanzipierter als sein Autor, der Jims Einfalt offenbar komisch fand, der sich im wahren Leben aber dennoch für die Rechte der chinesischen Eisenbahnsklaven starkmachte, gegen die Kolonialkriege seines Landes auf Kuba und den Philippinen protestierte und viktorianische Tugend verachtete: Attacken gegen jede Stehkragensonntagsschulheiligkeit finden sich in beiden Teilen zuhauf.
"Wir waren immer nackt, Tag und Nacht", sagt Huck irgendwann, da sind die beiden, der Halbwaise und der Sklave, irgendwo auf dem Mississippi unterwegs: Cairo, die Hafenstadt in Illinois, wo den flüchtigen Jim die Freiheit erwartetet hätte, haben sie längst verpasst, jetzt treiben sie auf ihrem demolierten Floß durch die neue Welt.
Und während tausend Meilen weiter östlich die New Yorker Maler der "Hudson River School" in ihre amerikanische Panoramen noch die Alpen der alten Welt hineinstellen, lässt Mark Twain seine Helden mitten durch die amerikanische Gegenwart fahren: hier ein Städtchen voller Verwandter zweiten Grades und ihrer Kinder, dort eine Familienfehde unter reichen Bauern. Hier rottet sich ein Lynchmob zusammen, dort wird geteert und gefedert. Quacksalber kreuzen ihren Weg, Friedensrichter, Dörfer ohne Wiederkehr: eine dokumentarische Kamerafahrt durch ein Land neuer Extremitäten. Und bald bekommt man das Gefühl, dass von hier aus, aus dieser unbeschrifteten Landschaft, eine Linie führt zu Cormac McCarthys brutalen Idyllen, über Robert Olmsteads Herzblutgeschichten zu John Irvings Kleinstadtlieben und direkt hinein in die tapferen Kinderwelten von Stephen King. Unterwegs streift man dann noch Holden Caulfield, Hucks Verwandten zweiten Grades aus der großen Stadt.
Aber braucht man solche Referenzen? Am besten liest man vorbehaltlos. Und wundert sich, warum Tom, den Huck zurückgelassen hatte, plötzlich wieder auftaucht, als Mastermind für die erneute Flucht von Jim, der gefangen wurde und seinem Schicksal entgegenzittert. Tom will aber nicht einfach den Schlüssel für Jims Gefängnis stehlen, das wäre zu einfach: Es muss eine Flucht sein, wie sie im Buche steht. Also baut er einen Plot drum herum, montiert aus dem Grafen von Monte Christo und dem Mann mit der eisernen Maske: Strickleitern, geheime Warnungen, ein Tagebuch aus Blut. Kritiker haben das als unnötige Leidensgeschichte verworfen, billige Witze auf Kosten des armen Jim. Eigentlich lacht man aber nur über Tom.
Und nicht nur das: Plötzlich wandern die drei Helden ja in fremder Leute Bücher ein. Plötzlich erzählt Mark Twain hier nicht mehr nur von seinen Helden, sondern von anderen Helden, die Leserherzen erobert haben. Sein Roman nimmt diese Romane in sich auf. Wird zum Arsenal ewiger Bilder aus Kindheit, Abenteuer und Fernweh. Zum Epos.
TOBIAS RÜTHER
Mark Twain: "Tom Sawyer & Huckleberry Finn". Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Hanser, 711 S., 34,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
2010 ist das Jubeljahr für Mark Twain. Es gibt aber noch viele andere gute Gründe, die Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu lesen
Er klingt nicht so, wegen seiner vier hellen Vokale und der zappeligen Konsonanten drum herum, aber eigentlich ist der Mississippi grau und träge. Schleppt sich so dahin, mal breiter, mal schmaler, gähnt sich an fast einem Dutzend amerikanischer Bundesstaaten vorbei Richtung Süden, wo er romantisch in den Golf von Mexiko mündet. Viel weiter oben allerdings, dort, wo Mark Twain aufgewachsen ist, damals hieß er noch Samuel Langhorne Clemens und wünschte sich, Dampfschifflotse zu werden, dort oben also, im Städtchen Hannibal, fließt er bis heute so einsam am flachen Land Missouris vorbei, dass man am Ufer steht und denkt: Von hier wäre ich auch abgehauen.
