»Er brauchte gar keine Poesie zu schreiben, um der größte Poet meiner Generation zu werden.« Roberto Bolaño
Im Frühjahr 86 stehen die Zeichen auf Sturm, Augusto Pinochets Macht bröckelt: Proteste, brennende Reifen in den Straßen Santiagos, Stromausfälle, Revolutionsaufrufe im Radio. Nur die weltvergessene Heldin dieser Geschichte, nicht mehr jung, nicht mehr Mann, hat bloß Augen für Carlos, den bildhübschen Studenten, der trotz ihrer Stoppeln im Gesicht, ihrer Armut, ihrer grellen Art immer näherkommt. Sie stürzt sich vollends in die Hoffnung, singt Liebeslieder, lacht und phantasiert, doch vergebens. Denn wer hat die Macht, wer bestimmt die Grenzen, zwischen oben und unten, zwischen Mann und Frau? Sie ganz sicher nicht. Und so bleibt ihr allein der Widerstand, auf der Zunge und im Herzen.
In farbiger, kräftiger, brillanter Sprache erzählt Pedro Lemebel eine Geschichte von politischer Militanz und sexueller Dissidenz. Torero, ich hab Angst ist bedeutende queere Weltliteratur. Ein bissiges Werk der Befreiung von Repression und Unfreiheit.
Im Frühjahr 86 stehen die Zeichen auf Sturm, Augusto Pinochets Macht bröckelt: Proteste, brennende Reifen in den Straßen Santiagos, Stromausfälle, Revolutionsaufrufe im Radio. Nur die weltvergessene Heldin dieser Geschichte, nicht mehr jung, nicht mehr Mann, hat bloß Augen für Carlos, den bildhübschen Studenten, der trotz ihrer Stoppeln im Gesicht, ihrer Armut, ihrer grellen Art immer näherkommt. Sie stürzt sich vollends in die Hoffnung, singt Liebeslieder, lacht und phantasiert, doch vergebens. Denn wer hat die Macht, wer bestimmt die Grenzen, zwischen oben und unten, zwischen Mann und Frau? Sie ganz sicher nicht. Und so bleibt ihr allein der Widerstand, auf der Zunge und im Herzen.
In farbiger, kräftiger, brillanter Sprache erzählt Pedro Lemebel eine Geschichte von politischer Militanz und sexueller Dissidenz. Torero, ich hab Angst ist bedeutende queere Weltliteratur. Ein bissiges Werk der Befreiung von Repression und Unfreiheit.
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Großartig, dass Pedro Lemebels ursprünglich im Jahr 2001 erschienener Roman nun auch auf Deutsch verfügbar ist, freut sich Rezensent Hernán D. Caro. Das Buch erzählt, lernen wir, eine Liebesgeschichte, die in eine Verbindung gerückt wird mit dem Attentat linker Aktivisten auf den chilenischen Diktator Augusto Pinochet im Jahr 1986. Die Hauptfigur ist allerdings kein Aktivist, erläutert Caro, sondern ein alternder Schwuler, der nur die "Tunte" genannt wird und sich in einen jungen Mann verliebt, der sich als Student vorstellt, tatsächlich aber das Pinochet-Attentat vorbereitet. Die Tunte will von all dem nichts wissen, fährt die Rekonstruktion fort, aber sie politisiert sich doch langsam im Laufe des Romans. Begeistert ist der Rezensent von der vielseitigen Prosa Lemebels, die oft verschiedene Register, wie etwa inneren Monolog, Spannungsdramaturgie und Pornografisches, parallel führt. Trotz aller politischer Brisanz ist auch die Liebesgeschichte eindringlich ausgearbeitet, freut sich Caro, und gleichzeitig reflektiert sie ihre eigene Unmöglichkeit. Der Autor spiegelt sich laut Rezensent selbst in der Tunte, die eine der eindrucksvollsten Figuren der jüngeren Literatur Lateinamerikas ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2023Die Stuten der Apokalypse
Eine Liebesgeschichte in Zeiten der Pinochet-Diktatur: Pedro Lemebels Roman "Torero, ich hab Angst" ist ein Klassiker der queeren Literatur.
