Thomas Meineckes Roman ist ein bizarres Kabinett der gender troubles. Es treten auf: die »zwangsheterosexuelle« Vivian Atkinson, damit beschäftigt, in ihrer Magisterarbeit die Philosophie der amerikanischen Feministin Judith Butler und die Irrtümer Otto Weiningers über Geschlecht und Charakter in Verbindung zu bringen. Da sind der feministische Gelegenheitsarzthelfer Hans Mühlenkamm, die bisexuelle Tennisspielerin Korinna Kohn und die lesbische Doktorandin Franke Stöver, die mit Vivian Bücher und Platten tauschen. Und da ist Fraukes »phallische Verlobte« Angela, ehemals Angelo, die das katholische Frauenmagazin »Monika« abonniert hat, weil sie »ganz einfach Frau« sein will. In Tomboy geraten die Geschlechterverhältnisse ins Tanzen, die Polarität männlich/weiblich wird zum Schmelzen gebracht, als konstruiert entlarvt und in ein Oszillieren überführt - was das Leben nicht einfacher macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.1998Das kurze Leben der Helden im Diskursgewitter
Das Besondere des Allgemeinen ist in der Literatur im allgemeinen nicht besonders der Rede wert: Thomas Meineckes Roman "Tomboy" · Von Eberhard Rathgeb
Vor zwei Jahren erschien Thomas Meineckes erster Roman "The Church of John F. Kennedy". Erzählt wurde entlang der Reise Wenzel Assmanns durch Amerika, der dort nach den Spuren deutscher Einwanderer suchte. Vier Eigenarten dieses Buches waren auffallend: zum einen, daß Thomas Meinecke wenig erzählerische Kraft darauf verwendete, einen Stoff zu erfinden. Er griff lieber zurück in Bibliotheken und in die Geschichte, und er bediente sich dort reichlich mit Anekdoten, die er zum eigentlichen Material seines Romans machte. Zweitens konnte man rasch bemerken, daß dem Autor diese Kompilation des historischen Materials als Zitat einerseits und in eigenen Worten andererseits dank seiner Sprachgewandtheit sehr gut gelang. Es las sich alles flott, weil die Geschichten rasch wechselten.
Drittens traten damit alle Figuren, die Meinecke erfinden mußte, in den Hintergrund; sie waren durch die Bank etwas blaß, entweder reine Objekte des Begehrens, beharrliche Meinungsträger oderschlichte Passanten. Der Held selbst machte immer wieder unvermittelt auf sich aufmerksam, las eine Menge laut vor und repetierte noch mehr, liebte eine Frau mal hier, trank in der Kneipe dort sein Bier und verschwand plötzlich, als hätte ihn der Roman verschluckt.
Schließlich changierte Meinecke zwischen einem schnellen, analytisch gekühlten und von witzigen Einsprengseln aufgelockerten Nacherzählen dessen, was einst war und gegenwärtig in der Welt so vorfiel, und einem durch Kitsch gekitteten Beschreiben der Personen, die immer wieder auseinanderzufallen drohten.
Alle vier Besonderheiten dieses Romans finden sich nun in Meineckes zweitem Roman wieder. "Tomboy" erzählt von Vivian Atkinson, Jahrgang 1973, wohnhaft in einem Kaff zwischen Heidelberg und Mannheim, die an ihrer Magisterarbeit über Haben, Scheinen und Sein arbeitet. Was es mit diesem Thema auf sich hat, aus welchem Denken ein solcher Ansatz auf dem Schreibtisch landet, wie die Welt aus Haben, Scheinen und Sein aussieht, das erfährt der Leser als das Material des Romans. "Tomboy" ist das Referat von allerhand in Umlauf befindlichen Theorien zur Geschlechterdifferenz, eine kunterbunte Zusammenstellung dessen, was heutzutage als "Genderdiskurs" bekannt ist und tief in die Universitätsseminare drang. Auf den Wellen dieser intellektuellen Mode schaukeln die Figuren, einige Frauen, ein Arzthelfer auf Zeit, ein Transvestit, ein Nachbar.
Das ist das Personal des Romans, doch die Hauptsprecher sind andere: die amerikanische Starfeministin Judith Butler, der Sexualitäts- und Machtanalytiker Michel Foucault, die amerikanische Mittelalterspezialistin Caroline Walker Bynums, bekannt hierzulande auch durch ihr Buch "Fragmentierung und Erlösung", der Wiener Jahrhundertwende-Selbstmörder Otto Weiniger, Autor des berühmt-berüchtigten Wälzers "Geschlecht und Charakter", die Theoriewunderwaffe der französischen Psychoanalyse, Jacques Lacan, die Feministin Luce Irigaray, der Ludwigsburger Hoffnungsträger Ernst Bloch, der Erfinder des Penisneides, Sigmund Freud, sowie Barbara Vinken, Marjorie Garber, die Frankfurter Germanistin Sylvia Bovenschen, die in Hannover lehrende Kulturwissenschaftlerin Barbara Duden und viele andere mehr, die in diesen Diskurs verwickelt sind.
