Fast die Hälfte der Bevölkerung bezweifelt, dass die Medien über kontroverse Themen objektiv und sachgerecht berichten. Nach ihrer Meinung schweigen sie unangenehme Fakten und unwillkommene Meinungen tot und skandalisieren Personen, Organisationen und Techniken maßlos. Wie sehen das Journalisten selbst? Auskunft darüber gibt eine repräsentative Befragung von Journalisten bei deutschen Tageszeitungen zu acht konkreten Fällen.Die Ergebnisse zeigen: Die meisten Journalisten lehnen fragwürdiges Verschweigen von Informationen und Skandalisierungen generell ab. Eine kleine Minderheit akzeptiert dagegen generell fragwürdige Praktiken, rechtfertigt sie und verteidigt sie gegen Einwände. Diese Journalisten nehmen für sich die Deutungshoheit über das Geschehen in Anspruch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2017Gesagt oder gemeint?
Hans Mathias Kepplinger über journalistische Fehler
Die gute Nachricht: Die überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen genießen unter Fachleuten einen guten Ruf. Bei der Wahl der zehn besten Zeitungen der Welt haben sie regelmäßig Aussichten auf einen der vorderen Plätze. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung wurde von 2009 bis 2016 sogar fünfmal als "International Newspaper of the Year" ausgezeichnet. Hinzu kommt in Deutschland eine ungewohnt differenzierte Lokalberichterstattung. Die schlechte Nachricht: Trotzdem bezweifelt ein Teil der Bevölkerung, dass die Medien über Streitthemen angemessen berichten. Deshalb ist das seit dem neunzehnten Jahrhundert vagabundierende Schlagwort von der "Lügenpresse" nicht totzukriegen. Im Januar 2015 wurde es, wenn auch kritisch, zum "Unwort des Jahres" erkoren.
Hans Mathias Kepplinger, bis vor kurzem neben Jürgen Wilke einer der beiden Nachfolger von Elisabeth Noelle-Neumann am Institut für Publizistik der Universität Mainz, beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit dem Selbstverständnis und den Arbeitsweisen von Journalisten. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf das bewusste Herunter- und Hochspielen von Informationen: auf das Totschweigen und Skandalisieren, wie es jetzt provokativ im Titel seines Opus Summum über fragwürdige journalistische Praktiken heißt. Was die Kritisierten selbst dazu sagen, hat der Mainzer Professor für Empirische Kommunikationsforschung mit einer repräsentativen Befragung von Journalisten zu acht aufsehenerregenden Fällen ermittelt.
Die Antworten bezeugen, dass der Untertitel des Buchs besser "Was Journalisten über ihre eigene Arbeit denken" hätte lauten sollen. Stattdessen verkündet er, was sie über ihre eigenen Fehler denken. Es ist halt nicht leicht, neutral zu formulieren, wenn man ein Anliegen hat und die Aufmerksamkeit darauf lenken will.
Immerhin hebt der streitbare Wissenschaftler hervor, dass sich deutsche Journalisten wie ihre Kollegen in vergleichbaren Ländern einhellig zum Leitmotiv der "New York Times" bekennen: "All the news that's fit to print" - alle Nachrichten, die es wert sind, gedruckt zu werden. Kepplingers Forschungsinteresse gilt jener Minderheit, die von diesem Ideal abweicht, obwohl sie es grundsätzlich anerkennt. Das Hauptmotiv für Grenzüberschreitungen ist, dass leidenschaftlich engagierte Journalisten ihre Berichterstattung auf tatsächliche oder vermeintliche Missstände konzentrieren. Oder dass sie vor drohenden Folgen warnen wollen. Dabei übertreiben sie die Gefahren und lassen weg, was für Entwarnung spricht.
Kepplingers frappierendstes Beispiel dafür ist die Risikoanalyse der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Die deutschen Medien nahmen den speziell japanischen Störfall zum Beweis für die generellen Gefahren der Kernenergie, obwohl die Untersuchungskommission des Deutschen Bundestags zu dem (meist totgeschwiegenen) Ergebnis gekommen war, in Deutschland sei ein Desaster wie in Japan nach heutigem Kenntnisstand "praktisch ausgeschlossen". Hierzulande veröffentlichten die Medien zwischen neun- und achtzehnmal so viele Forderungen nach dem Ausstieg aus der Kernenergie wie vergleichbare Medien in Frankreich und England.
