Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.07.2011Du hast dir alles selbst zuzuschreiben
Die kanadische Autorin Alice Munro wird achtzig. In ihrem neuen Erzählband „Zu viel Glück“ erreicht sie den Zenit ihrer erbarmungslosen Einfachheit
Ein dreifacher Mord steht im Zentrum von „Dimensionen“, der ersten und besten Geschichte in Alice Munros neuem Erzählungsband „Zu viel Glück“. Welcher Albtraum verbirgt sich hinter dem Kopf des Zimmermädchens Doree, das im Blue Spruce Inn Betten überzieht und Toiletten putzt, sonntags im Bus sitzt und nach jedem Umsteigen nervöser wird? Alice Munros Erzählung nähert sich dem Schrecklichen langsam, so langsam, wie das Menschen tun, die mehr verdrängen als erkennen.
Das Mordgeschehen selbst spielt in der Geschichte nur eine kleine Nebenrolle. Alice Munro interessiert sich für den Mörder, für Lloyd, den Mann des Zimmermädchens Doree, der die Tat an den drei gemeinsamen Kindern verübt hat. Lloyd hat Doree immer an allem die Schuld zugeschoben. Nach dem Mord sagte er zu ihr: „Du hast es dir selbst zuzuschreiben.“ Der Satz hatte etwas von einem Resümee, er besagte: Es war deine Schuld, dass damals die Milch in deiner Brust versiegte, dass die Spaghettidose, die du billig gekauft hast, eine Delle hatte, und weil du nach dem Streit darüber zu deiner Freundin gefahren bist und mich mit den Kindern allein gelassen hast, hast du es selbst verschuldet, dass die drei Kinder tot sind!
Lloyd schreibt Doree aus der Anstalt einen Brief. Dieser Brief ist gespickt mit pharisäerhaft christlichen Lehrsätzen. Sein Hauptsatz heißt „Erkenne dich selbst“. Lloyd glaubt sich auf dem Weg der Erkenntnis. Der Zynismus des selbstgerechten Mörders ist kaum auszuhalten. Doch Doree schafft es. Nur ein Wort gibt es, das sie unter all dem Selbstbetrug nicht ertragen kann, das Wort heißt: „Liebe“.
In der Erzählung „Tieflöcher“ ist es die Dankbarkeit, die Kents Leben zerstört. Als Kind ist er in eine Spalte gefallen, sein Vater, der Geologe und Sally, seine Mutter, haben ihn damals herausgeholt und ihm das Leben gerettet. Dieser „Schuld“ hält er nicht stand. Kent verschwindet von zu Hause, taucht an den Rändern der Gesellschaft unter und teilt sein Leben mit den Ärmsten. Als Sally ihn nach vielen Jahren ausfindig macht, finden sie keine gemeinsame Sprache. Sie kann nichts machen. Sally fährt nach Hause. Sie sieht es ein und stellt fest: Ich habe den Tag überlebt.
Nett sind diese Erzählungen nie und immer schnörkelfrei so zusammengesetzt, dass Spannung herrscht bis zum letzten Satz. Das ist die Fallhöhe der Klarsicht Alice Munros, die seit je das Wort „Zuflucht“, in Zusammenhang mit Literatur hasst. Natürlich handelt keine dieser Erzählungen von „Zuflucht“, Trost oder auch nur etwas Ähnlichem, sondern vom Kampf um die Liebe und von der Fahrlässigkeit im Umgang mit ihr. Das ist manchmal witzig und ironisch, besonders dann, wenn es um gesellschaftliche Unterschiede geht und sich der eine über den anderen lustig macht.
Wenn Alice Munro aber die Gegenwart verlässt und wie in der Erzählung „Zu viel Glück“ in vergangene Zeiten springt, dann kann es geschehen, dass sie sich im historischen Kontext verheddert und die Figur der frühen russischen Mathematikerin und Schriftstellerin Sofia Kowalewskaja nicht den scharfen Umriss bekommt, den sie verdient hätte, sondern in wechselnden Kulissen verschwimmt. Es ist klar, in welcher Absicht diese aus dem Munro’schen Repertoire gefallene unbändige junge Frau aus dem späten 19. Jahrhundert, auf deren Biographie die kanadische Autorin zufällig in der Encyklopedia Britannica gestoßen ist, in diesem Erzählband ihren Platz findet. Sie ist ein frühes Beispiel für die Selbstbestimmtheit einer talentierten Frau, die gesellschaftliche Regeln ignoriert und den Preis zahlen muss, den das freie Dasein von ihr verlangt.
In diesem Buch öffnet Alice Munro nicht mehr wie in ihren früheren Büchern die Wohnzimmer- und Schlafzimmertüren anderer Leute. Es gibt keine lästigen Nachbarn mehr, die überflüssige Fragen stellen und quasseln, damit der Tag vergeht. Zu Hause war es in ihren Geschichten nie am schönsten. Immer war die Gemütlichkeit Heuchelei, Jahrzehnte laborierte Alice Munro an der Aufdeckung aller erdenklicher Formen dieses heimeligen Alltags. Je erfahrener sie geworden ist, desto ungemütlicher wird es in den „schmutzigen Seitenstraßen des Lebens“.
Nun, in „Zu viel Glück“ hat sie definitiv keine Lust auf Kleinigkeiten. Es geht in den meisten Erzählungen um die Totale. Um Mord, Alter, Krankheit, um den Tod, und immer wieder und vehement um die Unterschiede von Mann und Frau. Die Frauen sind gezwungen, sich alleine durchzuschlagen, die Männer scheitern oder verschwinden.