Drückendes Problem und schwieriges Rätsel ist im Kopf der Heldin und im Gespräch aller mit allen die Frage: Was ist eine Frau? Nach Durchforstung der einschlägigen Literatur zu diesem und verwandten Themen steht auf Seite 240, wenn auch noch nicht eindeutig fest, daß Luis Trenker lesbisch gewesen sein kann, sobald man sich zu der Annahme versteige, eine Lesbierin sei keine Frau. Nicht, daß es uninteressant wäre, zu lesen, wer wann was über das Weibliche geschrieben habe. Die Frage selber führte manchen Autor zu abstrusen Konstruktionen, die noch genügend Anlaß zu Verwunderung, wenn nicht gar zum Auflachen bieten. Einfach hatte es sich keiner der Zitierten gemacht, und auch der frauenbewegte Debattierclub in der Provinz zwischen Mannheim und Heidelberg gibt sich nicht mit schnellen Lösungen zufrieden, die alle Diskussionen über Bord werfen würden.
Aber da einmal Schluß sein muß, ist dann eben nach 251 Seiten das Ende da. Keiner ist ernsthaft betroffen, und alle Fragen sind erfreulicherweise offen. Keiner weiß genau warum, doch auch die schönste Party kann nicht ewig gehen. Die Studentin Vivian Atkinson hat ihre Magisterarbeit weitgehend fertiggeschrieben, und sie wird bald 25 Jahre werden. Sie habe keine Lust, sagt sie ihrem Professor, die Mannheimer Ausstellung "Körperwelten" zu besuchen, in die sie die Lehrkraft mitnehmen möchte. "Tote Menschen, Frau Atkinson, sind dort zu besichtigen, fragmentiert, doch keinesfalls erlöst", legt Thomas Meinecke dem Professor gewohnt anspielungsreich ("Fragmentierung und Erlösung", siehe oben) in den Mund, und man möchte in diesem Satz das erzählerische Prinzip des Schriftstellers, Musikers und Discjockeys Thomas Meinecke erkennen: insgesamt torsohafte Repräsentanten mehr als gestaltete Individualitäten, Figuren als kleine wurmhafte Anspielungen, Fragmente eben, von Form keinesfalls erlöst, inmitten einer sich weithin erstreckenden Materialiensammlung. Also: schwache Lebensgeschichten in dickem Anekdotenaspik.
So lassen sich, Meineckes Lektüren und kompilatorische Fähigkeiten vorausgesetzt, noch weitere Romane schreiben. Das Material gibt den Rhythmus, den Beat, vor, und die hohe Kunst besteht im Mixen dessen, was schon einmal gesagt, gedacht, aufgeschrieben wurde. Die Phantasie kommt bei diesem Spiel nicht an die Macht, sie unterwirft sich, eine geübte Geste des Pragmatismus, den Realitäten der, modisch gesprochen, Diskurse und Geschichten. Neues erfahren wird man weder im ersten noch im zweiten Roman Thomas Meineckes. Man weiß etwas mehr, wenn man es nicht schon vorher wußte, das schon, aber dieses Wissen als Stoff des Romans macht ihn selbst kaputt. Wenn ein Roman zu einer Reiseveranstaltung durch Tatsachenmaterialien mutiert, dann wird man hier vergeblich suchen, was man in der Literatur immer auch finden wird: Erfahrungen der Phantasie.
Die Schwäche dieser Erzählform mag einen Grund haben, der weniger darin liegt, sich das Erzählen leichtzumachen, sondern eher in einer diskursfähigen Skepsis zu suchen ist, ob Helden heute zwei Beine haben, auf denen sie, ihren sogenannten Weg gehend, Lebensgeschichte machen. Wer hier läuft, der läuft nicht mehr alleine, und Thomas Meinecke zufolge sind nicht nur andere immer mit von der Partie, sondern das Terrain selber ist schon von den Spuren der Vorläufer durchzogen.
