Wie können wir uns von Hitler emanzipieren, ohne den Nationalsozialismus zu vergessen?
»Leo hinterfragt die deutsche Erinnerungskultur wie keiner vor ihm. Ich habe seit Jahren kein so intensives, dringliches und brillant geschriebenes Buch mehr gelesen.« Peer Teuwsen, NZZ am Sonntag, 26.09.2021
Auf unsere Erinnerungskultur sind viele Deutsche stolz. Tatsächlich aber diente sie oft nur der eigenen Entlastung. Und sie hat unser Geschichtsbewusstsein verengt. Per Leo weitet es wieder, indem er den Blick öffnet: in die USA und zur DDR, nach Israel und Polen, zurück in eine unaufgeräumte Vergangenheit, nach vorne in ein unvollkommenes Einwanderungsland.
Dieses radikale Buch verbindet eine Provokation mit einem Angebot. Es irritiert unseren Läuterungsstolz, und zugleich verlockt es zu einem frischen Blick auf die eigene Geschichte. Im Umgang mit dem Nationalsozialismus haben die Deutschen manches geleistet, sie sind aber auch vielen Illusionen erlegen. Heute droht eine Vergangenheit, die umso häufiger beschworen wird, je weniger man von ihr weiß, den Blick auf die Gegenwart zu verstellen. Migration und Wiedervereinigung haben unser Land so verändert, dass wir lernen müssen, anders auf uns selbst zu blicken. Weniger provinziell, weniger zwanghaft, weniger egozentrisch. Weltoffener, vielfältiger, neugieriger. Ein Leitmotiv, das uns dabei den Weg weisen könnte, ist für Leo das deutsch-jüdische Verhältnis. Wer bereit ist, die routinierte Betroffenheit über den Holocaust hinter sich zu lassen, wird auf eine verblüffende Vielfalt stoßen. Denn »die Juden« gibt es nicht - und auch hierzulande kann man viel, viel mehr sein als bloß »kein Nazi«.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
»Leo hinterfragt die deutsche Erinnerungskultur wie keiner vor ihm. Ich habe seit Jahren kein so intensives, dringliches und brillant geschriebenes Buch mehr gelesen.« Peer Teuwsen, NZZ am Sonntag, 26.09.2021
Auf unsere Erinnerungskultur sind viele Deutsche stolz. Tatsächlich aber diente sie oft nur der eigenen Entlastung. Und sie hat unser Geschichtsbewusstsein verengt. Per Leo weitet es wieder, indem er den Blick öffnet: in die USA und zur DDR, nach Israel und Polen, zurück in eine unaufgeräumte Vergangenheit, nach vorne in ein unvollkommenes Einwanderungsland.
Dieses radikale Buch verbindet eine Provokation mit einem Angebot. Es irritiert unseren Läuterungsstolz, und zugleich verlockt es zu einem frischen Blick auf die eigene Geschichte. Im Umgang mit dem Nationalsozialismus haben die Deutschen manches geleistet, sie sind aber auch vielen Illusionen erlegen. Heute droht eine Vergangenheit, die umso häufiger beschworen wird, je weniger man von ihr weiß, den Blick auf die Gegenwart zu verstellen. Migration und Wiedervereinigung haben unser Land so verändert, dass wir lernen müssen, anders auf uns selbst zu blicken. Weniger provinziell, weniger zwanghaft, weniger egozentrisch. Weltoffener, vielfältiger, neugieriger. Ein Leitmotiv, das uns dabei den Weg weisen könnte, ist für Leo das deutsch-jüdische Verhältnis. Wer bereit ist, die routinierte Betroffenheit über den Holocaust hinter sich zu lassen, wird auf eine verblüffende Vielfalt stoßen. Denn »die Juden« gibt es nicht - und auch hierzulande kann man viel, viel mehr sein als bloß »kein Nazi«.