Jedes Familienleben, überhaupt jede menschliche Gemeinschaft ist ein Zusammenspiel aus Rede und Widerrede, Konstruktionen und Interpretationen. Und exakt hier mischt sich Alice Munro ein. Sie gilt seit den frühen sechziger Jahren als Erforscherin der Täuschungen und ihrer Ursachen. 1961 erschien über sie in der Vancouver Sun ein Porträt mit der Überschrift „Housewife finds time to write Short Stories“, bebildert mit einem Porträt zwischen den Köpfen ihrer beiden kleinen Töchter. Das „Housewife“ ließ sich nicht beirren.
Jahrelang musste sie auf die Publikation ihres ersten Erzählungsbandes warten, bis 1968 „Tanz der Seligen Geister“ erschien. Seitdem beschäftigt sie sich immer wieder mit der Feinanalyse privater Strukturen. In den neuen Erzählungen herrscht allerdings eine neue Unerbittlichkeit. Glück hat Alice Munro, die Nachfahrin schottischer Presbyterianer, einmal gesagt, „Glück ist viel komplizierter. Glück ist harte Arbeit“. In „Zu viel Glück“ ist das Unglück inbegriffen.
Orte und Landschaften sind für sie nicht von Bedeutung. Orte, die London heißen, befinden sich im kanadischen Ontario. Und wenn Clinton erwähnt wird, hat das nichts mit Mr. oder Mrs. Clinton zu tun. Clinton ist eine Kleinstadt in Western Ontario. Hier lebt Alice Munro mit ihrem zweiten Mann, dem Geografen Gerry Fremlin. Clinton liegt übrigens unweit ihres Geburtsortes Wingham.
Mit Margaret Atwood, ihrer Nachbarin und Freundin, teilt sie sich die Auszeichnung, beste Autorin Kanadas zu sein. Ihr Terrain ist aufgeteilt. Margaret Atwood beschäftigt sich mit politischen Themen, vom künstlichen Menschen bis zum Zusammenbruch künstlich aufgeheizter Finanzmärkte, Alice Munro verharrt im Privaten, allerdings in der prädigitalen Epoche – sie ist definitiv nicht die Autorin des 21. Jahrhunderts.
Das verhasste Bigotte, das in ihrer Landschaft auf Straßenschildern vor dem „Jüngsten Tag“ und vor dem „Eigenen Verderben“ warnt, mag sie nicht nur zur Erzählung über Lloyd, den Dreifach-Mörder, sondern auch zu Mr. Purvis geführt haben. Mr. Purvis tritt in der Erzählung „Der Grat von Wenlock“ auf: Ein reicher Spanner, ein absurder Alter, der junge Frauen auffordert, nackt mit ihm zu Abend zu essen und nackt neben ihm in der Bibliothek Gedichte zu rezitieren. „Nackt“, hatte Mr. Purvis’ Haushälterin gesagt, „nackt. Wissen Sie, was das Wort bedeutet?“ Vor Scham und Peinlichkeit schwitzend, überlegt die Ich-Erzählerin, während Zwerghuhn und Safranreis serviert werden, warum sie nicht flieht und wie sie die bevorstehende Vergewaltigung überstehen soll. Nichts geschieht, außer dass ihre Pobacken am Satin kleben und beim Aufstehen ein schmatzendes Geräusch hinterlassen.
Mitten in einer Erzählung haut die Meisterin der Kurzprosa in eigener Sache auf den Tisch. „Schon die erste Enttäuschung“, lässt sie Yoyce ausrufen, „Erzählungen, kein Roman.“ Erzählungen findet Yoyce, verringern das Gewicht eines Buches. Erzählungen sehen so aus, als fehle dem Autor der Mut, sich in der Literatur sicher niederzulassen, sagt Yoyce. Alice Munro hat, abgesehen von einer als Roman deklarierten, leider nicht ganz gelungenen, Autobiographie („Wozu wollen Sie das wissen“, 2006), immer „nur“ Erzählungen geschrieben.
Erzählungen, sagt Jonathan Franzen und bezieht sich dabei auf Tschechow, lassen dem Schriftsteller keinen Platz, sich zu verstecken. Verstecken ist alles, was Alice Munro verachtet. Erzählungen sind in Amerika und Kanada beliebt, bei uns werden sie eklatant unter Wert gehandelt. Leider. Jonathan Franzen bewundert Alice Munro. Er nennt sie „a marvel“, absolut die „beste Erzählerin Nordamerikas“. Lobsprüche kommen herrlich locker über seine Lippen. Auch deutsche Autoren verehren Alice Munro und studieren ihre Geschichten wie eine Landkarte zum Erreichen eines ferngelegenen Ziels.
Wir wissen wenig, sagen Alice Munros Figuren, am allerwenigsten über uns selbst und über die Menschen, die uns am allernächsten sind. Es ist das beste an ihren erbarmungslos klaren und raffiniert konzipierten Geschichten, dass uns dabei ein Licht aufgeht. Das ist es, was Alice Munro schafft: Erleuchtung. Bei einer solchen literarischen Leistung fällt es leicht, ihr zum 80. Geburtstag zu gratulieren, den sie an diesem Sonntag feiert, und Glück zu wünschen – ohne das „zu viel“.
VERENA AUFFERMANN
ALICE MUNRO: Zu viel Glück. Zehn Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 364 Seiten. 19,95 Euro.
