In Antonia Baums jüngstem Roman drehte sich alles um drei Kinder, die ständig um das Leben ihres risikoverliebten Vaters fürchten. Nur wenige Wochen vor Erscheinen des Buchs verunglückte Antonia Baums Vater schwer. Wie es sich anfühlt, wenn aus Fiktion Realität wird, und was in einem vorgeht, wenn plötzlich alles stillsteht, die Welt aber weitermacht, davon erzählt sie hier.
»Intensivstation, er lag auf der Intensivstation. Tony Soprano, der Gangsterboss aus meiner Lieblingsserie, lag auch schon auf der Intensivstation und wurde wieder gesund. Sein dummer seniler Onkel hatte ihn in den Bauch geschossen. Seine Familie, Meadow, Anthony Junior, Carmella, sie alle waren sofort gekommen. Wie wir.«
Als Antonia Baum erfährt, dass ihr Vater lebensgefährlich verunglückt im Krankenhaus liegt, ist sie wie gelähmt. Wie kann es sein, dass es den Menschen, mit dem sie noch zwei Tage zuvor im Restaurant gesessen hat, so nicht mehr gibt? Zumindest bringt sie den ohnmächtigen Mann im Krankenbett partout nicht mit ihrem Vater in Verbindung. Hat sie mit ihrem Roman über einen verantwortungslosen, abenteuerlustigen Vater das Schicksal herausgefordert?
In welchem Verhältnis stehen Fiktion und Realität? Ist sie eine Diebin, die ihre wichtigsten Menschen beklaut und aus der Beute Bücher macht? Die Autorin erzählt von Angst, Schuldgefühlen und Tod und davon, warum in ausweglosen Situationen nur Geschichten helfen.
»Intensivstation, er lag auf der Intensivstation. Tony Soprano, der Gangsterboss aus meiner Lieblingsserie, lag auch schon auf der Intensivstation und wurde wieder gesund. Sein dummer seniler Onkel hatte ihn in den Bauch geschossen. Seine Familie, Meadow, Anthony Junior, Carmella, sie alle waren sofort gekommen. Wie wir.«
Als Antonia Baum erfährt, dass ihr Vater lebensgefährlich verunglückt im Krankenhaus liegt, ist sie wie gelähmt. Wie kann es sein, dass es den Menschen, mit dem sie noch zwei Tage zuvor im Restaurant gesessen hat, so nicht mehr gibt? Zumindest bringt sie den ohnmächtigen Mann im Krankenbett partout nicht mit ihrem Vater in Verbindung. Hat sie mit ihrem Roman über einen verantwortungslosen, abenteuerlustigen Vater das Schicksal herausgefordert?
In welchem Verhältnis stehen Fiktion und Realität? Ist sie eine Diebin, die ihre wichtigsten Menschen beklaut und aus der Beute Bücher macht? Die Autorin erzählt von Angst, Schuldgefühlen und Tod und davon, warum in ausweglosen Situationen nur Geschichten helfen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Christopher Schmidt freut sich, dass Antonia Baum sich nun freigeschrieben hat. Eine Autorin, die begreift, dass Leben und Literatur nicht dasselbe sind, ist das eine. Ihr bei diesem Erkenntnisprozess zuschauen zu dürfen, etwas anderes. Eben das kann Schmidt mit Baums neuem Buch, einem Mémoire an den Unfall des Vaters der Autorin, aus dem sich Stück für Stück die Autorin Baum entwickelt, wie Schmidt feststellt. Wenn Baum im Buch schließlich damit beginnt, Geschichten zu erfinden, erzählerische Miniaturen, etwa eine Variante von Kästners "Das doppelte Lottchen", ist Schmidt hingerissen und konstatiert einen echten "Qualitätssprung".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2016Das doppelte Plotchen
Reife Leistung: Antonia Baum schreibt sich frei
mit ihrer autobiografischen Geschichte „Tony Soprano stirbt nicht“
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Das neue Buch von Antonia Baum beginnt nicht auf Seite eins, es beginnt auf Seite 67, also ziemlich genau auf halber Strecke – und das, obwohl die Autorin ihre Geschichte von der ersten Seite an erzählt. Doch in der ersten Hälfte von „Tony Soprano stirbt nicht“ bleibt die Handbremse poetologischer Reflexion oder besser Koketterie fest angezogen, seltsam verdrehter Überlegungen über den Status dessen, was und wie erzählt werden soll. Denn dieses Buch will kein Stück fiktionaler Literatur sein, sondern ein „Mémoire“, also ein Buch, das auf eigenem Erleben beruht – deshalb trägt es auch keine Genre-Bezeichnung. Zugleich weiß die Autorin, dass das Leben keine Geschichten liefert, Geschichten in Gestalt einer sinnhaften Ordnung, einer fabula docet. Dieser Widerspruch treibt die Autorin um, und obgleich sie ihn bis zur letzten Seite nicht zu lösen vermag, geschieht im Fortgang des Erzählens etwas Wunderbares: Das Buch selbst löst diesen Widerspruch für sie, womit mal wieder bewiesen wäre, dass Texte oft klüger sind als ihre Autoren.