Aber so einfach ist das nicht, jedenfalls nicht nach Osten: Bis zur nächstgrößeren Stadt, das ist damals wie heute St. Louis, hundertfünfzig Meilen südlich, führt nur eine Brücke über den Fluss.
Als Samuel Langhorne Clemens aber dann nicht nur Dampfschifflotse, sondern Schriftsteller geworden war, reich geheiratet hatte und im noch reicheren Hartford lebte, schrieb er sich wieder hierher zurück. Nach Hannibal. An den Anfang, in die barfüßigen Kindertage, als das Geld knapp und die Sommernächte endlos waren.
"Tom Sawyers Abenteuer" hieß dieses Buch, 1876 ist es erschienen und war selbst ein Anfang: Denn so hatte man noch nicht über Kinder gelesen, so witzig und anarchisch und frei in der Form. Ein paar Jahre später schrieb Mark Twain dann noch eine Fortsetzung, "Huckleberry Finns Abenteuer", und mit diesem Buch, das noch witziger und anarchischer und freier in der Form war als das davor, schlug die Stunde der amerikanischen Literatur. Sagte jedenfalls Ernest Hemingway. "Davor gab es nichts. Danach ist nie wieder etwas so gut gewesen."
2010 ist ein Jubeljahr für Mark Twain. Vor 175 Jahren wurde er geboren, vor 100 Jahren ist er gestorben, vor 125 Jahren ist "Huckleberry Finn" erschienen. Einige seiner Bücher erscheinen jetzt wieder auf Deutsch, andere zum ersten Mal. Eines ragt heraus, die Neuübersetzung von "Tom Sawyer & Huckleberry Finn", die Andreas Nohl gemacht hat. Es heißt in solchen Fällen oft, wie notwendig es gewesen sei, diesen Klassiker neu zu übersetzen, als seien die alten Versionen, von denen es einige gab, jedem Leser geläufig und das englische Original natürlich auch. Bei Tom Sawyer und Huckleberry Finn ist es aber so, dass die meisten die beiden Jungs wohl nur aus Adaptionen kennen, aus den eingekürzten Jugendbuchausgaben oder Fernsehverfilmungen: Dann stürzt man sich auf dieses unerwartet lange Buch wie Huck und Tom auf jeden neuen Tag am Mississippi.
Revolutionär an Mark Twains Geschichten war, so erklärt es Andreas Nohl in seinem sehr genauen Nachwort, wie hier Alltagssprache und Slang in die Literatur einfuhren: ein Windstoß Leben, der die europäischen Konventionen in Unordnung brachte, denen man in den amerikanischen Salons des 19. Jahrhunderts noch nacheiferte. Für Toms Geschichten gibt es noch einen Erzähler, der dem genialischen Chaoten beim Zaunstreichen und Schuleschwänzen zuschaut. Huck ergreift dann neun Jahre später selbst das Wort, und das geht oft schief: weil Huck, der Halbwaise, ungefähr siebeneinhalb Minuten in der Schule war und deshalb "Pallerment" oder "Predigtination" buchstabiert. Im nächsten Augenblick aber redet er schon davon, dass jemand ein Lachen hat, "bei dem man sich fühlt, als würde man Brot mit Sand essen". Und das ist nur eine von vielen Wunderformeln; in Toms Abenteuern tauchen bei einem Schulfest "ganze Schneewehen von jungen Mädchen" auf, da muss man ein bisschen weinen, weil es so schön ist.
Zwischendurch ist Huck nicht mehr Hauptdarsteller seiner Lebenserzählung, sondern zwei fahrende Schwindler, die sich König und Herzog nennen: Überhaupt wirken beide Bücher so, als seien sie erst beim Schreiben konzipiert worden, aus dem Moment und dem nächsten guten Einfall heraus, denn so sehr eiert die Handlung hin und her, es geht alles in allem schon recht modern zu für eine Geschichte, die noch vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg spielt.