Von Hernán D. Caro
Jene Nacht im September 1986 war drückend, ein wimmelndes Erdloch voll jaulender Kojoten, eine Stadt, gereizt durch unzählige Hausdurchsuchungen, knallende Türen, Schreie und Schießereien in den Kleineleutevierteln. Die Armee eroberte Santiago, sperrte alle Ausfallstraßen . . . Beim kleinsten Fehler, beim einfachsten Zaudern wurde man verdächtig und mit dem Gewehrkolben in einen Lastwagen gestoßen."
Diese Zeilen stammen aus dem Roman "Torero, ich hab Angst" des chilenischen Autors Pedro Lemebel, der gerade auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist. Was Lemebel dort beschreibt, ist die bedrohliche Nacht, die auf einen Anschlag folgte, den die linke Stadtguerilla "Frente Patriótico Manuel Rodríguez" am 7. September 1986 auf die Wagenkolonne des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet verübte. Das Attentat endete mit fünf toten Leibwächtern des Diktators. Pinochet selbst blieb unverletzt.
Der Mordversuch löste eine blutige Repressionswelle aus. Und die Militärdiktatur - die vor genau fünfzig Jahren, im September 1973, mit einem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende begann und in deren Folge mehr als tausend Personen verschwanden, zweimal so viele ermordet wurden und weitere 30.000 unter Verfolgung und Folter litten - dauerte noch weitere vier Jahre.
Vor diesem historischen Hintergrund, den Monaten vor dem Attentat in einem angespannten Alltag unter der Diktatur, entschied sich Pedro Lemebel - der nicht nur Schriftsteller, sondern auch einer der einflussreichsten homosexuellen Performancekünstler Lateinamerikas war -, ausgerechnet eine Liebesgeschichte zu erzählen. "Torero, ich hab Angst", ursprünglich 2001 auf Spanisch veröffentlicht, gilt als einer der originellsten Romane über Pinochets Diktatur. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die "Loca del Frente", die "Tunte von Gegenüber" - oder, wie es in der deutschen Übersetzung auch heißt, die "Tunte der Front" -, ein alternder schwuler Mann, der in einer kitschig und liebevoll eingerichteten Wohnung in einem Armenviertel von Santiago lebt. Seinen echten Namen erfahren wir nie; er heißt stets nur "die Tunte". Und von seiner traumatischen Kindheit und seiner Vergangenheit als Prostituierter erfahren wir nur durch flüchtige, schmerzhafte Andeutungen.
Eines Tages trifft "die Tunte" auf einen jungen Mann namens Carlos, der behauptet, er studiere Architektur, und fragt, ob er in ihrer Wohnung einige Kisten mit Büchern verstauen könne. Die Protagonistin willigt ein. Sie ist von dem Studenten fasziniert: "Carlos war so gut, so sanft, so liebenswürdig", denkt sie. "Und sie war so verliebt, so gefesselt, so verträumt, wenn sie ganze Nächte mit ihm verplauderte."
An manchen Abenden bringt Carlos bei seinen Besuchen andere Freunde mit. Eingeschlossen in einem Zimmer, das "die Tunte" nicht betreten darf, diskutieren sie stundenlang über irgendwelche Dinge, die laut Carlos - der der Hausherrin oft bei Tee und Zigaretten Gesellschaft leistet - bloß mit ihrem Studium zu tun haben.
Carlos' mysteriöse Kisten werden immer zahlreicher. In ihnen - das wird den Lesern schnell klar - sind bestimmt keine Bücher, sondern womöglich Waffen. Und vermutlich gehören Carlos und seine Freunde zur "Front", die den Anschlag gegen Pinochet vorbereitet. Natürlich hat auch die "Tunte" diesen Verdacht. Doch sie sagt, fragt nichts: "Nein, das würde Carlos niemals tun, er würde sie nicht belügen", heißt es. "Und wenn doch, dann wollte sie es lieber nicht wissen, wollte lieber die Dumme spielen, die dümmste aller Tunten, die bescheuertste".
Pedro Lemebel wurde 1952 in Santiago de Chile als Sohn eines Bäckers geboren und starb dort im Jahr 2015. Seine ersten Jahre waren von Mangel geprägt. Im Laufe seines Lebens wurde er aufgrund der Intensität, Originalität und scharfsinnigen Unverschämtheit seiner Arbeit als linker, queerer Performer und Aktivist prominent. Bereits zu Zeiten der Diktatur war Lemebel in Chile bekannt, als er 1987 mit dem Dichter und Künstler Francisco Casas das Duo "Las Yeguas del Apocalipsis" - "Die Stuten der Apokalypse" - gründete.