Kein einziges Mal kommt man zuerst an, kein einziges Mal geht man als einziger weiter. Was sich hier bewegt, das ist eine Schnittmenge, ein Mix. Originale markieren nicht einmal den Horizont. Individualitäten gibt es weit und breit nicht mehr, nur noch das Besondere des Allgemeinen. Das wird auf die Dauer zuwenig sein. Denn das Besondere des Allgemeinen ist in der Literatur im allgemeinen nicht besonders der Rede wert.
Thomas Meinecke: "Tomboy". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 251 S., geb., 36,- DM.
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Das Besondere des Allgemeinen ist in der Literatur im allgemeinen nicht besonders der Rede wert: Thomas Meineckes Roman "Tomboy" · Von Eberhard Rathgeb
Vor zwei Jahren erschien Thomas Meineckes erster Roman "The Church of John F. Kennedy". Erzählt wurde entlang der Reise Wenzel Assmanns durch Amerika, der dort nach den Spuren deutscher Einwanderer suchte. Vier Eigenarten dieses Buches waren auffallend: zum einen, daß Thomas Meinecke wenig erzählerische Kraft darauf verwendete, einen Stoff zu erfinden. Er griff lieber zurück in Bibliotheken und in die Geschichte, und er bediente sich dort reichlich mit Anekdoten, die er zum eigentlichen Material seines Romans machte. Zweitens konnte man rasch bemerken, daß dem Autor diese Kompilation des historischen Materials als Zitat einerseits und in eigenen Worten andererseits dank seiner Sprachgewandtheit sehr gut gelang. Es las sich alles flott, weil die Geschichten rasch wechselten.
Drittens traten damit alle Figuren, die Meinecke erfinden mußte, in den Hintergrund; sie waren durch die Bank etwas blaß, entweder reine Objekte des Begehrens, beharrliche Meinungsträger oderschlichte Passanten. Der Held selbst machte immer wieder unvermittelt auf sich aufmerksam, las eine Menge laut vor und repetierte noch mehr, liebte eine Frau mal hier, trank in der Kneipe dort sein Bier und verschwand plötzlich, als hätte ihn der Roman verschluckt.
Schließlich changierte Meinecke zwischen einem schnellen, analytisch gekühlten und von witzigen Einsprengseln aufgelockerten Nacherzählen dessen, was einst war und gegenwärtig in der Welt so vorfiel, und einem durch Kitsch gekitteten Beschreiben der Personen, die immer wieder auseinanderzufallen drohten.
Alle vier Besonderheiten dieses Romans finden sich nun in Meineckes zweitem Roman wieder. "Tomboy" erzählt von Vivian Atkinson, Jahrgang 1973, wohnhaft in einem Kaff zwischen Heidelberg und Mannheim, die an ihrer Magisterarbeit über Haben, Scheinen und Sein arbeitet. Was es mit diesem Thema auf sich hat, aus welchem Denken ein solcher Ansatz auf dem Schreibtisch landet, wie die Welt aus Haben, Scheinen und Sein aussieht, das erfährt der Leser als das Material des Romans. "Tomboy" ist das Referat von allerhand in Umlauf befindlichen Theorien zur Geschlechterdifferenz, eine kunterbunte Zusammenstellung dessen, was heutzutage als "Genderdiskurs" bekannt ist und tief in die Universitätsseminare drang. Auf den Wellen dieser intellektuellen Mode schaukeln die Figuren, einige Frauen, ein Arzthelfer auf Zeit, ein Transvestit, ein Nachbar.
Das ist das Personal des Romans, doch die Hauptsprecher sind andere: die amerikanische Starfeministin Judith Butler, der Sexualitäts- und Machtanalytiker Michel Foucault, die amerikanische Mittelalterspezialistin Caroline Walker Bynums, bekannt hierzulande auch durch ihr Buch "Fragmentierung und Erlösung", der Wiener Jahrhundertwende-Selbstmörder Otto Weiniger, Autor des berühmt-berüchtigten Wälzers "Geschlecht und Charakter", die Theoriewunderwaffe der französischen Psychoanalyse, Jacques Lacan, die Feministin Luce Irigaray, der Ludwigsburger Hoffnungsträger Ernst Bloch, der Erfinder des Penisneides, Sigmund Freud, sowie Barbara Vinken, Marjorie Garber, die Frankfurter Germanistin Sylvia Bovenschen, die in Hannover lehrende Kulturwissenschaftlerin Barbara Duden und viele andere mehr, die in diesen Diskurs verwickelt sind.
