Worüber man nicht reden kann, darüber muß man einen Roman schreiben, so lautet die Lebens- und Überlebensmaxime A. F. Th. van der Heijdens. Es ist die einzige Art und Weise, wie er dem Schicksal seines 22jährigen Sohnes begegnen kann. Tonio van der Heijden starb am 23. Mai des Jahres 2010 in Amsterdam: Ein Auto überfuhr ihn am frühen Morgen auf dem Weg nach Hause. In einem zweiteiligen Roman findet und erfindet der Ich-Erzähler Adri die ersten sechs Lebensjahre seines Sohnes, und zwar von der Geburt im Juni 1988 bis zum Schuleintritt. Dieser Romanteil gehorcht dem Motto: den Sohn festhalten, ihn schützen vor allen Gefahren. Der zweite Teil konstruiert, in Form eines Kriminalromans, die für sich betrachtet völlig unlogischen Todesumstände von Tonio. Entstanden ist auf diese Weise ein berührender und bewegender Roman über das Unglück schlechthin, über die Unbegreifbarkeit des Unvorstellbaren - zugleich ein Buch über die unabweisbaren Fragen nach der eigenen Schuld, ein Buch der Trauer. Wenn es angesichts der Unfaßbarkeit des Todes eine Form der Trauer gibt, die den Lebenden Zukunft eröffnet und Zuversicht ermöglicht - so muß sie die Gestalt dieses Herz und Kopf in Bann schlagendes Requiems besitzen. Dieses Buch dementiert die weitverbreitete Meinung, angesichts des Todes sei alles sinnlos.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Roman Bucheli zeigt sich sehr berührt von diesem "Requiem" A. F. Th. van der Heijdens auf seinen 2010 durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Sohn. Der niederländische Autor, den er bereits, was Form und Umfang seiner Bücher betrifft, als "exzessiven" Schriftsteller kennengelernt hat, zeigt sich auch hier schamlos offen, herzzerreißend gibt er sich seiner Trauer und Verzweiflung hin und stellt sich schonungslos den Fragen, die dieser sinnlose Tod dem Leben stellt, so der Rezensent. Wenn er den Tod des Sohnes derart zum "Stoff" macht, könnte man das zwar für "pietätlos" oder "pathetisch" halten, da der Autor es aber in Literatur überführt, steht sein Buch in einer Reihe mit Kunstwerken wie Michelangelos "Pieta", versichert der Rezensent. Van der Heijdens Buch ist in seinen Augen tatsächlich ein "Requiem" mit musikalischen Qualitäten in Sprachklang und Rhythmus, das, wie Bucheli lobt, von Helga van Beuningen zudem hervorragend ins Deutsche übertragen wurde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2012Eine Kraftprobe mit dem eigenen Schmerz
Als der Sohn nach einem Unfall stirbt, beginnt der Vater zu schreiben: In "Tonio" ruft der großartige niederländische Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden dem Schicksal seine Verzweiflung entgegen.
Am 23. Mai 2010 verunglückte Tonio van der Heijden frühmorgens in Amsterdam. An den schweren inneren und Hirnverletzungen starb der gerade einmal 21 Jahre alte Mann, nachdem die Ärzte zehn Stunden lang im Operationssaal um sein Leben gekämpft hatten. Eine Tragödie, wie sie nicht gar so selten vorkommt: Alkoholisiert nach einer Fete, mit schlecht beleuchtetem Fahrrad auf einer Kreuzung, deren Ampel ausgestellt ist, zufällig kommt ein Auto vorbei - das klingt so banal, und es beendet ein junges Leben. "Er lässt uns gebrochen zurück", schreiben seine Eltern in der Todesanzeige. Im niederländischen Original klingt das noch niederschmetternder: "Hij laat ons kapot achter." Kaputt. Tonios Vater, A. F. Th. (Adri) van der Heijden, einer der berühmtesten und großartigsten Schriftsteller der Niederlande, kann nun nicht mehr weiterarbeiten und wie besessen seine Gegenwart in Prosa umzaubern. An dieser Schwelle ist die Kraft der literarischen Fiktion zu Ende.