Je erfahrener Alice Munro
geworden ist, desto ungemütlicher
werden ihre Erzählungen
In Ontario, dort, wo Alice Munro
lebt, warnen Straßenschilder
vor dem Jüngsten Tag
Am 10. Juli 1931 wurde die kanadische Schriftstellerin Alice Munro in Wingham, Ontario, geboren. Seit 1968 erforscht sie in ihren Erzählungen „die schmutzigen Seitenstraßen des Lebens“. Foto: Andrew Testa/eyevine/interTOPICS
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Die kanadische Autorin Alice Munro wird achtzig. In ihrem neuen Erzählband „Zu viel Glück“ erreicht sie den Zenit ihrer erbarmungslosen Einfachheit
Ein dreifacher Mord steht im Zentrum von „Dimensionen“, der ersten und besten Geschichte in Alice Munros neuem Erzählungsband „Zu viel Glück“. Welcher Albtraum verbirgt sich hinter dem Kopf des Zimmermädchens Doree, das im Blue Spruce Inn Betten überzieht und Toiletten putzt, sonntags im Bus sitzt und nach jedem Umsteigen nervöser wird? Alice Munros Erzählung nähert sich dem Schrecklichen langsam, so langsam, wie das Menschen tun, die mehr verdrängen als erkennen.
Das Mordgeschehen selbst spielt in der Geschichte nur eine kleine Nebenrolle. Alice Munro interessiert sich für den Mörder, für Lloyd, den Mann des Zimmermädchens Doree, der die Tat an den drei gemeinsamen Kindern verübt hat. Lloyd hat Doree immer an allem die Schuld zugeschoben. Nach dem Mord sagte er zu ihr: „Du hast es dir selbst zuzuschreiben.“ Der Satz hatte etwas von einem Resümee, er besagte: Es war deine Schuld, dass damals die Milch in deiner Brust versiegte, dass die Spaghettidose, die du billig gekauft hast, eine Delle hatte, und weil du nach dem Streit darüber zu deiner Freundin gefahren bist und mich mit den Kindern allein gelassen hast, hast du es selbst verschuldet, dass die drei Kinder tot sind!
Lloyd schreibt Doree aus der Anstalt einen Brief. Dieser Brief ist gespickt mit pharisäerhaft christlichen Lehrsätzen. Sein Hauptsatz heißt „Erkenne dich selbst“. Lloyd glaubt sich auf dem Weg der Erkenntnis. Der Zynismus des selbstgerechten Mörders ist kaum auszuhalten. Doch Doree schafft es. Nur ein Wort gibt es, das sie unter all dem Selbstbetrug nicht ertragen kann, das Wort heißt: „Liebe“.
In der Erzählung „Tieflöcher“ ist es die Dankbarkeit, die Kents Leben zerstört. Als Kind ist er in eine Spalte gefallen, sein Vater, der Geologe und Sally, seine Mutter, haben ihn damals herausgeholt und ihm das Leben gerettet. Dieser „Schuld“ hält er nicht stand. Kent verschwindet von zu Hause, taucht an den Rändern der Gesellschaft unter und teilt sein Leben mit den Ärmsten. Als Sally ihn nach vielen Jahren ausfindig macht, finden sie keine gemeinsame Sprache. Sie kann nichts machen. Sally fährt nach Hause. Sie sieht es ein und stellt fest: Ich habe den Tag überlebt.
Nett sind diese Erzählungen nie und immer schnörkelfrei so zusammengesetzt, dass Spannung herrscht bis zum letzten Satz. Das ist die Fallhöhe der Klarsicht Alice Munros, die seit je das Wort „Zuflucht“, in Zusammenhang mit Literatur hasst. Natürlich handelt keine dieser Erzählungen von „Zuflucht“, Trost oder auch nur etwas Ähnlichem, sondern vom Kampf um die Liebe und von der Fahrlässigkeit im Umgang mit ihr. Das ist manchmal witzig und ironisch, besonders dann, wenn es um gesellschaftliche Unterschiede geht und sich der eine über den anderen lustig macht.
Wenn Alice Munro aber die Gegenwart verlässt und wie in der Erzählung „Zu viel Glück“ in vergangene Zeiten springt, dann kann es geschehen, dass sie sich im historischen Kontext verheddert und die Figur der frühen russischen Mathematikerin und Schriftstellerin Sofia Kowalewskaja nicht den scharfen Umriss bekommt, den sie verdient hätte, sondern in wechselnden Kulissen verschwimmt. Es ist klar, in welcher Absicht diese aus dem Munro’schen Repertoire gefallene unbändige junge Frau aus dem späten 19. Jahrhundert, auf deren Biographie die kanadische Autorin zufällig in der Encyklopedia Britannica gestoßen ist, in diesem Erzählband ihren Platz findet. Sie ist ein frühes Beispiel für die Selbstbestimmtheit einer talentierten Frau, die gesellschaftliche Regeln ignoriert und den Preis zahlen muss, den das freie Dasein von ihr verlangt.
In diesem Buch öffnet Alice Munro nicht mehr wie in ihren früheren Büchern die Wohnzimmer- und Schlafzimmertüren anderer Leute. Es gibt keine lästigen Nachbarn mehr, die überflüssige Fragen stellen und quasseln, damit der Tag vergeht. Zu Hause war es in ihren Geschichten nie am schönsten. Immer war die Gemütlichkeit Heuchelei, Jahrzehnte laborierte Alice Munro an der Aufdeckung aller erdenklicher Formen dieses heimeligen Alltags. Je erfahrener sie geworden ist, desto ungemütlicher wird es in den „schmutzigen Seitenstraßen des Lebens“.
