Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 29,00 €
Produktdetails
  • Verlag: edition diskord
  • 1999.
  • Seitenzahl: 655
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 882g
  • ISBN-13: 9783892956532
  • ISBN-10: 3892956537
  • Artikelnr.: 08056642
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Günter Gödde (Dr. phil.) ist Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis und Dozent, Supervisor sowie Lehrtherapeut an der Berliner Akademie für Psychotherapie. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte der Psychoanalyse, Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie sowie von Therapeutik und Lebenskunst.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2000

Was der Wille erlebt, erreicht die Nachwelt nicht immer
Hat Freud Nietzsche nun studiert oder musste er ihn gar nicht lesen? Günter Gödde sucht Traditionslinien des Unbewussten

Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud waren sich der Ereignishaftigkeit ihres Denkens bewusst, das jeweils einen Umsturz in der abendländischen Diskursordnung bewirkte - die Genealogie, indem sie den Wert der Werte in Frage stellte, den Zufall als Herrn ihrer Geschichte und die Interpretationsbedürftigkeit als ihr eigentliches Wesen erkannte; die Psychoanalyse, indem sie das Bewusstsein in Frage stellte, das Unbewusste als Herrn des Ich und die Triebhaftigkeit als sein eigentliches Wesen durchschaute. Nietzsche bezeichnete sich im Kapitel seiner Autobiografie "Ecco homo", das Antwort auf die Frage gibt, "Warum ich ein Schicksal bin", umstandslos als "Dynamit". "Es wird einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung herausbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war."

Und Freud - der Nietzsches Diktum gekannt haben kann, "nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis" - prägte den Hörerinnen und Hörern seiner "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" die Erinnerung an den Namen Freud ein, indem er ihn mit der "dritten und empfindlichsten Kränkung" der menschlichen Größensucht nach Kopernikus und Darwin verknüpfte. Doch wie vergleicht man Ereignisse miteinander? Foucault hat, um Nietzsche, Freud und Marx zueinander in Beziehung setzen zu können, die Ereignishaftigkeit ihres Denkens selbst zum Thema gemacht und sie als "Diskursivitätsbegründer" bezeichnet: Ihre Texte haben dauerhaft eine neue Dimension des Denkens erobert, in der sich noch ihre Gegner bewegen müssen, wollen sie mitreden.

Der Berliner Psychoanalysehistoriker und Psychotherapeut Günter Gödde ist im Fall von Schopenhauer, Nietzsche und Freud den umgekehrten Weg gegangen; er betont als verbindendes Moment nicht den Bruch mit herkömmlichen Denkweisen, sondern verankert Freuds Metapsychologie in der Philosophiegeschichte und bettet Schopenhauer, Nietzsche und Freud in gemeinsame "Traditionslinien des ,Unbewußten'" ein, allen voran die "Denktradition des ,triebhaft-irrationalen' Willens", den Gödde vom "kognitiven" Unbewussten bei Leibniz, Kant, Herbart, Fechner und Helmholtz und vom "vitalen" Unbewussten bei Herder, Goethe, Schelling und Carus abgrenzt. Weil Gödde gleichzeitig die verschiedenen Entwicklungsphasen sorgfältig rekonstruiert, in denen sich Freuds Konzeption des Unbewussten in der Auseinandersetzung mit diesen widerstreitenden Traditionslinien wandelt, kann sein Buch auch als umfassende Einführung in die Psychoanalyse und ihre Entstehungsgeschichte gelesen werden.