Und dennoch resigniert "A. F. Th." - so sein Künstlernamenskürzel - nicht. Fast gleichzeitig mit dem Todestag seines einzigen Kindes richtet er seine Recherche auf dessen Leben, dessen Sterben. Tonio ist tot, doch es entsteht "Tonio". Ein "Requiemroman", in dem der kaputte Vater wenigstens mit seinen unzureichenden Mitteln, nein: nicht den Verlust verarbeitet oder das Kind weiterleben lässt. Das geht ja nicht. Der Autor tut, was ein Autor eben kann: Er ruft dem Schicksal seine Verzweiflung entgegen, sammelt die Erinnerungen, aus denen ab jetzt das Leben seines Sohnes besteht. Und er stellt sich dabei als niedergeschmettertes Objekt notgedrungen in den Mittelpunkt und feiert ein Requiem auf das eigene Leben. Das Buch, das dabei herausgekommen ist, wurde zur ungeheuerlichen Kraftprobe mit dem eigenen Schmerz. Natürlich hat der Schriftsteller diese Kraftprobe verloren. An der verzweifeltsten Stelle dieses verzweifelten Werkes beschreibt van der Heijden, wie er sich seine Zukunft vorstellt: dass die Zeit keineswegs den Verlust und das Gefühl der totalen Niederlage mildert, sondern dass alles mit den Jahren immer schmerzlicher werden wird. Bis zum eigenen Tod.
Bis zu solchen tiefschwarzen Lektionen aus dem Unfall am "schwarzen Pfingsttag" legt van der Heijden einen schweren Weg zurück. Er schneidet mit der ihm eigenen Detailfreude und Sprachmacht das eigene Erleben des Unfalltages mit zahlreichen Reminiszenzen an Tonios Leben zusammen: Tonios Zeugung, Tonios Geburt, die in die Tage des holländischen Fußballtriumphs bei den Europameisterschaften 1988 fiel. Die Reisen mit seiner Frau Mirjam Rautenstreich ("Minchen") und dem gemeinsamen Jungen, der wie jedes Kind mit den Jahren zur Person heranwächst. Tonio begleitet den Vater, zunehmend gelangweilt, zu Lesungen und Signierstunden. Macht das Abitur, wird zum passionierten Fotografen, bricht ein Studium ab, doch will er nun in Medienwissenschaften bald abschließen.
Ginge es dabei nur um den toten Tonio, würde dieser Roman zu einem traurigen Familienalbum mit Tagebuchschnipseln, wie dies auch andere Eltern, die ihre Kinder überleben mussten, anlegen. Van der Heijden aber, selbsternannter "Homo duplex", mit jeder Wahrnehmung zum Reflektieren und Aufschreiben gezwungen, will sich keineswegs mit "metaphysischer Ornithologie" abgeben und fragen, wo sein totes Kind jetzt wohl sei. Stattdessen fängt der Autor ein, was die Katastrophe mit ihm und aus ihm gemacht hat. Mit einer fotorealistischen Rückhaltlosigkeit, die für den Leser oft nur schwer auszuhalten ist, macht van der Heijden Bilanz. Er schildert bis zu körperlichen Details an den verdreckten Fingernägeln, am verquollenen Gesicht und der erkaltenden Haut den Sterbeprozess seines Kindes, den Vater und Mutter hinter einem Plastikvorhang "im nylongelben Beduinenzelt" auf dem Gang von Amsterdams größter und daher auch unbehaustester Klinik miterleben. Sinnlos läuft in solcher Schreckensstunde das Hirn leer, und auch diese Form dadaistischen Entsetzens erspart sich der Autor nicht: Er vermerkt, wie sein Denken im Moment, da der Arzt jede Hoffnung verneint, sich auf den eigenen Knoblauchatem richtet: ein Addio mit "Aglio olio".
Quälend ausführlich, weil komplett wahrhaftig die Schilderungen der Beerdigung, der namenlosen Wut der Eltern, des Heulens und Schreiens und der von Alkohol und Tabletten begünstigten Agonie. Mit keiner Faser seiner inneren und äußeren Existenz schont der Verfasser dabei weder seine Frau noch sich, legt ihre Leere und ihr Versagensgefühl ohne Rückhalt offen: "Indem ich Tonio gezeugt habe, wurde sein Tod eine der unwillkommenen Möglichkeiten, denen ich ihn auslieferte. Ich habe mit seinem Leben gespielt und verloren." Und dann richten die Eltern sich, wie das in solchen Fällen oft geschieht, auf die letzten Lebenstage des Kindes, befragen Tonios Freunde nach seinen Plänen und Taten, dringen dabei ein in eine beginnende Romanze und treiben schließlich sogar noch Bilder einer Überwachungskamera auf, die den Unfall fast zur Gänze eingefangen hat.