Nun, in „Zu viel Glück“ hat sie definitiv keine Lust auf Kleinigkeiten. Es geht in den meisten Erzählungen um die Totale. Um Mord, Alter, Krankheit, um den Tod, und immer wieder und vehement um die Unterschiede von Mann und Frau. Die Frauen sind gezwungen, sich alleine durchzuschlagen, die Männer scheitern oder verschwinden.
Jedes Familienleben, überhaupt jede menschliche Gemeinschaft ist ein Zusammenspiel aus Rede und Widerrede, Konstruktionen und Interpretationen. Und exakt hier mischt sich Alice Munro ein. Sie gilt seit den frühen sechziger Jahren als Erforscherin der Täuschungen und ihrer Ursachen. 1961 erschien über sie in der Vancouver Sun ein Porträt mit der Überschrift „Housewife finds time to write Short Stories“, bebildert mit einem Porträt zwischen den Köpfen ihrer beiden kleinen Töchter. Das „Housewife“ ließ sich nicht beirren.
Jahrelang musste sie auf die Publikation ihres ersten Erzählungsbandes warten, bis 1968 „Tanz der Seligen Geister“ erschien. Seitdem beschäftigt sie sich immer wieder mit der Feinanalyse privater Strukturen. In den neuen Erzählungen herrscht allerdings eine neue Unerbittlichkeit. Glück hat Alice Munro, die Nachfahrin schottischer Presbyterianer, einmal gesagt, „Glück ist viel komplizierter. Glück ist harte Arbeit“. In „Zu viel Glück“ ist das Unglück inbegriffen.
Orte und Landschaften sind für sie nicht von Bedeutung. Orte, die London heißen, befinden sich im kanadischen Ontario. Und wenn Clinton erwähnt wird, hat das nichts mit Mr. oder Mrs. Clinton zu tun. Clinton ist eine Kleinstadt in Western Ontario. Hier lebt Alice Munro mit ihrem zweiten Mann, dem Geografen Gerry Fremlin. Clinton liegt übrigens unweit ihres Geburtsortes Wingham.
Mit Margaret Atwood, ihrer Nachbarin und Freundin, teilt sie sich die Auszeichnung, beste Autorin Kanadas zu sein. Ihr Terrain ist aufgeteilt. Margaret Atwood beschäftigt sich mit politischen Themen, vom künstlichen Menschen bis zum Zusammenbruch künstlich aufgeheizter Finanzmärkte, Alice Munro verharrt im Privaten, allerdings in der prädigitalen Epoche – sie ist definitiv nicht die Autorin des 21. Jahrhunderts.
Das verhasste Bigotte, das in ihrer Landschaft auf Straßenschildern vor dem „Jüngsten Tag“ und vor dem „Eigenen Verderben“ warnt, mag sie nicht nur zur Erzählung über Lloyd, den Dreifach-Mörder, sondern auch zu Mr. Purvis geführt haben. Mr. Purvis tritt in der Erzählung „Der Grat von Wenlock“ auf: Ein reicher Spanner, ein absurder Alter, der junge Frauen auffordert, nackt mit ihm zu Abend zu essen und nackt neben ihm in der Bibliothek Gedichte zu rezitieren. „Nackt“, hatte Mr. Purvis’ Haushälterin gesagt, „nackt. Wissen Sie, was das Wort bedeutet?“ Vor Scham und Peinlichkeit schwitzend, überlegt die Ich-Erzählerin, während Zwerghuhn und Safranreis serviert werden, warum sie nicht flieht und wie sie die bevorstehende Vergewaltigung überstehen soll. Nichts geschieht, außer dass ihre Pobacken am Satin kleben und beim Aufstehen ein schmatzendes Geräusch hinterlassen.
Mitten in einer Erzählung haut die Meisterin der Kurzprosa in eigener Sache auf den Tisch. „Schon die erste Enttäuschung“, lässt sie Yoyce ausrufen, „Erzählungen, kein Roman.“ Erzählungen findet Yoyce, verringern das Gewicht eines Buches. Erzählungen sehen so aus, als fehle dem Autor der Mut, sich in der Literatur sicher niederzulassen, sagt Yoyce. Alice Munro hat, abgesehen von einer als Roman deklarierten, leider nicht ganz gelungenen, Autobiographie („Wozu wollen Sie das wissen“, 2006), immer „nur“ Erzählungen geschrieben.
Erzählungen, sagt Jonathan Franzen und bezieht sich dabei auf Tschechow, lassen dem Schriftsteller keinen Platz, sich zu verstecken. Verstecken ist alles, was Alice Munro verachtet. Erzählungen sind in Amerika und Kanada beliebt, bei uns werden sie eklatant unter Wert gehandelt. Leider. Jonathan Franzen bewundert Alice Munro. Er nennt sie „a marvel“, absolut die „beste Erzählerin Nordamerikas“. Lobsprüche kommen herrlich locker über seine Lippen. Auch deutsche Autoren verehren Alice Munro und studieren ihre Geschichten wie eine Landkarte zum Erreichen eines ferngelegenen Ziels.
Wir wissen wenig, sagen Alice Munros Figuren, am allerwenigsten über uns selbst und über die Menschen, die uns am allernächsten sind. Es ist das beste an ihren erbarmungslos klaren und raffiniert konzipierten Geschichten, dass uns dabei ein Licht aufgeht. Das ist es, was Alice Munro schafft: Erleuchtung. Bei einer solchen literarischen Leistung fällt es leicht, ihr zum 80. Geburtstag zu gratulieren, den sie an diesem Sonntag feiert, und Glück zu wünschen – ohne das „zu viel“.