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»Leo argumentiert stets mit sprachlicher Verve, teilweise auch polemisch. [...] Das Lernen aus der Geschichte begreift Leo als ständigen Prozess. Sein Ausgangspunkt ist die Gegenwart, und diese ist immer in Bewegung. Was auch bedeutet, dass die Vergangenheit von jeder Gegenwart wieder neu verhandelt werden muss.« Timo Posselt, Die Wochenzeitung, 16.12.2021 Timo Posselt WOZ 20211216
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jürgen Kaube kommt Per Leos Buch über den Stellenwert des Holocaust in Deutschland vor wie eine große Small-Talk-Sammlung. Problematisch findet er nicht nur die beliebige Einbindung von Themen und Quellen und Leos sehr persönlichen Affekten und Erlebnissen in den Text. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügt das Buch für Kaube jedenfalls ganz und gar nicht. Dafür entwerfe der Autor mit großer Geste lauter Forschungsprojekte zum Nationalsozialismus und diskreditiere die Arbeit anderer Historiker zum Thema und das Wirken der Geschichtspolitik, stellt Kaube verärgert fest. Sich beliebig für ein paar Seiten in jede Debatte zum Judenmord "zu werfen", scheint Kaube schlecht zu passen zu Leos Forderung, "das Sprechen über den Holocaust (zu) mäßigen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Wer leidet denn an der Geschichte?
Mit großen Gesten hinein in den Small Talk: Per Leo stürzt sich in alle Debatten zum Stellenwert des Holocaust und stolpert dabei von einer verwegenen Behauptung zur nächsten.
Von Jürgen Kaube
Wir sollten das, was wir als Gemeinwesen und Republik sein wollen, nicht länger von unserem Verhältnis zum Holocaust abhängig machen. Das ist, auf einen Satz gebracht, was uns der Historiker und Schriftsteller Per Leo in seinem Buch sagen will. Damit nimmt er Position gegen den ständigen und fahrlässigen Gebrauch, der von dieser Vergangenheit in öffentlichen Debatten gemacht wird. Ein Beispiel dafür ist Richard von Weizsäckers viel gerühmte Behauptung von 1985, die Deutschen seien vierzig Jahre zuvor nicht nur besiegt, sondern vor allem befreit worden. So als hätten sie bis dahin in nationalsozialistischer Gefangenschaft gelebt. Ein anderes Beispiel sind für Leo die Einlassungen zum Berliner Stelenfeld, die mitunter suggerierten, durch Denkmäler ließe sich Schuld abtragen. Und schließlich beklagt er die Beschwörungsformeln, die zwischen der Existenz der Bundesrepublik und dem Eingeständnis des massenhaften Judenmords einen Bedingungszusammenhang sehen.
All das sind Redensarten, die Leo nerven. Darum geht er sie in seinem aus dem Rahmen gewachsenen Essay alle durch und wirft sich, jeweils für ein paar Seiten, in alle Debatten. Er möchte das Sprechen über den Holocaust mäßigen. Zugleich möchte er in die Diskussionen der Historiker eingreifen, in denen es um wissenschaftlich begründbare Aussagen gehen sollte. Hier findet er viele Fragen nicht gestellt und vermutet, sie unterbleiben, weil so getan werde, als sei der Holocaust ein Tabu. Er fordert eine "echte Sachdiskussion" über die Geschichte, die jedoch finde nicht statt, weil beispielsweise postkolonialen Argumenten, die den Holocaust in eine allgemeine Historie völkermordender Gewalt einzuordnen versuchen, entgegengehalten werde, die Unvergleichlichkeit des Judenmords sei längst geklärt.
Leo steigt folgerichtig ein mit dem Singularitätssatz über den Holocaust. Er hält ihn für Geschwätz. Das kommt allerdings daher, dass er das Bestehen darauf, der Holocaust unterscheide sich von allen anderen Genoziden, für ein politisches Manöver hält. Begründet werde die Singularität des Holocaust "mit dem Verdacht, die Gegenpartei setze die normative Bindung der Bundesrepublik an den Westen aufs Spiel". So betrachtet, wäre die Frage schnell entschieden. Denn ein Urteil über die Vergangenheit kann selbstverständlich nicht gut mit seiner Nützlichkeit für die Gegenwart begründet werden. Leo unterscheidet Tatsachen von Sätzen, aber indem er Urteile, die sich auf Tatsachen berufen, als Sätze bezeichnet, schiebt er sie geschickt von den Tatsachen weg in die Richtung dessen, was heute gern als Narrativ oder von ihm als "negative Norm" bezeichnet wird. Dass die These von der Singularität zu einer Redefloskel geworden ist, die sich Begründungen erspart, liegt auf der Hand. Der öffentliche Raum ist auch bei anderen Fragen voller solcher Redefloskeln, und was immer mit dem schrecklichen Wort "Geschichtspolitik" bezeichnet werden kann, Forschung fällt nicht darunter.