Bringt diese eingestandene "Zwangsneurose", der letzten Lebenszeit des geliebten Toten nahe zu sein, Trost? Van der Heijden lässt solche Hoffnung gar nicht erst aufkeimen, wenn er immer wieder seine eigene Lächerlichkeit reflektiert, seine verkehrten und nutzlosen Selbstvorwürfe, seine Zusammenbrüche: "Alles ist beseelt von seinem Verlust." Tonios schöne Freundin Jenny drückt es in der traurig-tröstlichen Schlussszene auf ihre Art aus, wenn sie lange Zeit allein im Dunkel von Tonios Kinderzimmer verweilt und zum Abschied sagt: "Ich glaube wirklich, dass die Toten eine bestimmte Energie für uns hinterlassen." Vielleicht ist es dieses Gefühl, das auch mit dem "Selig sind die Toten" in Brahms' Deutschem Requiem gemeint ist.
Es ist schwer, solch ein Mammutprojekt von Trauerarbeit nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen. Doch A. F. Th. van der Heijden ist ohnehin einer der bemerkenswertesten Romanciers, die es im Europa unserer Zeit gibt. Seine - zugegeben zuweilen weitschweifige - Methode, eigenes Leben, eigene Zeitgenossenschaft in mythologischen Sprachzusammenhängen zu einem tausendstimmigen Epos des Alltags zu verweben, verfeinert er bereits seit Jahrzehnten mit echter Besessenheit und arbeitet dabei gleichzeitig an diversen Prosazyklen. Nun wendet er diese Methode lebens- und todesprall, nackt vor seinem Publikum, ohne jede Verfremdung auf sein eigenes Schicksal an - dafür steht schon auf der niederländischen (leider nicht der deutschen) Ausgabe das fotografische Selbstporträt Tonios in Oscar-Wilde-Verkleidung aus der Fotoschule. Das Bild hing beim Autor im Flur, war Tonios Lieblingsbild, diente als Traueranzeige und ist nun Teil von Literatur.
Wir können davon ausgehen, dass Mirjam Rautenstreich, deren mütterliche Verzweiflung und deren im Schmerz fast ertränkte Liebe zum Autor einen Gutteil des Buches ausmachen, mit der Publikation vollkommen konform ging. Bei Verwandten, wie der alles andere als sympathisch und einfühlsam gezeichneten Schwiegermutter, die noch bei der Beerdigung den Verzicht auf jüdische Rituale beklagt und mit dem Friedhof nicht einverstanden ist, dürfte das sicher nicht der Fall sein. Doch das ist dem Autor augenscheinlich egal.
Dass er nach dem Tod des Sohnes an Selbstmord gedacht, den Gedanken aber als vorschnelle Lösung verworfen hat, dürfen die Bewunderer von van der Heijdens Prosa auch der trotzigen Schlussseite entnehmen, auf der in der Werkliste bereits die künftigen Romane verzeichnet stehen. Vielleicht kaputt, aber heroisch wird A. F. Th. also weitermachen. Was ist der Sinn? Diese Frage kommt angesichts der Lakonik des Todes, dieses Todes naturgemäß auf: "Was ist der Sinn, dass Mirjam und ich gut einundzwanzig Jahre lang so einen prächtigen Jungen neben uns hatten, ein Kind, das durch seine pure Lebenslust uns gesund und lebendig hielt" - und das es nun nicht mehr gibt. Die Antwort darauf kann nur sein: Liebe. Die Liebe zum eigenen Sohn hat die Gestalt dieses schwer zu verkraftenden und dennoch unfassbar eindrucksvollen Romans angenommen. Es gibt wenige Bücher, von denen sich das sagen lässt.
DIRK SCHÜMER
A. F. Th. van der Heijden: "Tonio". Ein Requiemroman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 671 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als der Sohn nach einem Unfall stirbt, beginnt der Vater zu schreiben: In "Tonio" ruft der großartige niederländische Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden dem Schicksal seine Verzweiflung entgegen.
Am 23. Mai 2010 verunglückte Tonio van der Heijden frühmorgens in Amsterdam. An den schweren inneren und Hirnverletzungen starb der gerade einmal 21 Jahre alte Mann, nachdem die Ärzte zehn Stunden lang im Operationssaal um sein Leben gekämpft hatten. Eine Tragödie, wie sie nicht gar so selten vorkommt: Alkoholisiert nach einer Fete, mit schlecht beleuchtetem Fahrrad auf einer Kreuzung, deren Ampel ausgestellt ist, zufällig kommt ein Auto vorbei - das klingt so banal, und es beendet ein junges Leben. "Er lässt uns gebrochen zurück", schreiben seine Eltern in der Todesanzeige. Im niederländischen Original klingt das noch niederschmetternder: "Hij laat ons kapot achter." Kaputt. Tonios Vater, A. F. Th. (Adri) van der Heijden, einer der berühmtesten und großartigsten Schriftsteller der Niederlande, kann nun nicht mehr weiterarbeiten und wie besessen seine Gegenwart in Prosa umzaubern. An dieser Schwelle ist die Kraft der literarischen Fiktion zu Ende.