VERENA AUFFERMANN
ALICE MUNRO: Zu viel Glück. Zehn Erzählungen. Aus dem Englischen von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 364 Seiten. 19,95 Euro.
Je erfahrener Alice Munro
geworden ist, desto ungemütlicher
werden ihre Erzählungen
In Ontario, dort, wo Alice Munro
lebt, warnen Straßenschilder
vor dem Jüngsten Tag
Am 10. Juli 1931 wurde die kanadische Schriftstellerin Alice Munro in Wingham, Ontario, geboren. Seit 1968 erforscht sie in ihren Erzählungen „die schmutzigen Seitenstraßen des Lebens“. Foto: Andrew Testa/eyevine/interTOPICS
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2011Eine verfeinerte Form von Kreuzigung
Morgen feiert sie ihren achtzigsten Geburtstag: Die auf Geschichten spezialisierte Kanadierin Alice Munro gilt als eine der größten Erzählerinnen unserer Zeit. Aber stimmt das eigentlich?
Von Markus Gasser
Gegen Ende ihres vierunddreißig Jahre kurzen Lebens, als die Tuberkulose in einer abbruchreifen, gefährlich zugigen Villa an der Riviera mit geduldiger Perfidie ihre Lungen zerfraß, wollte die neuseeländische Kurzgeschichtenautorin Katherine Mansfield einen Fächer aus schwarzer Spitze auf ihrem Nachttisch plaziert wissen, einen geladenen Revolver und ein Buch.
Unzählige Autoren der Gegenwart würden, in Mansfields Lage geraten, die Erzählungen von Alice Munro griffbereit halten: Glaubt man Margaret Atwood, A.S. Byatt, Richard Ford, Jonathan Franzen, Lorrie Moore bis Annie Proulx, dann muss sich jeder an Munro messen, der auch nur auf die Idee verfallen sollte, sich ans Erzählen zu machen, und würde sie heute jeden Preis entgegennehmen, den man ihr anträgt - lediglich der nobelste steht noch aus -, wäre sie das ganze Jahr über rund um die Erde unterwegs.
Munros Namen sprechen kennerschaftsbeflissene Leser hier ehrerbietig flüsternd, dort donnernd triumphal oft zum Schluss einer eben ausgestanden geglaubten Literaturdebatte aus: "Alice Munro! Das ist Kunst!" Besonders berufszerquälte Schriftsteller schwören auf sie, als hätte "Munro" die Wirkungsmacht eines Bannspruchs gegen die Harpyien der Schreibblockade. Wie denn auch anders? Nach der Vorgabe, es ließe sich jede Geschichte besser, knapper und überhaupt alles noch und noch einmal anders fassen, arbeitet Munro mit altbiblischer Strenge bis zu einem Jahr an nur einer Erzählung, die grundsätzlich nie die Fünfunddreißig-Seiten-Schwelle überschreitet. So wurde sie "unser Tschechow", die "universale Kanadierin", gar ein "kosmisches Wunder", nachahmenswert unnachahmlich.
Seltsam: Viel mehr als solch ein in alle Literaturhimmel emportragender Applaus fällt zu Munro niemandem ein. Superlative sind immer verdächtig, und jene, mit denen man sie seit jeher behängt hat wie einen Weihnachtsbaum, logen sich darüber hinweg, wie beschwert von den Moden der Zeit die Enge ihrer ersten rund vierzig Selbstfindungsfabeln war. Sah man genauer hin, schien man sich fast notgedrungen mit totgeredeten Formeln begnügen zu müssen, die nur wenige als Warnungen zu lesen verstanden, "Geschichten wie das Leben selbst", "von sparsamer Genauigkeit", "filigran", "lakonisch", "schonungslos" - und einmal ereilte sie, unvermeidlich, auch jene Lieblingssentenz der meisten Kritiker, Munro schildere - "eindringlich", versteht sich, "und präzise" - das Scheitern des amerikanischen Traums, obwohl keine ihrer short stories je in den Vereinigten Staaten angesiedelt war. Das fiel schon gar nicht mehr auf und war auch einerlei. Andernorts nämlich hatte sich längst Unheimliches ereignet.
Ein Jahr vor Munros Erzählbanddebüt "Tanz der seligen Geister" 1968 war mit "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez das Abenteuer in die Literaturgeschichte heimgekehrt, und die fing nunmehr mit einer derart wuchtigen Schöpfungsautorität von vorne an, als könnte ein Schriftsteller Fische allein durch Nennung ihres Namens aus dem Meer hervorholen, das bei Munro vorab erschöpft wirkte, mürrisch und grau und ewig auf Ebbe gestimmt. Übernächtig und sonnenscheu, verkrochen sich ihre Erzählungen in die Schattenseiten des Daseins, in die ratlose Verrätselungsmanie der Gattung Kurzgeschichte und den insgeheim allseits gefürchteten "offenen Schluss". Denn Munro misstraute der Literatur, für sie eine Nummernrevue billiger Tricks, von Grund auf - und vielleicht hatte sie tatsächlich, dachte sie oft, nur mit dem Schreiben begonnen, weil sie nach der Lektüre der "Sturmhöhe" entschlossen war, Schriftstellerin werden zu wollen. Doch kein noch so fahl flackerndes Fünkchen war von ihrer Teenagererleuchtung Emily Brontë geblieben: "Das Leben der Menschen", umriss sie damals verdrossen ihren Erzählhorizont, sei "flau, einfach, wunderlich und unergründlich" - als besagte das was und gälte für jeden, als käme man nicht von einer kaum verkraftbaren Bedeutungsfülle, von Homer, der Bibel, Shakespeare, Nabokov und Herman Melville umgeben zur Welt. Noch galt das Unvermögen, einen Plot zu ersinnen, als eine Kühnheit wie jenes Musikstück von John Cage, das sich in Stille erschöpfte und keines mehr war.