Man kann hier als Leser staunend einer begabten jungen Frau dabei zusehen, wie sie in neun Kapiteln zur Schriftstellerin reift, „Tony Soprano stirbt nicht“ ist ein Stück literarisches Erwachsenwerden – und zwischen den Zeilen eben doch ein Entwicklungsroman. Am Ende nämlich lassen sich Wahrheit und Dichtung, Kunst und Leben nicht länger gegeneinander ausspielen, weil Dringlichkeit und ja, Wahrhaftigkeit, dem Geschilderten gerade aus der Erkenntnis zuwächst, dass das Leben selbst die größte Lüge ist.
Umso faszinierender ist dieser Vorgang, den man als Geburt der Tragödie aus dem Ungeist der Sitcom bezeichnen könnte, insofern, als sich die Autorin zunächst heillos in diesem scheinbaren Widerspruch verheddert. „Es soll nun um die Zeit gehen, in der jene Kinder zu mir kamen, um mich auszulachen und mit dem Finger auf mich zu zeigen“, heißt es gleich auf der ersten Seite. Gemeint sind die drei Geschwister aus Antonia Baums zweitem, im vergangenen Jahr erschienenem Roman „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“. Der Roman erzählt davon, dass ein alleinerziehender Vater eines Tages verschwindet, woraufhin seine Kinder fest davon überzeugt sind, ihm, dem halsbrecherischen Autofahrer, der meist an schrottreifen Oldtimern herumschraubt oder irgendwelchen dubiosen Geschäften nachgeht – immer mit einem Bein im Knast, mit dem anderen im Straßengraben –, könnte etwas zugestoßen sein. Im neuen Buch ist dem Vater nun tatsächlich etwas zugestoßen, allerdings dem realen Vater von Antonia Baum. Nach einem schweren Motorradunfall liegt er im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Und weil die Familienkonstellation im Vorgänger-Buch so ähnlich ist wie in diesem und weil der eigene Vater der Autorin unverkennbar das Vorbild gewesen ist für den Vater im Roman, glaubt sie, sie habe das Schicksal herausgefordert und ihre Fiktion würde sich grausam an ihr rächen. Hat sich der Abwehrzauber also unter der Hand in einen Beschwörungszauber verwandelt?
Das alles hat viel mit magischem Denken zu tun – Joan Didions Buch über den Tod ihrer Tochter und ihres Mannes „Das Jahr des magischen Denkens“ wird denn auch ausgiebig zitiert –, wenig mit einem tragfähigen Literaturkonzept. Denn so herum funktioniert Beglaubigung nun mal nicht. Die Literatur mag das Leben nachahmen, aber nicht umgekehrt. Und so hat die Rückbindung des neuen Buches an das alte den nicht gar so zauberhaften Beigeschmack von nachholender Selbstvermarktung. „Du schreibst mit Blut“, denkt die Ich-Erzählerin, als sie beginnt, über den Unfall des Vaters zu schreiben, und zweifelt, ob sie ein Vampir ist, der seine Zähne in die Halsschlagader des wahren Lebens nur gräbt, um ihm den Stoff für ein neues Buch abzusaugen. Hat sie insgeheim die Katastrophe sogar herbeigesehnt, um Kunst aus ihr zu zapfen? Andererseits weiß sie: Dem Tod „sind Narrative scheißegal“.
Einmal erzählt Antonia Baum, wie sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, wo sie als Redakteurin im Feuilleton arbeitet, einen Nachruf auf James Gandolfini schreiben soll, den Mann, der in der Serie „Die Sopranos“ den Tony spielt. Doch statt über den Schauspieler schreibt sie über diesen Tony, als wäre die Figur, nicht der Mensch gestorben. „Mein Nachruf wurde ein Liebesbrief an meinen Fernseh-Vater Tony, und mein echter Vater war ein bisschen beleidigt, nachdem er ihn gelesen hatte, worüber ich mich damals heimlich sehr freute“.