Folgt aus Leos Befund, die These von der Singularität des Holocaust werde im öffentlichen Leben rituell und mithin so gedankenlos wie negationssicher verwendet, sie sei einer wissenschaftlichen, gedankenvollen Begründung gar nicht fähig? Und wie weit ist es andererseits zum Schluss, der deutsche Staat sei, achtzig Jahre nach dem Massenmord an den europäischen Juden, nach wie vor auf Furcht vor seiner Vergangenheit gebaut? Wir erleben diesen Staat durchaus anders, durchaus nicht ständig, sondern gewissermaßen nur feiertäglich auf die Jahre vor 1945 fixiert. Kann man sich überhaupt so etwas wie eine alles tragende Norm für eine Republik vorstellen? Eine Integration des Gemeinwesens durch Geschichtsdebatten? Oder können das unter den Historikern nur diejenigen, die sich etwas aufgeblasen haben?
Zwischen 1945 und 1979 kann von einer entscheidenden Rolle des Holocaust im bundesrepublikanischen Elitenbewusstsein ohnehin nicht die Rede sein. Leo geht auch diese Jahre durch und sammelt die gängigen Belege ein: die Entnazifizierung, die Wiedergutmachung, den Auschwitz-Prozess, die im Zeichen von Antifaschismus geführten Familienkonflikte von 1968. Zu "nationaler Tragweite" habe es der Holocaust jedoch erst in den Achtzigerjahren gebracht, mit Fernsehsendungen, Sachbüchern, Zeitungsdebatten. Was aber integrierte dann Westdeutschland während der davor liegenden Zeit? Und gibt es nicht Gründe zu vermuten, dass 1986, als der Historikerstreit stattfand, nur die Beteiligten glauben konnten, von seinem Ausgang hänge die Lage der Nation ab?
Leo billigt also der Geschichtspolitik und ihrem pathetischen Gehabe eine sehr große Rolle zu. Weswegen er so stark an beidem leidet. Mitunter genügt ihm dafür, dass das Wort "Holocaust" gewissermaßen sachfremd verwendet wurde, um 1999 einen Kriegseinsatz gegen Serbien zu begründen. Die Aufgabe der Geschichtsschreibung sieht er entsprechend in der Kritik solcher Rhetorik. Doch diese Forderung ist eingelassen in eine weit mächtigere. Seinen Text leitet Leo mit einer Reflexion auf Friedrich Nietzsches Behauptung ein, die Historie habe dem Leben zu dienen. Die Vergangenheit, heißt es dort, sei in unserem Land oft auf eine so hemmungslose Weise gegenwärtig, dass sie allmählich dessen Entfaltung hemme. Jetzt also soll sogar die Entfaltung des Landes unter falschen oder nicht stattfindenden Diskussionen über den Holocaust leiden? Wenn Leo von "unserem Leiden" an der Geschichte schreibt, gar von einem "Zeitfieber", wen meint er? Aufregungen in Zeitschriften? Debatten in Prenzlauer Berg? Rhetorische Manöver mancher Historiker? Von ihrer Behandlung hängt ab, dass "die neue Republik gelingen soll"? Das ist, Pardon, die Sicht eines Ordinarius für Geschichte um 1880, auch wenn damals statt Republik Nation geschrieben worden wäre.
Doch zurück zum Urteil, der Holocaust sei welthistorisch ein singulärer Vorgang. Dass ein solcher Satz in Geschwätz überführt werden kann - was für nicht wenige Sätze der postkolonialen Historie ebenfalls gilt -, heißt wohl kaum, dass er nichts als Geschwätz ist. Zwanzig Seiten nach seiner Geschwätzdiagnose erwägt Leo, dass der Singularitätssatz auch eine These sein könnte, um gleich die Phrase anzufügen, keine These könne absolute Geltung beanspruchen. Gewiss, aber gibt es keinen Stand der Forschung? Oder herrscht dort, in der Geschichtsschreibung, bloß ein buntes Hin und Her von Einlassungen zur Frage? Von den Argumenten, die gegen die Singularitätsvermutung sprechen, erfahren wir in diesem Buch jedenfalls sehr wenig.
Oder in dieser Form: Es wird behauptet, von Juden seien keine territorialen Konflikte ausgegangen, sie hätten sich in keinem Aufstand gegen Deutschland befunden, und von keiner anderen Opfergruppe eines Genozids habe es die durchgeführte Vermutung gegeben, von ihrer kompletten Vernichtung sei die Erlösung der Welt unter besonderer Berücksichtigung der Mörder abhängig. Unter kolonialen Aspekten hätte beispielsweise der Abtransport von Amsterdamer oder Pariser Juden nach Ostpolen, um sie dort zu ermorden, keinerlei Sinn gehabt.