So handlungsarm überraschungslos und trübe, wusste Munro, ging es nicht weiter - es würde ja auch niemand russisches Roulette mit leerem Magazin allen Ernstes für ein Wagnis halten. Anfang der siebziger Jahre hatte sie ihre "Weltreise aus dem Eheheim" und der unentwegten Verstellung begonnen und aufgehört, sich bei Männern in Sicherheit zu bringen, um im parfümierten "Morast des Animalischen" zu versinken - so ihre ungewohnt drastische Wendung für den Zwang zu Heirat und Mutterschaft. Und seit dem leider noch immer unübersetzten "Tell Me Yes or No" 1974 traten plötzlich ein ums andere Mal Munros Wunderwerke ans Licht: von der ihr nun eigenen, überfallsartigen Dynamik getrieben, mit der im abrupten Zeitsprung eine nachgetragene Episode die Draperien des Gewöhnlichen zerreißt und sich zuletzt oft ins Gespenstische weitet. Sie fanden, versammelt in den Bänden "Das Bettlermädchen" und "Offene Geheimnisse", um die Jahrtausendwende in "The Bear Came Over the Mountain" ("Der Bär kletterte über den Berg") ihren Höhepunkt, der unbestreitbar schönsten Liebesgeschichte der Welt über jenes Paar, das auch die Alzheimerkrankheit nicht zu trennen vermag. Man könnte sich seine Freunde danach aussuchen: Wem am Ende dieser Erzählung die Tränen gekommen sind, während ein breites Lächeln sein Gesicht erhellt, der kann kein schlechter Mensch sein.
Alice Munro bewies damit den Lehrsatz des argentinischen Pointierungsexperten Jorge Luis Borges, was für ein Unsinn es doch sei, auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen mündliche Darlegung nur wenige Minuten in Anspruch nähme. In sich vollkommen, großherzig und nicht selten selbst einem Tschechow überlegen, geriet beinah jede Kurzgeschichte zu einem Roman noir im Kleinformat. Da mochte sie ihre Arbeit - acht Tage die Woche, oft nahe am Herzstillstand - bisweilen als eine verfeinerte Form von Kreuzigung empfinden: Ihre Leser überkam das Gefühl, das Universum sei an einem einzigen, mauritiusblau strahlenden Sonntag leicht- und wie nebenhin erschaffen worden nur zu dem Zweck, damit Alice Munro darin schreiben konnte. Aber es sollte noch verwegener kommen.
Ein prahlerisch verrückter Exhippie tötet seine Kinder, und seine Frau tröstet sich kraft seiner Wahnvorstellung, er hätte die drei wohlauf im Himmel gesehen, so weit darüber hinweg, dass sie bei einem Verkehrsunfall geistesgegenwärtig Leben retten und einen Sterbenden "an seine Pflicht zum Atmen" erinnern kann; eine Studentin rächt sich an ihrer Kommilitonin, die sie offenen Auges in den unterkellerten Betonbau eines sarkastischen Altpädophilen laufen lässt, wo sie ihm nackt - aber nicht befriedigend genug (ihre Brüste sind, unknabenhaft, zu groß) - Gedichte vorzulesen hat; zwei Mädchen ertränken ein drittes, von dem sich das eine der beiden erotisch verfolgt und angezogen fühlt zugleich - und prompt warf die Kritik Munros letztem und brillantestem Band "Too Much Happiness" 2009 die fahrlässige Nutzung von pulp fiction vor.
Gemeint waren damit jene haarsträubenden Reißer um sex and crime, wie sie im Boulevard und - leicht zu vergessen - in den größten Tragödien zu finden sind, und tatsächlich ging es bei Munro noch nie so scheinheilig gelassen im Anfang, so melodramatisch dann und fast heiter gewalttätig, selbstreflektiert durchtrieben und beklemmend abseitig zu wie in diesem Buch. Es türmt sich gleich einem Massiv für Extrembergsteiger für Literatur vor uns auf: "Zu viel Glück" ist von einer derart unnachgiebigen existentiellen Spannung und Komplexität, dass mehr als eine der zehn Erzählungen pro Tag zu lesen sich kaum verkraften lässt. Wie zum letzten Akt geht sie aufs Ganze: Munro ist, sagt sie, in ein Alter eingetreten, da sie auf dem Kreuzweg der eigenen Gebrechlichkeit stündlich mit dem Tod zu rechnen hat wie mit einem Fremden draußen vor der Fliegengittertür. Und so steht im Herzen des Bandes auch plötzlich ein nervöser Psychopath im Flur einer betagten Witwe, der gerade seine gesamte Familie erschossen hat.
"Ich habe das Gleiche getan wie Sie" - Nita erzählt dem Eindringling, sie hätte einst die Geliebte ihres verstorbenen Mannes Rich vergiftet. Dabei war in Wahrheit sie die Geliebte, die Rich einer anderen abspenstig machte und die sich nun - passionierte Leserin, die sie ist - in Richs betrogene erste Frau wie in eine Romanfigur hineinversetzt, um ihr krebsversehrtes Leben zu retten. Mit dieser Liebeserklärung an die Literatur und dem Entsetzen darüber, dass das Glück des einen oft aus dem Unglück des anderen erwächst, ist Alice Munro schon vorweg über ihre etwaigen Nachfolger hinaus. "Es wundert mich zuweilen", schreibt sie einmal, "wie alt ich bin." Uns auch.