Aber natürlich ist dieser Nachruf im Modus des Quidproquo zugleich eben auch eine Liebeserklärung an den eigenen Vater, allerdings an den, der er hätte sein können, wenn er nicht ständig abwesend gewesen wäre, wenn er nicht Frau und Kinder vernachlässigt und letztlich verloren hätte, wenn er nicht das größte Kind der Familie gewesen wäre. Und wenn er nicht selbst eine Art Filmfigur in ihrem Leben gewesen wäre, in mythische Ferne entrückt wie Clint Eastwood, Marlon Brando oder Jack Nicholson: „Er war mein Star, und es ist die Aufgabe eines Stars, in Sichtweite, aber nicht in der Nähe zu sein.“ So verständlich die Sehnsucht ist, das Leben möge einem Drehbuch folgen, so verdreht, ja unreif wirkt es, diese Selbsttäuschung nicht zu durchschauen. Für diese Verwechslung von Leben und Kunst gibt es ein Wort. Es heißt Ästhetizismus, und gemeint ist damit eben nicht die Überschätzung der Kunst gegenüber dem Leben, sondern das Gegenteil: Die Verkennung des Lebens, weil man es bereits für Kunst hält. Auf diese Weise, schrieb der große Friedrich Dürrenmatt einmal, „kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen (. . . ), leider oft für bare statt für kostbare Münze genommen“.
Zunächst flüchtet sich die Erzählerin Antonia Baum folglich darein, wie schon in ihrem Vorgänger-Roman, den Motor im Leerlauf aufheulen zu lassen. Die Rollenprosa von „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“ kam deshalb nicht von der Stelle, weil die Autorin im Tussi-Plapper-Sound ihrer Protagonistin Romy die dysfunktionale Familiensituation überkodierte und -dekorierte. Pausbäckige Ausstattungsprosa war das – bigger than life zwar, aber mit Papas Wagenheber auf Hollywood-Fallhöhe emporgehievt.
Im neuen Buch jedoch wird irgendwann der Fernsehstecker gezogen, indem die Erzählerin tatsächlich anfängt, Geschichten zu erfinden: In einer dieser erzählerischen Miniaturen spiegelt sich der Verfall der Familie im körperlichen Verfall ihres Hundes. In einer zweiten, Stephen-King-haften Episode wird ein Yuppie, der im Suff im Badezimmer ausrutscht und eine Querschnittslähmung davonträgt, zum seiner alten Mutter ausgelieferten Opfer ihrer sadistischen Fürsorge. Und in der dritten erzählt Antonia Baum eine hinreißende Variante von Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“. Für sich genommen wären diese doppelten Plotchen nur hübsche Fingerübungen. Hier aber sind es Fingerübungen für eine Totenklage, Geschichten, die man sich ausdenkt, um das Unausdenkliche nicht denken zu müssen – ablesbar ist dieser Qualitätssprung daran, wie die Sprache anzieht und sich klärt. Am Ende, das eigentlich erst ein Anfang ist, steht die überfällige Einsicht, „dass man nicht alles, was man schreibt, erlebt haben muss“ und es keine Rolle spielt, inwieweit ein Text autobiografisch ist. „ . . . ich wusste, dass ich das Leben nicht lesen kann wie einen Roman, in dem Zeichen versteckt sind, und ich wusste, dass Drehbücher und Geschichten keine Prognosen sind für das, was vor einem liegt.“ Antonia Baum schreibt über den Schwebezustand zwischen Leben und Tod, und sie lernt dabei auch, den Schwebezustand namens Literatur auszuhalten. Und plötzlich gelingen ihr so schwerelose Sätze wie dieser: „Es war ein kalter Tag, und die Wolken am Himmel bewegten sich, als würden sie schlecht schlafen.“
Antonia Baum: Tony Soprano stirbt nicht. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 144 Seiten, 18 Euro. E-Book 13,99 Euro.
Dem realen Vater ist etwas
zugestoßen – so wie dem fiktiven
im Vorgänger-Roman
„ .. . ich wusste, dass ich das
Leben nicht lesen kann
wie einen Roman . . .“
Die Geburt der Tragödie aus dem Ungeist der Sitcom – die Erzählerin Antonia Baum.