Und dennoch resigniert "A. F. Th." - so sein Künstlernamenskürzel - nicht. Fast gleichzeitig mit dem Todestag seines einzigen Kindes richtet er seine Recherche auf dessen Leben, dessen Sterben. Tonio ist tot, doch es entsteht "Tonio". Ein "Requiemroman", in dem der kaputte Vater wenigstens mit seinen unzureichenden Mitteln, nein: nicht den Verlust verarbeitet oder das Kind weiterleben lässt. Das geht ja nicht. Der Autor tut, was ein Autor eben kann: Er ruft dem Schicksal seine Verzweiflung entgegen, sammelt die Erinnerungen, aus denen ab jetzt das Leben seines Sohnes besteht. Und er stellt sich dabei als niedergeschmettertes Objekt notgedrungen in den Mittelpunkt und feiert ein Requiem auf das eigene Leben. Das Buch, das dabei herausgekommen ist, wurde zur ungeheuerlichen Kraftprobe mit dem eigenen Schmerz. Natürlich hat der Schriftsteller diese Kraftprobe verloren. An der verzweifeltsten Stelle dieses verzweifelten Werkes beschreibt van der Heijden, wie er sich seine Zukunft vorstellt: dass die Zeit keineswegs den Verlust und das Gefühl der totalen Niederlage mildert, sondern dass alles mit den Jahren immer schmerzlicher werden wird. Bis zum eigenen Tod.
Bis zu solchen tiefschwarzen Lektionen aus dem Unfall am "schwarzen Pfingsttag" legt van der Heijden einen schweren Weg zurück. Er schneidet mit der ihm eigenen Detailfreude und Sprachmacht das eigene Erleben des Unfalltages mit zahlreichen Reminiszenzen an Tonios Leben zusammen: Tonios Zeugung, Tonios Geburt, die in die Tage des holländischen Fußballtriumphs bei den Europameisterschaften 1988 fiel. Die Reisen mit seiner Frau Mirjam Rautenstreich ("Minchen") und dem gemeinsamen Jungen, der wie jedes Kind mit den Jahren zur Person heranwächst. Tonio begleitet den Vater, zunehmend gelangweilt, zu Lesungen und Signierstunden. Macht das Abitur, wird zum passionierten Fotografen, bricht ein Studium ab, doch will er nun in Medienwissenschaften bald abschließen.
Ginge es dabei nur um den toten Tonio, würde dieser Roman zu einem traurigen Familienalbum mit Tagebuchschnipseln, wie dies auch andere Eltern, die ihre Kinder überleben mussten, anlegen. Van der Heijden aber, selbsternannter "Homo duplex", mit jeder Wahrnehmung zum Reflektieren und Aufschreiben gezwungen, will sich keineswegs mit "metaphysischer Ornithologie" abgeben und fragen, wo sein totes Kind jetzt wohl sei. Stattdessen fängt der Autor ein, was die Katastrophe mit ihm und aus ihm gemacht hat. Mit einer fotorealistischen Rückhaltlosigkeit, die für den Leser oft nur schwer auszuhalten ist, macht van der Heijden Bilanz. Er schildert bis zu körperlichen Details an den verdreckten Fingernägeln, am verquollenen Gesicht und der erkaltenden Haut den Sterbeprozess seines Kindes, den Vater und Mutter hinter einem Plastikvorhang "im nylongelben Beduinenzelt" auf dem Gang von Amsterdams größter und daher auch unbehaustester Klinik miterleben. Sinnlos läuft in solcher Schreckensstunde das Hirn leer, und auch diese Form dadaistischen Entsetzens erspart sich der Autor nicht: Er vermerkt, wie sein Denken im Moment, da der Arzt jede Hoffnung verneint, sich auf den eigenen Knoblauchatem richtet: ein Addio mit "Aglio olio".