Das künstlerische Kollektiv zeichnete sich dadurch aus, dass es kulturelle Veranstaltungen mit klugen und provokanten, wütenden und nicht selten witzigen Performances sabotierte. Lemebel verstand sich immer als Kommunist. Doch auch die chilenische kommunistische Partei, traditionell schwulenfeindlich, wurde von den "Yeguas" attackiert.
In den Jahren nach der Diktatur arbeitete Lemebel vermehrt als Autor, zunächst von kurzen Reportagen, sogenannten "crónicas". Diese widmeten sich dem Leben marginaler Personen oder, wie Lemebel es sarkastisch formulierte, jenen "überflüssigen Menschen, die dem siegreichen Chile des Wunders das heuchlerische Grinsen aus dem Gesicht wischen". Damit meinte er das Chile des radikalen Neoliberalismus, dem Pinochet die Türen des Landes weit öffnete und der zu einer bis heute enormen sozialen Ungleichheit im Land führte.
Mit "Torero, ich hab Angst" - seinem einzigen Roman, der mit den Jahren zu einem Klassiker der queeren Literatur geworden ist - etablierte sich Lemebel als bedeutender Schriftsteller. 2013 erhielt er den Premio José Donoso, den wichtigsten Literaturpreis Chiles. Jahre zuvor hatte ihn der berühmte chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño "den größten Dichter meiner Generation" genannt - "auch wenn er keine Gedichte schreibt".
Und tatsächlich ist "Torero, ich hab Angst" ein einzigartiger Roman. Das Buch - das Matthias Strobel ausgezeichnet ins Deutsche übersetzt hat - ist in gewisser Hinsicht wie seine Protagonistin: melodramatisch, theatralisch, extravagant. Es spielt mit allen Registern. Und es ist auch manchmal vulgär, etwa wenn Lemebel mit sehr direkten Worten die sexuellen Phantasien der "Tunte" oder ihren Besuch eines Pornofilms beschreibt.
Diese Sequenz, die parallel zum Anschlag auf Pinochet verläuft, hat Lemebel als spannende Montage von schwuler Sexliteratur, Politthriller und einer Art Bewusstseinsstrom (aus Pinochets Perspektive) großartig angelegt. Denn neben der Geschichte der "Tunte", nähert sich Lemebel im Roman auch dem Privatleben des Diktators an, indem er versucht, sich Pinochets Gedanken und die Monologe seiner Ehefrau vorzustellen. Das wirkt an manchen Stellen zwar etwas gewollt, bleibt trotzdem als literarische Strategie spannend - und ist auch wunderbar bösartig.
Bei aller Frechheit und Übertreibung sind die Sprache und die Handlung des Romans jedoch zugleich zärtlich und rührend wie die Liebesgeschichte zwischen der Protagonistin und Carlos. "Sie wollte weinen, wie so oft, wenn dieses Hundeleben ihr den Spiegel der Enttäuschung vors Gesicht hielt", lesen wir an einem emotionalen Tiefpunkt. "Sie wollte aus tiefstem Herzen weinen, um sich ein für alle Mal den glühenden Stachel dieser Schwärmerei zu ziehen, aber ihr mondsüchtiger Hundeblick vermochte das erlöschende Schimmern nicht zu erwidern, das sich im letzten Blinzeln des Abends verlor."
Was die Liebe selbst angeht: Sie ist, wie "die Tunte" von Anfang an weiß, unmöglich. Und doch entsteht zwischen ihr und Carlos etwas, das für beide vielleicht entscheidender ist, als es die heiße Affäre wäre, von der "die Tunte" träumt. Nach und nach finden zwei verlorene, verzweifelte Seelen in der Düsternis der Diktatur zueinander.