Alice Munro: "Zu viel Glück". Zehn Erzählungen.
Aus dem Englischen von Heidi Zernig. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 365 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Morgen feiert sie ihren achtzigsten Geburtstag: Die auf Geschichten spezialisierte Kanadierin Alice Munro gilt als eine der größten Erzählerinnen unserer Zeit. Aber stimmt das eigentlich?
Von Markus Gasser
Gegen Ende ihres vierunddreißig Jahre kurzen Lebens, als die Tuberkulose in einer abbruchreifen, gefährlich zugigen Villa an der Riviera mit geduldiger Perfidie ihre Lungen zerfraß, wollte die neuseeländische Kurzgeschichtenautorin Katherine Mansfield einen Fächer aus schwarzer Spitze auf ihrem Nachttisch plaziert wissen, einen geladenen Revolver und ein Buch.
Unzählige Autoren der Gegenwart würden, in Mansfields Lage geraten, die Erzählungen von Alice Munro griffbereit halten: Glaubt man Margaret Atwood, A.S. Byatt, Richard Ford, Jonathan Franzen, Lorrie Moore bis Annie Proulx, dann muss sich jeder an Munro messen, der auch nur auf die Idee verfallen sollte, sich ans Erzählen zu machen, und würde sie heute jeden Preis entgegennehmen, den man ihr anträgt - lediglich der nobelste steht noch aus -, wäre sie das ganze Jahr über rund um die Erde unterwegs.
Munros Namen sprechen kennerschaftsbeflissene Leser hier ehrerbietig flüsternd, dort donnernd triumphal oft zum Schluss einer eben ausgestanden geglaubten Literaturdebatte aus: "Alice Munro! Das ist Kunst!" Besonders berufszerquälte Schriftsteller schwören auf sie, als hätte "Munro" die Wirkungsmacht eines Bannspruchs gegen die Harpyien der Schreibblockade. Wie denn auch anders? Nach der Vorgabe, es ließe sich jede Geschichte besser, knapper und überhaupt alles noch und noch einmal anders fassen, arbeitet Munro mit altbiblischer Strenge bis zu einem Jahr an nur einer Erzählung, die grundsätzlich nie die Fünfunddreißig-Seiten-Schwelle überschreitet. So wurde sie "unser Tschechow", die "universale Kanadierin", gar ein "kosmisches Wunder", nachahmenswert unnachahmlich.
Seltsam: Viel mehr als solch ein in alle Literaturhimmel emportragender Applaus fällt zu Munro niemandem ein. Superlative sind immer verdächtig, und jene, mit denen man sie seit jeher behängt hat wie einen Weihnachtsbaum, logen sich darüber hinweg, wie beschwert von den Moden der Zeit die Enge ihrer ersten rund vierzig Selbstfindungsfabeln war. Sah man genauer hin, schien man sich fast notgedrungen mit totgeredeten Formeln begnügen zu müssen, die nur wenige als Warnungen zu lesen verstanden, "Geschichten wie das Leben selbst", "von sparsamer Genauigkeit", "filigran", "lakonisch", "schonungslos" - und einmal ereilte sie, unvermeidlich, auch jene Lieblingssentenz der meisten Kritiker, Munro schildere - "eindringlich", versteht sich, "und präzise" - das Scheitern des amerikanischen Traums, obwohl keine ihrer short stories je in den Vereinigten Staaten angesiedelt war. Das fiel schon gar nicht mehr auf und war auch einerlei. Andernorts nämlich hatte sich längst Unheimliches ereignet.
Ein Jahr vor Munros Erzählbanddebüt "Tanz der seligen Geister" 1968 war mit "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez das Abenteuer in die Literaturgeschichte heimgekehrt, und die fing nunmehr mit einer derart wuchtigen Schöpfungsautorität von vorne an, als könnte ein Schriftsteller Fische allein durch Nennung ihres Namens aus dem Meer hervorholen, das bei Munro vorab erschöpft wirkte, mürrisch und grau und ewig auf Ebbe gestimmt. Übernächtig und sonnenscheu, verkrochen sich ihre Erzählungen in die Schattenseiten des Daseins, in die ratlose Verrätselungsmanie der Gattung Kurzgeschichte und den insgeheim allseits gefürchteten "offenen Schluss". Denn Munro misstraute der Literatur, für sie eine Nummernrevue billiger Tricks, von Grund auf - und vielleicht hatte sie tatsächlich, dachte sie oft, nur mit dem Schreiben begonnen, weil sie nach der Lektüre der "Sturmhöhe" entschlossen war, Schriftstellerin werden zu wollen. Doch kein noch so fahl flackerndes Fünkchen war von ihrer Teenagererleuchtung Emily Brontë geblieben: "Das Leben der Menschen", umriss sie damals verdrossen ihren Erzählhorizont, sei "flau, einfach, wunderlich und unergründlich" - als besagte das was und gälte für jeden, als käme man nicht von einer kaum verkraftbaren Bedeutungsfülle, von Homer, der Bibel, Shakespeare, Nabokov und Herman Melville umgeben zur Welt. Noch galt das Unvermögen, einen Plot zu ersinnen, als eine Kühnheit wie jenes Musikstück von John Cage, das sich in Stille erschöpfte und keines mehr war.