Deutsche Journalisten neigen eher als britische dazu, missionarisch die Deutungshoheit zu übernehmen. Zu welcher Willkür es dabei kommen kann, illustriert Kepplinger an der Praxis des verkürzten Zitierens. Im Fall von Wolfgang Schäuble hielt es eine starke Minderheit der befragten Journalisten für vertretbar, nur wiederzugeben, was der Finanzminister bei einem Putin-Hitler-Vergleich angeblich gemeint hatte - und zu unterschlagen, was er wörtlich gesagt hatte. Aber im Fall des Franz-Peter Tebartz-van Elst hielt es eine ansehnliche Minderheit für angemessen, nur zu zitieren, was der frühere Limburger Bischof zur Buchung eines Flugs nach Indien missverständlich gesagt hatte - und zu unterschlagen, was er damit wirklich meinte.
Die von Kepplinger analysierten Opfer von Skandalisierungen und Informationsblockaden sind in der Regel konservativ. Liegt das allein daran, dass die meisten Journalisten, wie schon von Noelle-Neumann und Donsbach beschrieben, linksliberal oder links eingestellt sind und sich daher auf rechte Machenschaften kaprizieren? Oder sind dem konservativen Autor Kepplinger Kampagnen von rechts entgangen? Was ist mit der von rechts ständig wiederholten Behauptung, fast die Hälfte der Bevölkerung misstraue den Medien und ihrer Berichterstattung?
Dieses Umfrageergebnis gab es, aber doch nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich im Herbst 2015, als die Flüchtlingsströme unkontrolliert ins Land schwappten. Und auch nur im Blick auf dieses eine Thema. Darüber öffentlich zu disputieren wäre lohnend. Stattdessen reagierten die Massenmedien auf Kepplingers Herausforderung bislang in einer Weise, mit der er am wenigsten gerechnet hat: Sie bestätigten seine Kritik, indem sie ihn totschwiegen.
KURT REUMANN
Hans Mathias Kepplinger: "Totschweigen und
Skandalisieren".
Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken.
Herbert von Halem Verlag, Köln 2017. 232 S., Abb., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans Mathias Kepplinger über journalistische Fehler
Die gute Nachricht: Die überregionalen deutschen Tages- und Wochenzeitungen genießen unter Fachleuten einen guten Ruf. Bei der Wahl der zehn besten Zeitungen der Welt haben sie regelmäßig Aussichten auf einen der vorderen Plätze. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung wurde von 2009 bis 2016 sogar fünfmal als "International Newspaper of the Year" ausgezeichnet. Hinzu kommt in Deutschland eine ungewohnt differenzierte Lokalberichterstattung. Die schlechte Nachricht: Trotzdem bezweifelt ein Teil der Bevölkerung, dass die Medien über Streitthemen angemessen berichten. Deshalb ist das seit dem neunzehnten Jahrhundert vagabundierende Schlagwort von der "Lügenpresse" nicht totzukriegen. Im Januar 2015 wurde es, wenn auch kritisch, zum "Unwort des Jahres" erkoren.
Hans Mathias Kepplinger, bis vor kurzem neben Jürgen Wilke einer der beiden Nachfolger von Elisabeth Noelle-Neumann am Institut für Publizistik der Universität Mainz, beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit dem Selbstverständnis und den Arbeitsweisen von Journalisten. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf das bewusste Herunter- und Hochspielen von Informationen: auf das Totschweigen und Skandalisieren, wie es jetzt provokativ im Titel seines Opus Summum über fragwürdige journalistische Praktiken heißt. Was die Kritisierten selbst dazu sagen, hat der Mainzer Professor für Empirische Kommunikationsforschung mit einer repräsentativen Befragung von Journalisten zu acht aufsehenerregenden Fällen ermittelt.