Dabei wird die "Tunte" willentlich zur Komplizin. Und insofern ist "Torero, ich hab Angst" auch ein Entwicklungsroman. Zu Beginn des Buches ist Pinochets Diktatur der Protagonistin gleichgültig. "Um Politik scherte sie sich kaum", steht auf den ersten Seiten. "Sie bekam eher einen Schreck, wenn sie diesen Radiosender hörte, der immer nur schlechte Nachrichten brachte." Deshalb hört sie die "nostalgischen Sendungen", die alte Liebeslieder bringen - wie jenes der spanisch-mexikanischen Schauspielerin und Sängerin Sara Montiel, das dem Buch seinen Titel gibt.
Durch ihre Gespräche mit Carlos und die eigene Begegnung mit der Brutalität von Polizisten und Soldaten verändert sich aber etwas bei der "Tunte". Am Ende identifiziert sie sich mit den Toten und Verschwundenen. Ein politisches Bewusstsein ist entstanden.
Pedro Lemebel, den ein Freund nach seinem Tod als einen "gebrochenen, hilflosen" Menschen beschrieb, nannte sich selbst immer wieder einen "marica pobre y viejo", eine "arme und alte Schwuchtel". Und so schreibt er auch über die Protagonistin seines Romans - sie ist ja sein Alter Ego -, sie sei eine hässliche, "lächerliche alte Tunte", die nach Liebe hungere.
Aber "die Tunte" ist überhaupt nicht lächerlich. Sicher, in der Welt von "Torero, ich hab Angst", die keine andere ist als die damalige reale, barbarische Welt von Pinochets Diktatur, kann sie nur eine tragische Figur sein. Doch sie setzt sich, so gut sie kann, zur Wehr. Angesichts der allgemeinen Rohheit und Angst, die sie umgeben, ist sie unglaublich resilient, mutig und loyal. Bis zuletzt behält sie ihre Wärme und ihre unerschütterliche Würde. Pedro Lemebels skurrile, "dumme Tunte" ist eine der stärksten Figuren der spanischsprachigen Literatur der letzten Jahre.
Pedro Lemebel: "Torero, ich hab Angst". Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Suhrkamp, 216 Seiten, 23 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Liebesgeschichte in Zeiten der Pinochet-Diktatur: Pedro Lemebels Roman "Torero, ich hab Angst" ist ein Klassiker der queeren Literatur.
Von Hernán D. Caro
Jene Nacht im September 1986 war drückend, ein wimmelndes Erdloch voll jaulender Kojoten, eine Stadt, gereizt durch unzählige Hausdurchsuchungen, knallende Türen, Schreie und Schießereien in den Kleineleutevierteln. Die Armee eroberte Santiago, sperrte alle Ausfallstraßen . . . Beim kleinsten Fehler, beim einfachsten Zaudern wurde man verdächtig und mit dem Gewehrkolben in einen Lastwagen gestoßen."
Diese Zeilen stammen aus dem Roman "Torero, ich hab Angst" des chilenischen Autors Pedro Lemebel, der gerade auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist. Was Lemebel dort beschreibt, ist die bedrohliche Nacht, die auf einen Anschlag folgte, den die linke Stadtguerilla "Frente Patriótico Manuel Rodríguez" am 7. September 1986 auf die Wagenkolonne des ehemaligen chilenischen Diktators Augusto Pinochet verübte. Das Attentat endete mit fünf toten Leibwächtern des Diktators. Pinochet selbst blieb unverletzt.
Der Mordversuch löste eine blutige Repressionswelle aus. Und die Militärdiktatur - die vor genau fünfzig Jahren, im September 1973, mit einem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende begann und in deren Folge mehr als tausend Personen verschwanden, zweimal so viele ermordet wurden und weitere 30.000 unter Verfolgung und Folter litten - dauerte noch weitere vier Jahre.
Vor diesem historischen Hintergrund, den Monaten vor dem Attentat in einem angespannten Alltag unter der Diktatur, entschied sich Pedro Lemebel - der nicht nur Schriftsteller, sondern auch einer der einflussreichsten homosexuellen Performancekünstler Lateinamerikas war -, ausgerechnet eine Liebesgeschichte zu erzählen. "Torero, ich hab Angst", ursprünglich 2001 auf Spanisch veröffentlicht, gilt als einer der originellsten Romane über Pinochets Diktatur. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die "Loca del Frente", die "Tunte von Gegenüber" - oder, wie es in der deutschen Übersetzung auch heißt, die "Tunte der Front" -, ein alternder schwuler Mann, der in einer kitschig und liebevoll eingerichteten Wohnung in einem Armenviertel von Santiago lebt. Seinen echten Namen erfahren wir nie; er heißt stets nur "die Tunte". Und von seiner traumatischen Kindheit und seiner Vergangenheit als Prostituierter erfahren wir nur durch flüchtige, schmerzhafte Andeutungen.