Revolutionär war aber auch, wie Huckleberry Finn im entflohenen Sklaven Jim erst einen Menschen und dann seinen besten Freund erkennt, auch wenn er ihn nach wie vor "Nigger" nennt; Nohl hat den Ausdruck in seiner Übersetzung nicht getilgt, um Twain nicht nachträglich klüger aussehen zu lassen, als er war. Das Buch ist oft emanzipierter als sein Autor, der Jims Einfalt offenbar komisch fand, der sich im wahren Leben aber dennoch für die Rechte der chinesischen Eisenbahnsklaven starkmachte, gegen die Kolonialkriege seines Landes auf Kuba und den Philippinen protestierte und viktorianische Tugend verachtete: Attacken gegen jede Stehkragensonntagsschulheiligkeit finden sich in beiden Teilen zuhauf.
"Wir waren immer nackt, Tag und Nacht", sagt Huck irgendwann, da sind die beiden, der Halbwaise und der Sklave, irgendwo auf dem Mississippi unterwegs: Cairo, die Hafenstadt in Illinois, wo den flüchtigen Jim die Freiheit erwartetet hätte, haben sie längst verpasst, jetzt treiben sie auf ihrem demolierten Floß durch die neue Welt.
Und während tausend Meilen weiter östlich die New Yorker Maler der "Hudson River School" in ihre amerikanische Panoramen noch die Alpen der alten Welt hineinstellen, lässt Mark Twain seine Helden mitten durch die amerikanische Gegenwart fahren: hier ein Städtchen voller Verwandter zweiten Grades und ihrer Kinder, dort eine Familienfehde unter reichen Bauern. Hier rottet sich ein Lynchmob zusammen, dort wird geteert und gefedert. Quacksalber kreuzen ihren Weg, Friedensrichter, Dörfer ohne Wiederkehr: eine dokumentarische Kamerafahrt durch ein Land neuer Extremitäten. Und bald bekommt man das Gefühl, dass von hier aus, aus dieser unbeschrifteten Landschaft, eine Linie führt zu Cormac McCarthys brutalen Idyllen, über Robert Olmsteads Herzblutgeschichten zu John Irvings Kleinstadtlieben und direkt hinein in die tapferen Kinderwelten von Stephen King. Unterwegs streift man dann noch Holden Caulfield, Hucks Verwandten zweiten Grades aus der großen Stadt.
Aber braucht man solche Referenzen? Am besten liest man vorbehaltlos. Und wundert sich, warum Tom, den Huck zurückgelassen hatte, plötzlich wieder auftaucht, als Mastermind für die erneute Flucht von Jim, der gefangen wurde und seinem Schicksal entgegenzittert. Tom will aber nicht einfach den Schlüssel für Jims Gefängnis stehlen, das wäre zu einfach: Es muss eine Flucht sein, wie sie im Buche steht. Also baut er einen Plot drum herum, montiert aus dem Grafen von Monte Christo und dem Mann mit der eisernen Maske: Strickleitern, geheime Warnungen, ein Tagebuch aus Blut. Kritiker haben das als unnötige Leidensgeschichte verworfen, billige Witze auf Kosten des armen Jim. Eigentlich lacht man aber nur über Tom.
Und nicht nur das: Plötzlich wandern die drei Helden ja in fremder Leute Bücher ein. Plötzlich erzählt Mark Twain hier nicht mehr nur von seinen Helden, sondern von anderen Helden, die Leserherzen erobert haben. Sein Roman nimmt diese Romane in sich auf. Wird zum Arsenal ewiger Bilder aus Kindheit, Abenteuer und Fernweh. Zum Epos.
TOBIAS RÜTHER
Mark Twain: "Tom Sawyer & Huckleberry Finn". Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Hanser, 711 S., 34,90 Euro
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