Drückendes Problem und schwieriges Rätsel ist im Kopf der Heldin und im Gespräch aller mit allen die Frage: Was ist eine Frau? Nach Durchforstung der einschlägigen Literatur zu diesem und verwandten Themen steht auf Seite 240, wenn auch noch nicht eindeutig fest, daß Luis Trenker lesbisch gewesen sein kann, sobald man sich zu der Annahme versteige, eine Lesbierin sei keine Frau. Nicht, daß es uninteressant wäre, zu lesen, wer wann was über das Weibliche geschrieben habe. Die Frage selber führte manchen Autor zu abstrusen Konstruktionen, die noch genügend Anlaß zu Verwunderung, wenn nicht gar zum Auflachen bieten. Einfach hatte es sich keiner der Zitierten gemacht, und auch der frauenbewegte Debattierclub in der Provinz zwischen Mannheim und Heidelberg gibt sich nicht mit schnellen Lösungen zufrieden, die alle Diskussionen über Bord werfen würden.
Aber da einmal Schluß sein muß, ist dann eben nach 251 Seiten das Ende da. Keiner ist ernsthaft betroffen, und alle Fragen sind erfreulicherweise offen. Keiner weiß genau warum, doch auch die schönste Party kann nicht ewig gehen. Die Studentin Vivian Atkinson hat ihre Magisterarbeit weitgehend fertiggeschrieben, und sie wird bald 25 Jahre werden. Sie habe keine Lust, sagt sie ihrem Professor, die Mannheimer Ausstellung "Körperwelten" zu besuchen, in die sie die Lehrkraft mitnehmen möchte. "Tote Menschen, Frau Atkinson, sind dort zu besichtigen, fragmentiert, doch keinesfalls erlöst", legt Thomas Meinecke dem Professor gewohnt anspielungsreich ("Fragmentierung und Erlösung", siehe oben) in den Mund, und man möchte in diesem Satz das erzählerische Prinzip des Schriftstellers, Musikers und Discjockeys Thomas Meinecke erkennen: insgesamt torsohafte Repräsentanten mehr als gestaltete Individualitäten, Figuren als kleine wurmhafte Anspielungen, Fragmente eben, von Form keinesfalls erlöst, inmitten einer sich weithin erstreckenden Materialiensammlung. Also: schwache Lebensgeschichten in dickem Anekdotenaspik.
So lassen sich, Meineckes Lektüren und kompilatorische Fähigkeiten vorausgesetzt, noch weitere Romane schreiben. Das Material gibt den Rhythmus, den Beat, vor, und die hohe Kunst besteht im Mixen dessen, was schon einmal gesagt, gedacht, aufgeschrieben wurde. Die Phantasie kommt bei diesem Spiel nicht an die Macht, sie unterwirft sich, eine geübte Geste des Pragmatismus, den Realitäten der, modisch gesprochen, Diskurse und Geschichten. Neues erfahren wird man weder im ersten noch im zweiten Roman Thomas Meineckes. Man weiß etwas mehr, wenn man es nicht schon vorher wußte, das schon, aber dieses Wissen als Stoff des Romans macht ihn selbst kaputt. Wenn ein Roman zu einer Reiseveranstaltung durch Tatsachenmaterialien mutiert, dann wird man hier vergeblich suchen, was man in der Literatur immer auch finden wird: Erfahrungen der Phantasie.
Die Schwäche dieser Erzählform mag einen Grund haben, der weniger darin liegt, sich das Erzählen leichtzumachen, sondern eher in einer diskursfähigen Skepsis zu suchen ist, ob Helden heute zwei Beine haben, auf denen sie, ihren sogenannten Weg gehend, Lebensgeschichte machen. Wer hier läuft, der läuft nicht mehr alleine, und Thomas Meinecke zufolge sind nicht nur andere immer mit von der Partie, sondern das Terrain selber ist schon von den Spuren der Vorläufer durchzogen.
Kein einziges Mal kommt man zuerst an, kein einziges Mal geht man als einziger weiter. Was sich hier bewegt, das ist eine Schnittmenge, ein Mix. Originale markieren nicht einmal den Horizont. Individualitäten gibt es weit und breit nicht mehr, nur noch das Besondere des Allgemeinen. Das wird auf die Dauer zuwenig sein. Denn das Besondere des Allgemeinen ist in der Literatur im allgemeinen nicht besonders der Rede wert.
Thomas Meinecke: "Tomboy". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 251 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Bücher wie Tomboy oder Hellblau erscheinen...wie eine Antwort auf Musils Versuch, die Welt hinter den uferlosen Diskursen wiederzuerlangen: als stellten sie die Frage, wie eine lebendige Welt inmitten der Diskurse zu gewinnen sei, nachdem Dilettantismus zum Schicksal geworden ist.«