Hierauf bekommen wir kein Beispiel eines kolonialen Massenmords mit Heilserwartung, sondern im Wesentlichen nur den Bescheid, jede Vernichtungsidee beruhe auf einem Phantasma. Und die Rückfrage, ob es irgendeine Quelle vor 1941 gebe, die den Vorsatz des Völkermords belege. Welche Bedeutung das für ein Urteil über das exzeptionelle Vorgehen der Nationalsozialisten hätte, ist nicht zu sehen. Leo erlegt Saul Friedländers Behauptung, es habe unter Hitler einen "Erlösungsantisemitismus" gegeben, dann noch das Pensum auf, auch andere Ideologien, die zu Völkermorden führten, daraufhin zu prüfen. Die pure Tatsache, dass eine solche Prüfung nicht erfolgt ist - oder ist sie erfolgt, und Leo hält nur hinterm Berg damit? -, legt er allerdings zuungunsten des Friedländer'schen Arguments aus.
Das ist ein genereller Zug des Buches. Es entwirft Dutzende von Forschungsprojekten zum Nationalsozialismus, und solange sie nicht durchgeführt sind, hält es jede dezidierte wissenschaftliche Rede über den Holocaust für unverantwortlich. Leo hat recht: An Antworten knüpfen sich in der Wissenschaft weitere Fragen. Seit dem Historikerstreit, in dem die Singularität thematisch war, sind fünfunddreißig Jahre vergangen, und manche haben sie für Forschung genutzt. Des Sterbens der Zeitzeugen halber wird Forschung bald der einzige verständige Zugang zum historischen Geschehen sein.
Per Leo selbst bringt seine Gedanken aber nicht in eine wissenschaftliche oder auch nur wissenschaftsnahe Form. Sein Stil steht den von ihm geforderten Diskussionen im Weg. Immer wieder lenkt er die Argumentation ins Idiosynkratische, etwa wenn er ohne jeden Ertrag in der Sache von Freundschaften erzählt, die er in Berlin mit ostdeutsch-jüdischen Leuten geschlossen hat. Oder wenn er spekuliert, die häufige Vergabe von Vornamen wie David und Magdalena dokumentiere die elterliche und typisch deutsche Sehnsucht nach Unschuld. Dass er die so benannten Kinder für seine Pointe dann "Nazienkel" nennen und mit dem geheimen Wunsch ausstatten muss, lieber Manfred und Monika zu heißen, versteht sich.
Es gibt viele solche dahingesagten Sätze in diesem Buch. Man kann sie Per Leo und seinem Drang, die eigenen Affekte, den eigenen Wohnort, die eigene Bande und die eigenen Lieblingshistoriker ins Spiel zu bringen, schenken. Vielleicht sind es ja auch nur Versuche der Auflockerung. Ernster zu nehmen ist seine Behandlung der gegenwärtigen Antisemitismusfrage. Er hält Linien, die vom Holocaust nach Palästina gezogen werden, für das Resultat eines Kurzschlusses. Das müsste dann allerdings nicht nur für den Vergleich von Boykotten gegen Israel mit der Parole "Kauft nicht beim Juden" gelten, sondern auch für die These, in Israel würden die Opfer zu Tätern. Attacken von muslimisch-arabischen Migranten auf Juden beziehen sich für ihn auf die Konflikte im Nahen Osten und sind deshalb nicht antijüdisch, sondern antiisraelisch. Auf der Straße hört es sich anders an. Leo findet sogar das Wort "israelbezogener Umwegantisemitismus" dafür, kontrastiert ihn dem Judenhass und macht sich Hoffnungen auf Bündnisse der arabisch-muslimischen Jugend, die soeben noch "Jude, Jude, feiges Schwein" rief, mit der linken Diaspora. Dream on.
Aber nicht die verwegenen Behauptungen im Einzelnen sind das Problem des Buches. Viel mehr, dass sie Per Leo nur so aus der Feder fließen. Damit unterliegt er am Ende selbst der Gefahr, die er bezeichnet hat: dass, sobald nach dem Holocaust, seinen Gründen und seinen Folgen gefragt wird, auf einmal alles thematisch wird. Die Türen zu einem, wenn das Paradox erlaubt ist, gewaltigen Small Talk öffnen sich weit, und wie es an Stammtischen so geht, sind am Ende sogar Facebook-Mitteilungen von irgendwem Belege dafür, dass irgendetwas grundsätzlich schiefläuft.