So handlungsarm überraschungslos und trübe, wusste Munro, ging es nicht weiter - es würde ja auch niemand russisches Roulette mit leerem Magazin allen Ernstes für ein Wagnis halten. Anfang der siebziger Jahre hatte sie ihre "Weltreise aus dem Eheheim" und der unentwegten Verstellung begonnen und aufgehört, sich bei Männern in Sicherheit zu bringen, um im parfümierten "Morast des Animalischen" zu versinken - so ihre ungewohnt drastische Wendung für den Zwang zu Heirat und Mutterschaft. Und seit dem leider noch immer unübersetzten "Tell Me Yes or No" 1974 traten plötzlich ein ums andere Mal Munros Wunderwerke ans Licht: von der ihr nun eigenen, überfallsartigen Dynamik getrieben, mit der im abrupten Zeitsprung eine nachgetragene Episode die Draperien des Gewöhnlichen zerreißt und sich zuletzt oft ins Gespenstische weitet. Sie fanden, versammelt in den Bänden "Das Bettlermädchen" und "Offene Geheimnisse", um die Jahrtausendwende in "The Bear Came Over the Mountain" ("Der Bär kletterte über den Berg") ihren Höhepunkt, der unbestreitbar schönsten Liebesgeschichte der Welt über jenes Paar, das auch die Alzheimerkrankheit nicht zu trennen vermag. Man könnte sich seine Freunde danach aussuchen: Wem am Ende dieser Erzählung die Tränen gekommen sind, während ein breites Lächeln sein Gesicht erhellt, der kann kein schlechter Mensch sein.
Alice Munro bewies damit den Lehrsatz des argentinischen Pointierungsexperten Jorge Luis Borges, was für ein Unsinn es doch sei, auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen mündliche Darlegung nur wenige Minuten in Anspruch nähme. In sich vollkommen, großherzig und nicht selten selbst einem Tschechow überlegen, geriet beinah jede Kurzgeschichte zu einem Roman noir im Kleinformat. Da mochte sie ihre Arbeit - acht Tage die Woche, oft nahe am Herzstillstand - bisweilen als eine verfeinerte Form von Kreuzigung empfinden: Ihre Leser überkam das Gefühl, das Universum sei an einem einzigen, mauritiusblau strahlenden Sonntag leicht- und wie nebenhin erschaffen worden nur zu dem Zweck, damit Alice Munro darin schreiben konnte. Aber es sollte noch verwegener kommen.
Ein prahlerisch verrückter Exhippie tötet seine Kinder, und seine Frau tröstet sich kraft seiner Wahnvorstellung, er hätte die drei wohlauf im Himmel gesehen, so weit darüber hinweg, dass sie bei einem Verkehrsunfall geistesgegenwärtig Leben retten und einen Sterbenden "an seine Pflicht zum Atmen" erinnern kann; eine Studentin rächt sich an ihrer Kommilitonin, die sie offenen Auges in den unterkellerten Betonbau eines sarkastischen Altpädophilen laufen lässt, wo sie ihm nackt - aber nicht befriedigend genug (ihre Brüste sind, unknabenhaft, zu groß) - Gedichte vorzulesen hat; zwei Mädchen ertränken ein drittes, von dem sich das eine der beiden erotisch verfolgt und angezogen fühlt zugleich - und prompt warf die Kritik Munros letztem und brillantestem Band "Too Much Happiness" 2009 die fahrlässige Nutzung von pulp fiction vor.
Gemeint waren damit jene haarsträubenden Reißer um sex and crime, wie sie im Boulevard und - leicht zu vergessen - in den größten Tragödien zu finden sind, und tatsächlich ging es bei Munro noch nie so scheinheilig gelassen im Anfang, so melodramatisch dann und fast heiter gewalttätig, selbstreflektiert durchtrieben und beklemmend abseitig zu wie in diesem Buch. Es türmt sich gleich einem Massiv für Extrembergsteiger für Literatur vor uns auf: "Zu viel Glück" ist von einer derart unnachgiebigen existentiellen Spannung und Komplexität, dass mehr als eine der zehn Erzählungen pro Tag zu lesen sich kaum verkraften lässt. Wie zum letzten Akt geht sie aufs Ganze: Munro ist, sagt sie, in ein Alter eingetreten, da sie auf dem Kreuzweg der eigenen Gebrechlichkeit stündlich mit dem Tod zu rechnen hat wie mit einem Fremden draußen vor der Fliegengittertür. Und so steht im Herzen des Bandes auch plötzlich ein nervöser Psychopath im Flur einer betagten Witwe, der gerade seine gesamte Familie erschossen hat.
"Ich habe das Gleiche getan wie Sie" - Nita erzählt dem Eindringling, sie hätte einst die Geliebte ihres verstorbenen Mannes Rich vergiftet. Dabei war in Wahrheit sie die Geliebte, die Rich einer anderen abspenstig machte und die sich nun - passionierte Leserin, die sie ist - in Richs betrogene erste Frau wie in eine Romanfigur hineinversetzt, um ihr krebsversehrtes Leben zu retten. Mit dieser Liebeserklärung an die Literatur und dem Entsetzen darüber, dass das Glück des einen oft aus dem Unglück des anderen erwächst, ist Alice Munro schon vorweg über ihre etwaigen Nachfolger hinaus. "Es wundert mich zuweilen", schreibt sie einmal, "wie alt ich bin." Uns auch.
Alice Munro: "Zu viel Glück". Zehn Erzählungen.
Aus dem Englischen von Heidi Zernig. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 365 S., geb., 19,95 [Euro].
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She writes with a beautiful clarity, an elemental humanity and a marvellous, limpid, funny, apprehension of what goes on Jane Shilling Sunday Telegraph