Die Antworten bezeugen, dass der Untertitel des Buchs besser "Was Journalisten über ihre eigene Arbeit denken" hätte lauten sollen. Stattdessen verkündet er, was sie über ihre eigenen Fehler denken. Es ist halt nicht leicht, neutral zu formulieren, wenn man ein Anliegen hat und die Aufmerksamkeit darauf lenken will.
Immerhin hebt der streitbare Wissenschaftler hervor, dass sich deutsche Journalisten wie ihre Kollegen in vergleichbaren Ländern einhellig zum Leitmotiv der "New York Times" bekennen: "All the news that's fit to print" - alle Nachrichten, die es wert sind, gedruckt zu werden. Kepplingers Forschungsinteresse gilt jener Minderheit, die von diesem Ideal abweicht, obwohl sie es grundsätzlich anerkennt. Das Hauptmotiv für Grenzüberschreitungen ist, dass leidenschaftlich engagierte Journalisten ihre Berichterstattung auf tatsächliche oder vermeintliche Missstände konzentrieren. Oder dass sie vor drohenden Folgen warnen wollen. Dabei übertreiben sie die Gefahren und lassen weg, was für Entwarnung spricht.
Kepplingers frappierendstes Beispiel dafür ist die Risikoanalyse der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Die deutschen Medien nahmen den speziell japanischen Störfall zum Beweis für die generellen Gefahren der Kernenergie, obwohl die Untersuchungskommission des Deutschen Bundestags zu dem (meist totgeschwiegenen) Ergebnis gekommen war, in Deutschland sei ein Desaster wie in Japan nach heutigem Kenntnisstand "praktisch ausgeschlossen". Hierzulande veröffentlichten die Medien zwischen neun- und achtzehnmal so viele Forderungen nach dem Ausstieg aus der Kernenergie wie vergleichbare Medien in Frankreich und England.
Deutsche Journalisten neigen eher als britische dazu, missionarisch die Deutungshoheit zu übernehmen. Zu welcher Willkür es dabei kommen kann, illustriert Kepplinger an der Praxis des verkürzten Zitierens. Im Fall von Wolfgang Schäuble hielt es eine starke Minderheit der befragten Journalisten für vertretbar, nur wiederzugeben, was der Finanzminister bei einem Putin-Hitler-Vergleich angeblich gemeint hatte - und zu unterschlagen, was er wörtlich gesagt hatte. Aber im Fall des Franz-Peter Tebartz-van Elst hielt es eine ansehnliche Minderheit für angemessen, nur zu zitieren, was der frühere Limburger Bischof zur Buchung eines Flugs nach Indien missverständlich gesagt hatte - und zu unterschlagen, was er damit wirklich meinte.
Die von Kepplinger analysierten Opfer von Skandalisierungen und Informationsblockaden sind in der Regel konservativ. Liegt das allein daran, dass die meisten Journalisten, wie schon von Noelle-Neumann und Donsbach beschrieben, linksliberal oder links eingestellt sind und sich daher auf rechte Machenschaften kaprizieren? Oder sind dem konservativen Autor Kepplinger Kampagnen von rechts entgangen? Was ist mit der von rechts ständig wiederholten Behauptung, fast die Hälfte der Bevölkerung misstraue den Medien und ihrer Berichterstattung?
Dieses Umfrageergebnis gab es, aber doch nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich im Herbst 2015, als die Flüchtlingsströme unkontrolliert ins Land schwappten. Und auch nur im Blick auf dieses eine Thema. Darüber öffentlich zu disputieren wäre lohnend. Stattdessen reagierten die Massenmedien auf Kepplingers Herausforderung bislang in einer Weise, mit der er am wenigsten gerechnet hat: Sie bestätigten seine Kritik, indem sie ihn totschwiegen.
KURT REUMANN
Hans Mathias Kepplinger: "Totschweigen und
Skandalisieren".
Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken.
Herbert von Halem Verlag, Köln 2017. 232 S., Abb., geb., 21,- [Euro].
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»Dass Anspruch und Wirklichkeit im selbsternannten Qualitätsjournalismus leider oft weit auseinanderfallen, spüren viele Leser. Dieses Buch erklärt, warum und wie Journalisten derart gravierende Fehler machen und warum die Branche der Kritiker so wenig fähig zur notwendigen Selbstkritik ist.« (Roland Tichy)