Foto: Franz Bischof/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Reife Leistung: Antonia Baum schreibt sich frei
mit ihrer autobiografischen Geschichte „Tony Soprano stirbt nicht“
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Das neue Buch von Antonia Baum beginnt nicht auf Seite eins, es beginnt auf Seite 67, also ziemlich genau auf halber Strecke – und das, obwohl die Autorin ihre Geschichte von der ersten Seite an erzählt. Doch in der ersten Hälfte von „Tony Soprano stirbt nicht“ bleibt die Handbremse poetologischer Reflexion oder besser Koketterie fest angezogen, seltsam verdrehter Überlegungen über den Status dessen, was und wie erzählt werden soll. Denn dieses Buch will kein Stück fiktionaler Literatur sein, sondern ein „Mémoire“, also ein Buch, das auf eigenem Erleben beruht – deshalb trägt es auch keine Genre-Bezeichnung. Zugleich weiß die Autorin, dass das Leben keine Geschichten liefert, Geschichten in Gestalt einer sinnhaften Ordnung, einer fabula docet. Dieser Widerspruch treibt die Autorin um, und obgleich sie ihn bis zur letzten Seite nicht zu lösen vermag, geschieht im Fortgang des Erzählens etwas Wunderbares: Das Buch selbst löst diesen Widerspruch für sie, womit mal wieder bewiesen wäre, dass Texte oft klüger sind als ihre Autoren.
Man kann hier als Leser staunend einer begabten jungen Frau dabei zusehen, wie sie in neun Kapiteln zur Schriftstellerin reift, „Tony Soprano stirbt nicht“ ist ein Stück literarisches Erwachsenwerden – und zwischen den Zeilen eben doch ein Entwicklungsroman. Am Ende nämlich lassen sich Wahrheit und Dichtung, Kunst und Leben nicht länger gegeneinander ausspielen, weil Dringlichkeit und ja, Wahrhaftigkeit, dem Geschilderten gerade aus der Erkenntnis zuwächst, dass das Leben selbst die größte Lüge ist.
Umso faszinierender ist dieser Vorgang, den man als Geburt der Tragödie aus dem Ungeist der Sitcom bezeichnen könnte, insofern, als sich die Autorin zunächst heillos in diesem scheinbaren Widerspruch verheddert. „Es soll nun um die Zeit gehen, in der jene Kinder zu mir kamen, um mich auszulachen und mit dem Finger auf mich zu zeigen“, heißt es gleich auf der ersten Seite. Gemeint sind die drei Geschwister aus Antonia Baums zweitem, im vergangenen Jahr erschienenem Roman „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“. Der Roman erzählt davon, dass ein alleinerziehender Vater eines Tages verschwindet, woraufhin seine Kinder fest davon überzeugt sind, ihm, dem halsbrecherischen Autofahrer, der meist an schrottreifen Oldtimern herumschraubt oder irgendwelchen dubiosen Geschäften nachgeht – immer mit einem Bein im Knast, mit dem anderen im Straßengraben –, könnte etwas zugestoßen sein. Im neuen Buch ist dem Vater nun tatsächlich etwas zugestoßen, allerdings dem realen Vater von Antonia Baum. Nach einem schweren Motorradunfall liegt er im künstlichen Koma auf der Intensivstation. Und weil die Familienkonstellation im Vorgänger-Buch so ähnlich ist wie in diesem und weil der eigene Vater der Autorin unverkennbar das Vorbild gewesen ist für den Vater im Roman, glaubt sie, sie habe das Schicksal herausgefordert und ihre Fiktion würde sich grausam an ihr rächen. Hat sich der Abwehrzauber also unter der Hand in einen Beschwörungszauber verwandelt?
Das alles hat viel mit magischem Denken zu tun – Joan Didions Buch über den Tod ihrer Tochter und ihres Mannes „Das Jahr des magischen Denkens“ wird denn auch ausgiebig zitiert –, wenig mit einem tragfähigen Literaturkonzept. Denn so herum funktioniert Beglaubigung nun mal nicht. Die Literatur mag das Leben nachahmen, aber nicht umgekehrt. Und so hat die Rückbindung des neuen Buches an das alte den nicht gar so zauberhaften Beigeschmack von nachholender Selbstvermarktung. „Du schreibst mit Blut“, denkt die Ich-Erzählerin, als sie beginnt, über den Unfall des Vaters zu schreiben, und zweifelt, ob sie ein Vampir ist, der seine Zähne in die Halsschlagader des wahren Lebens nur gräbt, um ihm den Stoff für ein neues Buch abzusaugen. Hat sie insgeheim die Katastrophe sogar herbeigesehnt, um Kunst aus ihr zu zapfen? Andererseits weiß sie: Dem Tod „sind Narrative scheißegal“.
Einmal erzählt Antonia Baum, wie sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, wo sie als Redakteurin im Feuilleton arbeitet, einen Nachruf auf James Gandolfini schreiben soll, den Mann, der in der Serie „Die Sopranos“ den Tony spielt. Doch statt über den Schauspieler schreibt sie über diesen Tony, als wäre die Figur, nicht der Mensch gestorben. „Mein Nachruf wurde ein Liebesbrief an meinen Fernseh-Vater Tony, und mein echter Vater war ein bisschen beleidigt, nachdem er ihn gelesen hatte, worüber ich mich damals heimlich sehr freute“.