Per Leo: "Tränen ohne Trauer". Nach der Erinnerungskultur.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 272 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit großen Gesten hinein in den Small Talk: Per Leo stürzt sich in alle Debatten zum Stellenwert des Holocaust und stolpert dabei von einer verwegenen Behauptung zur nächsten.
Von Jürgen Kaube
Wir sollten das, was wir als Gemeinwesen und Republik sein wollen, nicht länger von unserem Verhältnis zum Holocaust abhängig machen. Das ist, auf einen Satz gebracht, was uns der Historiker und Schriftsteller Per Leo in seinem Buch sagen will. Damit nimmt er Position gegen den ständigen und fahrlässigen Gebrauch, der von dieser Vergangenheit in öffentlichen Debatten gemacht wird. Ein Beispiel dafür ist Richard von Weizsäckers viel gerühmte Behauptung von 1985, die Deutschen seien vierzig Jahre zuvor nicht nur besiegt, sondern vor allem befreit worden. So als hätten sie bis dahin in nationalsozialistischer Gefangenschaft gelebt. Ein anderes Beispiel sind für Leo die Einlassungen zum Berliner Stelenfeld, die mitunter suggerierten, durch Denkmäler ließe sich Schuld abtragen. Und schließlich beklagt er die Beschwörungsformeln, die zwischen der Existenz der Bundesrepublik und dem Eingeständnis des massenhaften Judenmords einen Bedingungszusammenhang sehen.
All das sind Redensarten, die Leo nerven. Darum geht er sie in seinem aus dem Rahmen gewachsenen Essay alle durch und wirft sich, jeweils für ein paar Seiten, in alle Debatten. Er möchte das Sprechen über den Holocaust mäßigen. Zugleich möchte er in die Diskussionen der Historiker eingreifen, in denen es um wissenschaftlich begründbare Aussagen gehen sollte. Hier findet er viele Fragen nicht gestellt und vermutet, sie unterbleiben, weil so getan werde, als sei der Holocaust ein Tabu. Er fordert eine "echte Sachdiskussion" über die Geschichte, die jedoch finde nicht statt, weil beispielsweise postkolonialen Argumenten, die den Holocaust in eine allgemeine Historie völkermordender Gewalt einzuordnen versuchen, entgegengehalten werde, die Unvergleichlichkeit des Judenmords sei längst geklärt.
Leo steigt folgerichtig ein mit dem Singularitätssatz über den Holocaust. Er hält ihn für Geschwätz. Das kommt allerdings daher, dass er das Bestehen darauf, der Holocaust unterscheide sich von allen anderen Genoziden, für ein politisches Manöver hält. Begründet werde die Singularität des Holocaust "mit dem Verdacht, die Gegenpartei setze die normative Bindung der Bundesrepublik an den Westen aufs Spiel". So betrachtet, wäre die Frage schnell entschieden. Denn ein Urteil über die Vergangenheit kann selbstverständlich nicht gut mit seiner Nützlichkeit für die Gegenwart begründet werden. Leo unterscheidet Tatsachen von Sätzen, aber indem er Urteile, die sich auf Tatsachen berufen, als Sätze bezeichnet, schiebt er sie geschickt von den Tatsachen weg in die Richtung dessen, was heute gern als Narrativ oder von ihm als "negative Norm" bezeichnet wird. Dass die These von der Singularität zu einer Redefloskel geworden ist, die sich Begründungen erspart, liegt auf der Hand. Der öffentliche Raum ist auch bei anderen Fragen voller solcher Redefloskeln, und was immer mit dem schrecklichen Wort "Geschichtspolitik" bezeichnet werden kann, Forschung fällt nicht darunter.
Folgt aus Leos Befund, die These von der Singularität des Holocaust werde im öffentlichen Leben rituell und mithin so gedankenlos wie negationssicher verwendet, sie sei einer wissenschaftlichen, gedankenvollen Begründung gar nicht fähig? Und wie weit ist es andererseits zum Schluss, der deutsche Staat sei, achtzig Jahre nach dem Massenmord an den europäischen Juden, nach wie vor auf Furcht vor seiner Vergangenheit gebaut? Wir erleben diesen Staat durchaus anders, durchaus nicht ständig, sondern gewissermaßen nur feiertäglich auf die Jahre vor 1945 fixiert. Kann man sich überhaupt so etwas wie eine alles tragende Norm für eine Republik vorstellen? Eine Integration des Gemeinwesens durch Geschichtsdebatten? Oder können das unter den Historikern nur diejenigen, die sich etwas aufgeblasen haben?