Den Fluchtpunkt der von Gödde ausgezogenen Traditionslinien bildet "die implizite Philosophie" der Psychoanalyse, wie sie in Freuds Anthropologie zum Ausdruck kommt. Sie ist geprägt von der Anschauung des Menschen als "homo natura". Im Gegensatz zu Arthur Schopenhauer aber, der in eigenen klinischen Beobachtungen Freuds Entdeckung der Verdrängung vorweggenommen hat, ist diese Natur gänzlich naturwissenschaftlich-empirisch entzaubert. Im Gegensatz zu Nietzsche, der im Menschen lediglich "das noch nicht festgestellte Thier" sah, erschöpft sie sich bei Freud aber auch nicht in ihrer Formbarkeit. So nimmt Freud in den Augen von Gödde eine "Mittelstellung" ein, wobei die "radikale Absage an die Metaphysik Nietzsche und Freud gegen Schopenhauer vereint".

Gödde hat eine intellektuell sehr redliche Arbeit vorgelegt: Die einschlägigen Monografien und Aufsätze zu Freuds Schopenhauer-Rezeption von Bernd Nietzsche, Margret Kaiser-El-Safti und Marcel Zentner und zu Freuds Nietzsche-Rezeption von Reinhard Gasser (F.A.Z. vom 21. April 1998), Renate Schlesier und die Beiträge zum Sammelband von Johann Figl sind sorgfältig und kritisch ausgewertet; neue Quellenfunde hat Gödde selbst zur Diskussion nicht beizutragen. Unter den möglichen Verbindungsfiguren zwischen Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud - unter denen Gödde zu Recht die Bedeutung von Josef Paneth herausstreicht, der Freud leider verlorene Briefe über seine Begegnung mit Nietzsche 1884 geschrieben hat - fehlt lediglich Otto Gross.

In der Frage nach Freuds vermeintlicher Abhängigkeit von Nietzsche schließt sich Gödde nahezu vorbehaltlos Gasser an; er plädiert modifizierend nur für die philosophiegeschichtliche Erweiterung des Fragehorizonts. Beide halten die von Freud in seinen Selbstdarstellungen mehrfach thematisierte - und noch immer erklärungsbedürftige - Berührungsscheu für glaubwürdig, ein Nietzsche-Studium Freuds für ausgeschlossen. Renate Schlesier dagegen kommt in ihrer 1997 veröffentlichten Studie auf Grund derselben Indizien wie Gasser und Gödde zum gegenteiligen Schluss. Freuds zielsicher ausweichende Selbstdarstellungen setzen in ihren Augen "fraglos ein gründliches Nietzsche-Studium voraus". Doch wo die Interpretation der Interpretation als "Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen" (Nietzsche) auf dem Spiel steht, darf sich niemand wundern, wenn der Kampf um die Deutungsmacht weitergeht.

MARTIN STINGELIN

Günter Gödde: "Traditionslinien des ,Unbewußten'". Schopenhauer, Nietzsche, Freud. edition diskord, Tübingen 1999. 656 S., geb., 78,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

In einer gelehrten Rezension kommt Martin Stingelin zu dem Schluss, dass der Autor hier eine "intellektuell sehr redliche Arbeit vorgelegt" habe. Neue Quellen kann er in diesem Band zwar nicht ausmachen, andererseits erläutert der Rezensent, wie Gödde die Beiträge anderer Autoren zur Schopenhauer- bzw. Nietzsche-Rezeption zusammengetragen und ausgewertet hat. Die Frage, inwiefern Freud mit dem Werk Nietzsches vertraut war, wird hier - wie Stingelin feststellt - allerdings auch nicht geklärt. Gödde behauptet, dass Freud diese Werke nicht kannte, Stingelin weist jedoch auf einen Aufsatz von Renate Schlesier hin, die "auf Grund derselben Indizien" zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt. "Der Kampf um die Deutungsmacht" geht also weiter, resümiert Stingelin. Lobend hebt er jedoch hervor, dass Gödde sehr genau die Phasen nachzeichnet, "in denen sich Freuds Konzeption des Unbewussten in der Auseinandersetzung mit diesen widerstreitenden Traditionslinien wandelt". Daher sei der Band als Einführung in die Psychoanalyse durchaus von Wert, meint Stingelin.

© Perlentaucher Medien GmbH