Aber natürlich ist dieser Nachruf im Modus des Quidproquo zugleich eben auch eine Liebeserklärung an den eigenen Vater, allerdings an den, der er hätte sein können, wenn er nicht ständig abwesend gewesen wäre, wenn er nicht Frau und Kinder vernachlässigt und letztlich verloren hätte, wenn er nicht das größte Kind der Familie gewesen wäre. Und wenn er nicht selbst eine Art Filmfigur in ihrem Leben gewesen wäre, in mythische Ferne entrückt wie Clint Eastwood, Marlon Brando oder Jack Nicholson: „Er war mein Star, und es ist die Aufgabe eines Stars, in Sichtweite, aber nicht in der Nähe zu sein.“ So verständlich die Sehnsucht ist, das Leben möge einem Drehbuch folgen, so verdreht, ja unreif wirkt es, diese Selbsttäuschung nicht zu durchschauen. Für diese Verwechslung von Leben und Kunst gibt es ein Wort. Es heißt Ästhetizismus, und gemeint ist damit eben nicht die Überschätzung der Kunst gegenüber dem Leben, sondern das Gegenteil: Die Verkennung des Lebens, weil man es bereits für Kunst hält. Auf diese Weise, schrieb der große Friedrich Dürrenmatt einmal, „kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen (. . . ), leider oft für bare statt für kostbare Münze genommen“.
Zunächst flüchtet sich die Erzählerin Antonia Baum folglich darein, wie schon in ihrem Vorgänger-Roman, den Motor im Leerlauf aufheulen zu lassen. Die Rollenprosa von „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“ kam deshalb nicht von der Stelle, weil die Autorin im Tussi-Plapper-Sound ihrer Protagonistin Romy die dysfunktionale Familiensituation überkodierte und -dekorierte. Pausbäckige Ausstattungsprosa war das – bigger than life zwar, aber mit Papas Wagenheber auf Hollywood-Fallhöhe emporgehievt.
Im neuen Buch jedoch wird irgendwann der Fernsehstecker gezogen, indem die Erzählerin tatsächlich anfängt, Geschichten zu erfinden: In einer dieser erzählerischen Miniaturen spiegelt sich der Verfall der Familie im körperlichen Verfall ihres Hundes. In einer zweiten, Stephen-King-haften Episode wird ein Yuppie, der im Suff im Badezimmer ausrutscht und eine Querschnittslähmung davonträgt, zum seiner alten Mutter ausgelieferten Opfer ihrer sadistischen Fürsorge. Und in der dritten erzählt Antonia Baum eine hinreißende Variante von Erich Kästners „Das doppelte Lottchen“. Für sich genommen wären diese doppelten Plotchen nur hübsche Fingerübungen. Hier aber sind es Fingerübungen für eine Totenklage, Geschichten, die man sich ausdenkt, um das Unausdenkliche nicht denken zu müssen – ablesbar ist dieser Qualitätssprung daran, wie die Sprache anzieht und sich klärt. Am Ende, das eigentlich erst ein Anfang ist, steht die überfällige Einsicht, „dass man nicht alles, was man schreibt, erlebt haben muss“ und es keine Rolle spielt, inwieweit ein Text autobiografisch ist. „ . . . ich wusste, dass ich das Leben nicht lesen kann wie einen Roman, in dem Zeichen versteckt sind, und ich wusste, dass Drehbücher und Geschichten keine Prognosen sind für das, was vor einem liegt.“ Antonia Baum schreibt über den Schwebezustand zwischen Leben und Tod, und sie lernt dabei auch, den Schwebezustand namens Literatur auszuhalten. Und plötzlich gelingen ihr so schwerelose Sätze wie dieser: „Es war ein kalter Tag, und die Wolken am Himmel bewegten sich, als würden sie schlecht schlafen.“
Antonia Baum: Tony Soprano stirbt nicht. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 144 Seiten, 18 Euro. E-Book 13,99 Euro.
Dem realen Vater ist etwas
zugestoßen – so wie dem fiktiven
im Vorgänger-Roman
„ .. . ich wusste, dass ich das
Leben nicht lesen kann
wie einen Roman . . .“
Die Geburt der Tragödie aus dem Ungeist der Sitcom – die Erzählerin Antonia Baum.
Foto: Franz Bischof/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Antonia Baum hofft, dass sie durch Geschichten gerettet wird - und ihr Vater: durch ihr Buch.« Volker Weidermann Literatur Spiegel 20160227