Zwischen 1945 und 1979 kann von einer entscheidenden Rolle des Holocaust im bundesrepublikanischen Elitenbewusstsein ohnehin nicht die Rede sein. Leo geht auch diese Jahre durch und sammelt die gängigen Belege ein: die Entnazifizierung, die Wiedergutmachung, den Auschwitz-Prozess, die im Zeichen von Antifaschismus geführten Familienkonflikte von 1968. Zu "nationaler Tragweite" habe es der Holocaust jedoch erst in den Achtzigerjahren gebracht, mit Fernsehsendungen, Sachbüchern, Zeitungsdebatten. Was aber integrierte dann Westdeutschland während der davor liegenden Zeit? Und gibt es nicht Gründe zu vermuten, dass 1986, als der Historikerstreit stattfand, nur die Beteiligten glauben konnten, von seinem Ausgang hänge die Lage der Nation ab?
Leo billigt also der Geschichtspolitik und ihrem pathetischen Gehabe eine sehr große Rolle zu. Weswegen er so stark an beidem leidet. Mitunter genügt ihm dafür, dass das Wort "Holocaust" gewissermaßen sachfremd verwendet wurde, um 1999 einen Kriegseinsatz gegen Serbien zu begründen. Die Aufgabe der Geschichtsschreibung sieht er entsprechend in der Kritik solcher Rhetorik. Doch diese Forderung ist eingelassen in eine weit mächtigere. Seinen Text leitet Leo mit einer Reflexion auf Friedrich Nietzsches Behauptung ein, die Historie habe dem Leben zu dienen. Die Vergangenheit, heißt es dort, sei in unserem Land oft auf eine so hemmungslose Weise gegenwärtig, dass sie allmählich dessen Entfaltung hemme. Jetzt also soll sogar die Entfaltung des Landes unter falschen oder nicht stattfindenden Diskussionen über den Holocaust leiden? Wenn Leo von "unserem Leiden" an der Geschichte schreibt, gar von einem "Zeitfieber", wen meint er? Aufregungen in Zeitschriften? Debatten in Prenzlauer Berg? Rhetorische Manöver mancher Historiker? Von ihrer Behandlung hängt ab, dass "die neue Republik gelingen soll"? Das ist, Pardon, die Sicht eines Ordinarius für Geschichte um 1880, auch wenn damals statt Republik Nation geschrieben worden wäre.
Doch zurück zum Urteil, der Holocaust sei welthistorisch ein singulärer Vorgang. Dass ein solcher Satz in Geschwätz überführt werden kann - was für nicht wenige Sätze der postkolonialen Historie ebenfalls gilt -, heißt wohl kaum, dass er nichts als Geschwätz ist. Zwanzig Seiten nach seiner Geschwätzdiagnose erwägt Leo, dass der Singularitätssatz auch eine These sein könnte, um gleich die Phrase anzufügen, keine These könne absolute Geltung beanspruchen. Gewiss, aber gibt es keinen Stand der Forschung? Oder herrscht dort, in der Geschichtsschreibung, bloß ein buntes Hin und Her von Einlassungen zur Frage? Von den Argumenten, die gegen die Singularitätsvermutung sprechen, erfahren wir in diesem Buch jedenfalls sehr wenig.
Oder in dieser Form: Es wird behauptet, von Juden seien keine territorialen Konflikte ausgegangen, sie hätten sich in keinem Aufstand gegen Deutschland befunden, und von keiner anderen Opfergruppe eines Genozids habe es die durchgeführte Vermutung gegeben, von ihrer kompletten Vernichtung sei die Erlösung der Welt unter besonderer Berücksichtigung der Mörder abhängig. Unter kolonialen Aspekten hätte beispielsweise der Abtransport von Amsterdamer oder Pariser Juden nach Ostpolen, um sie dort zu ermorden, keinerlei Sinn gehabt.