Eines Tages trifft "die Tunte" auf einen jungen Mann namens Carlos, der behauptet, er studiere Architektur, und fragt, ob er in ihrer Wohnung einige Kisten mit Büchern verstauen könne. Die Protagonistin willigt ein. Sie ist von dem Studenten fasziniert: "Carlos war so gut, so sanft, so liebenswürdig", denkt sie. "Und sie war so verliebt, so gefesselt, so verträumt, wenn sie ganze Nächte mit ihm verplauderte."
An manchen Abenden bringt Carlos bei seinen Besuchen andere Freunde mit. Eingeschlossen in einem Zimmer, das "die Tunte" nicht betreten darf, diskutieren sie stundenlang über irgendwelche Dinge, die laut Carlos - der der Hausherrin oft bei Tee und Zigaretten Gesellschaft leistet - bloß mit ihrem Studium zu tun haben.
Carlos' mysteriöse Kisten werden immer zahlreicher. In ihnen - das wird den Lesern schnell klar - sind bestimmt keine Bücher, sondern womöglich Waffen. Und vermutlich gehören Carlos und seine Freunde zur "Front", die den Anschlag gegen Pinochet vorbereitet. Natürlich hat auch die "Tunte" diesen Verdacht. Doch sie sagt, fragt nichts: "Nein, das würde Carlos niemals tun, er würde sie nicht belügen", heißt es. "Und wenn doch, dann wollte sie es lieber nicht wissen, wollte lieber die Dumme spielen, die dümmste aller Tunten, die bescheuertste".
Pedro Lemebel wurde 1952 in Santiago de Chile als Sohn eines Bäckers geboren und starb dort im Jahr 2015. Seine ersten Jahre waren von Mangel geprägt. Im Laufe seines Lebens wurde er aufgrund der Intensität, Originalität und scharfsinnigen Unverschämtheit seiner Arbeit als linker, queerer Performer und Aktivist prominent. Bereits zu Zeiten der Diktatur war Lemebel in Chile bekannt, als er 1987 mit dem Dichter und Künstler Francisco Casas das Duo "Las Yeguas del Apocalipsis" - "Die Stuten der Apokalypse" - gründete.
Das künstlerische Kollektiv zeichnete sich dadurch aus, dass es kulturelle Veranstaltungen mit klugen und provokanten, wütenden und nicht selten witzigen Performances sabotierte. Lemebel verstand sich immer als Kommunist. Doch auch die chilenische kommunistische Partei, traditionell schwulenfeindlich, wurde von den "Yeguas" attackiert.
In den Jahren nach der Diktatur arbeitete Lemebel vermehrt als Autor, zunächst von kurzen Reportagen, sogenannten "crónicas". Diese widmeten sich dem Leben marginaler Personen oder, wie Lemebel es sarkastisch formulierte, jenen "überflüssigen Menschen, die dem siegreichen Chile des Wunders das heuchlerische Grinsen aus dem Gesicht wischen". Damit meinte er das Chile des radikalen Neoliberalismus, dem Pinochet die Türen des Landes weit öffnete und der zu einer bis heute enormen sozialen Ungleichheit im Land führte.
Mit "Torero, ich hab Angst" - seinem einzigen Roman, der mit den Jahren zu einem Klassiker der queeren Literatur geworden ist - etablierte sich Lemebel als bedeutender Schriftsteller. 2013 erhielt er den Premio José Donoso, den wichtigsten Literaturpreis Chiles. Jahre zuvor hatte ihn der berühmte chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño "den größten Dichter meiner Generation" genannt - "auch wenn er keine Gedichte schreibt".
Und tatsächlich ist "Torero, ich hab Angst" ein einzigartiger Roman. Das Buch - das Matthias Strobel ausgezeichnet ins Deutsche übersetzt hat - ist in gewisser Hinsicht wie seine Protagonistin: melodramatisch, theatralisch, extravagant. Es spielt mit allen Registern. Und es ist auch manchmal vulgär, etwa wenn Lemebel mit sehr direkten Worten die sexuellen Phantasien der "Tunte" oder ihren Besuch eines Pornofilms beschreibt.