Quälend ausführlich, weil komplett wahrhaftig die Schilderungen der Beerdigung, der namenlosen Wut der Eltern, des Heulens und Schreiens und der von Alkohol und Tabletten begünstigten Agonie. Mit keiner Faser seiner inneren und äußeren Existenz schont der Verfasser dabei weder seine Frau noch sich, legt ihre Leere und ihr Versagensgefühl ohne Rückhalt offen: "Indem ich Tonio gezeugt habe, wurde sein Tod eine der unwillkommenen Möglichkeiten, denen ich ihn auslieferte. Ich habe mit seinem Leben gespielt und verloren." Und dann richten die Eltern sich, wie das in solchen Fällen oft geschieht, auf die letzten Lebenstage des Kindes, befragen Tonios Freunde nach seinen Plänen und Taten, dringen dabei ein in eine beginnende Romanze und treiben schließlich sogar noch Bilder einer Überwachungskamera auf, die den Unfall fast zur Gänze eingefangen hat.
Bringt diese eingestandene "Zwangsneurose", der letzten Lebenszeit des geliebten Toten nahe zu sein, Trost? Van der Heijden lässt solche Hoffnung gar nicht erst aufkeimen, wenn er immer wieder seine eigene Lächerlichkeit reflektiert, seine verkehrten und nutzlosen Selbstvorwürfe, seine Zusammenbrüche: "Alles ist beseelt von seinem Verlust." Tonios schöne Freundin Jenny drückt es in der traurig-tröstlichen Schlussszene auf ihre Art aus, wenn sie lange Zeit allein im Dunkel von Tonios Kinderzimmer verweilt und zum Abschied sagt: "Ich glaube wirklich, dass die Toten eine bestimmte Energie für uns hinterlassen." Vielleicht ist es dieses Gefühl, das auch mit dem "Selig sind die Toten" in Brahms' Deutschem Requiem gemeint ist.
Es ist schwer, solch ein Mammutprojekt von Trauerarbeit nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen. Doch A. F. Th. van der Heijden ist ohnehin einer der bemerkenswertesten Romanciers, die es im Europa unserer Zeit gibt. Seine - zugegeben zuweilen weitschweifige - Methode, eigenes Leben, eigene Zeitgenossenschaft in mythologischen Sprachzusammenhängen zu einem tausendstimmigen Epos des Alltags zu verweben, verfeinert er bereits seit Jahrzehnten mit echter Besessenheit und arbeitet dabei gleichzeitig an diversen Prosazyklen. Nun wendet er diese Methode lebens- und todesprall, nackt vor seinem Publikum, ohne jede Verfremdung auf sein eigenes Schicksal an - dafür steht schon auf der niederländischen (leider nicht der deutschen) Ausgabe das fotografische Selbstporträt Tonios in Oscar-Wilde-Verkleidung aus der Fotoschule. Das Bild hing beim Autor im Flur, war Tonios Lieblingsbild, diente als Traueranzeige und ist nun Teil von Literatur.
Wir können davon ausgehen, dass Mirjam Rautenstreich, deren mütterliche Verzweiflung und deren im Schmerz fast ertränkte Liebe zum Autor einen Gutteil des Buches ausmachen, mit der Publikation vollkommen konform ging. Bei Verwandten, wie der alles andere als sympathisch und einfühlsam gezeichneten Schwiegermutter, die noch bei der Beerdigung den Verzicht auf jüdische Rituale beklagt und mit dem Friedhof nicht einverstanden ist, dürfte das sicher nicht der Fall sein. Doch das ist dem Autor augenscheinlich egal.
Dass er nach dem Tod des Sohnes an Selbstmord gedacht, den Gedanken aber als vorschnelle Lösung verworfen hat, dürfen die Bewunderer von van der Heijdens Prosa auch der trotzigen Schlussseite entnehmen, auf der in der Werkliste bereits die künftigen Romane verzeichnet stehen. Vielleicht kaputt, aber heroisch wird A. F. Th. also weitermachen. Was ist der Sinn? Diese Frage kommt angesichts der Lakonik des Todes, dieses Todes naturgemäß auf: "Was ist der Sinn, dass Mirjam und ich gut einundzwanzig Jahre lang so einen prächtigen Jungen neben uns hatten, ein Kind, das durch seine pure Lebenslust uns gesund und lebendig hielt" - und das es nun nicht mehr gibt. Die Antwort darauf kann nur sein: Liebe. Die Liebe zum eigenen Sohn hat die Gestalt dieses schwer zu verkraftenden und dennoch unfassbar eindrucksvollen Romans angenommen. Es gibt wenige Bücher, von denen sich das sagen lässt.
DIRK SCHÜMER
A. F. Th. van der Heijden: "Tonio". Ein Requiemroman.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 671 S., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Doch A. F. Th. van der Heijden ist ohnehin einer der bemerkenswertesten Romanciers, die es im Europa unserer Zeit gibt.« Dirk Schümer Frankfurter Allgemeine Zeitung 20120914