Hierauf bekommen wir kein Beispiel eines kolonialen Massenmords mit Heilserwartung, sondern im Wesentlichen nur den Bescheid, jede Vernichtungsidee beruhe auf einem Phantasma. Und die Rückfrage, ob es irgendeine Quelle vor 1941 gebe, die den Vorsatz des Völkermords belege. Welche Bedeutung das für ein Urteil über das exzeptionelle Vorgehen der Nationalsozialisten hätte, ist nicht zu sehen. Leo erlegt Saul Friedländers Behauptung, es habe unter Hitler einen "Erlösungsantisemitismus" gegeben, dann noch das Pensum auf, auch andere Ideologien, die zu Völkermorden führten, daraufhin zu prüfen. Die pure Tatsache, dass eine solche Prüfung nicht erfolgt ist - oder ist sie erfolgt, und Leo hält nur hinterm Berg damit? -, legt er allerdings zuungunsten des Friedländer'schen Arguments aus.
Das ist ein genereller Zug des Buches. Es entwirft Dutzende von Forschungsprojekten zum Nationalsozialismus, und solange sie nicht durchgeführt sind, hält es jede dezidierte wissenschaftliche Rede über den Holocaust für unverantwortlich. Leo hat recht: An Antworten knüpfen sich in der Wissenschaft weitere Fragen. Seit dem Historikerstreit, in dem die Singularität thematisch war, sind fünfunddreißig Jahre vergangen, und manche haben sie für Forschung genutzt. Des Sterbens der Zeitzeugen halber wird Forschung bald der einzige verständige Zugang zum historischen Geschehen sein.
Per Leo selbst bringt seine Gedanken aber nicht in eine wissenschaftliche oder auch nur wissenschaftsnahe Form. Sein Stil steht den von ihm geforderten Diskussionen im Weg. Immer wieder lenkt er die Argumentation ins Idiosynkratische, etwa wenn er ohne jeden Ertrag in der Sache von Freundschaften erzählt, die er in Berlin mit ostdeutsch-jüdischen Leuten geschlossen hat. Oder wenn er spekuliert, die häufige Vergabe von Vornamen wie David und Magdalena dokumentiere die elterliche und typisch deutsche Sehnsucht nach Unschuld. Dass er die so benannten Kinder für seine Pointe dann "Nazienkel" nennen und mit dem geheimen Wunsch ausstatten muss, lieber Manfred und Monika zu heißen, versteht sich.
Es gibt viele solche dahingesagten Sätze in diesem Buch. Man kann sie Per Leo und seinem Drang, die eigenen Affekte, den eigenen Wohnort, die eigene Bande und die eigenen Lieblingshistoriker ins Spiel zu bringen, schenken. Vielleicht sind es ja auch nur Versuche der Auflockerung. Ernster zu nehmen ist seine Behandlung der gegenwärtigen Antisemitismusfrage. Er hält Linien, die vom Holocaust nach Palästina gezogen werden, für das Resultat eines Kurzschlusses. Das müsste dann allerdings nicht nur für den Vergleich von Boykotten gegen Israel mit der Parole "Kauft nicht beim Juden" gelten, sondern auch für die These, in Israel würden die Opfer zu Tätern. Attacken von muslimisch-arabischen Migranten auf Juden beziehen sich für ihn auf die Konflikte im Nahen Osten und sind deshalb nicht antijüdisch, sondern antiisraelisch. Auf der Straße hört es sich anders an. Leo findet sogar das Wort "israelbezogener Umwegantisemitismus" dafür, kontrastiert ihn dem Judenhass und macht sich Hoffnungen auf Bündnisse der arabisch-muslimischen Jugend, die soeben noch "Jude, Jude, feiges Schwein" rief, mit der linken Diaspora. Dream on.
Aber nicht die verwegenen Behauptungen im Einzelnen sind das Problem des Buches. Viel mehr, dass sie Per Leo nur so aus der Feder fließen. Damit unterliegt er am Ende selbst der Gefahr, die er bezeichnet hat: dass, sobald nach dem Holocaust, seinen Gründen und seinen Folgen gefragt wird, auf einmal alles thematisch wird. Die Türen zu einem, wenn das Paradox erlaubt ist, gewaltigen Small Talk öffnen sich weit, und wie es an Stammtischen so geht, sind am Ende sogar Facebook-Mitteilungen von irgendwem Belege dafür, dass irgendetwas grundsätzlich schiefläuft.
Per Leo: "Tränen ohne Trauer". Nach der Erinnerungskultur.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 272 S., geb., 20,- Euro.
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