Diese Sequenz, die parallel zum Anschlag auf Pinochet verläuft, hat Lemebel als spannende Montage von schwuler Sexliteratur, Politthriller und einer Art Bewusstseinsstrom (aus Pinochets Perspektive) großartig angelegt. Denn neben der Geschichte der "Tunte", nähert sich Lemebel im Roman auch dem Privatleben des Diktators an, indem er versucht, sich Pinochets Gedanken und die Monologe seiner Ehefrau vorzustellen. Das wirkt an manchen Stellen zwar etwas gewollt, bleibt trotzdem als literarische Strategie spannend - und ist auch wunderbar bösartig.
Bei aller Frechheit und Übertreibung sind die Sprache und die Handlung des Romans jedoch zugleich zärtlich und rührend wie die Liebesgeschichte zwischen der Protagonistin und Carlos. "Sie wollte weinen, wie so oft, wenn dieses Hundeleben ihr den Spiegel der Enttäuschung vors Gesicht hielt", lesen wir an einem emotionalen Tiefpunkt. "Sie wollte aus tiefstem Herzen weinen, um sich ein für alle Mal den glühenden Stachel dieser Schwärmerei zu ziehen, aber ihr mondsüchtiger Hundeblick vermochte das erlöschende Schimmern nicht zu erwidern, das sich im letzten Blinzeln des Abends verlor."
Was die Liebe selbst angeht: Sie ist, wie "die Tunte" von Anfang an weiß, unmöglich. Und doch entsteht zwischen ihr und Carlos etwas, das für beide vielleicht entscheidender ist, als es die heiße Affäre wäre, von der "die Tunte" träumt. Nach und nach finden zwei verlorene, verzweifelte Seelen in der Düsternis der Diktatur zueinander.
Dabei wird die "Tunte" willentlich zur Komplizin. Und insofern ist "Torero, ich hab Angst" auch ein Entwicklungsroman. Zu Beginn des Buches ist Pinochets Diktatur der Protagonistin gleichgültig. "Um Politik scherte sie sich kaum", steht auf den ersten Seiten. "Sie bekam eher einen Schreck, wenn sie diesen Radiosender hörte, der immer nur schlechte Nachrichten brachte." Deshalb hört sie die "nostalgischen Sendungen", die alte Liebeslieder bringen - wie jenes der spanisch-mexikanischen Schauspielerin und Sängerin Sara Montiel, das dem Buch seinen Titel gibt.
Durch ihre Gespräche mit Carlos und die eigene Begegnung mit der Brutalität von Polizisten und Soldaten verändert sich aber etwas bei der "Tunte". Am Ende identifiziert sie sich mit den Toten und Verschwundenen. Ein politisches Bewusstsein ist entstanden.
Pedro Lemebel, den ein Freund nach seinem Tod als einen "gebrochenen, hilflosen" Menschen beschrieb, nannte sich selbst immer wieder einen "marica pobre y viejo", eine "arme und alte Schwuchtel". Und so schreibt er auch über die Protagonistin seines Romans - sie ist ja sein Alter Ego -, sie sei eine hässliche, "lächerliche alte Tunte", die nach Liebe hungere.
Aber "die Tunte" ist überhaupt nicht lächerlich. Sicher, in der Welt von "Torero, ich hab Angst", die keine andere ist als die damalige reale, barbarische Welt von Pinochets Diktatur, kann sie nur eine tragische Figur sein. Doch sie setzt sich, so gut sie kann, zur Wehr. Angesichts der allgemeinen Rohheit und Angst, die sie umgeben, ist sie unglaublich resilient, mutig und loyal. Bis zuletzt behält sie ihre Wärme und ihre unerschütterliche Würde. Pedro Lemebels skurrile, "dumme Tunte" ist eine der stärksten Figuren der spanischsprachigen Literatur der letzten Jahre.
Pedro Lemebel: "Torero, ich hab Angst". Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Suhrkamp, 216 Seiten, 23 Euro.
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»Ein Klassiker der queeren Literatur, neu aufgelegt.« Richard Kämmerlings WELT AM SONNTAG 20231203