Die vierzehn Jahre, die ich in Bergen lebte, sind längst vorbei. Ich führte ein Tagebuch, das habe ich verbrannt. Ich knipste ein paar Bilder, von denen besitze ich noch zwölf. Ich wusste so wenig, wollte so viel, brachte nichts zustande. Aber in welch einer Stimmung ich war, als ich dort ankam!
14 Jahre verbrachte Knausgård in Bergen, bevor er aus der norwegischen Küstenstadt regelrecht nach Stockholm floh, als ginge es ins Exil. Es waren Jahre, in denen er so unermüdlich wie erfolglos versuchte, Schriftsteller zu werden, in denen schließlich seine erste Ehe scheiterte, in denen sich Momente kurzer Glückgefühle mit jenen tiefster Selbstverachtung die Hand gaben, in denen sich Demütigungen und Höhenräusche ebenso schnell abwechselten wie selbstzerstörerische Alkoholexzesse und erste künstlerische Erfolge. Dabei hatte es am Anfang so gut ausgesehen, dieses Leben in Bergen. Dem jungen Knausgård schien die Welt offenzustehen, all seine Träume schienen sich zu erfüllen. Er hatte einen Studienplatz an der Akademie für Schreibkunst bekommen, endlich eine Freundin gefunden ...
Das, was Karl Ove Knausgård mit seinem sechsbändigen autobiografischen Romanzyklus bei Lesern ausgelöst hat, dürfte einzigartig sein. Er schreibt „nur“ über sein Leben, das aber so schonungslos und genau, dass viele – gerade auch Männer – den Eindruck haben, da schreibe jemand über sie selbst, ihr Leben, ihre Probleme. Gefühlt sprachen und sprechen alle über Knausgård und jeder neue Band wird hierzulande sehnsüchtig erwartet. Der deutsche Verlag hat den Originaltitel „Min Kamp“, also „Mein Kampf“, aus naheliegenden Gründen umbenannt. Nach „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“ und „Leben“ erscheint nun die deutschsprachige Übersetzung von Band fünf: „Träumen“ (Der Abschluss der Reihe, Band 6 des rund 3.500 Seiten starken Projektes, kommt laut Verlag im Frühjahr 2017 auf den Markt).
„Kinder großziehen, ein Elternteil verlieren, Beziehungsprobleme. Das ist doch unser Kampf“
Die Kritiker sprechen von einer „literarischen Sensation“ und einem Hype, den bisher sonst nur die „Harry Potter“-Bände ausgelöst haben. Mit Hokuspokus und fantastischen Welten hat Knausgård allerdings gar nichts am Hut. Er bleibt so dicht an der Wirklichkeit, so dicht an all seinen Unzulänglichkeiten, dass es schmerzt. Genau deshalb hat Knausgård auch den Titel „Mein Kampf“ gewählt, mit der Betonung auf MEIN Kampf. In einem 3sat-Interview sagt er dazu: „Ich wollte den Titel zurückhaben und zeigen, was der wirkliche Kampf ist: Kinder großziehen, ein Elternteil verlieren, Beziehungsprobleme. Das ist doch unser Kampf.“
Knausgård will sich schreibend die Welt (zurück)erobern und versucht, ein ganzes Leben abzubilden. So schreibt er alles auf, was sein Leben ausmacht und löst so die Grenzen zwischen dem Schreiben und dem Leben. „Träumen“ beginnt mit dem 19-jährigen Knausgård, der in die norwegische Stadt Bergen zieht. Er erlebt große Lieben und heiratet auch, trennt sich wieder und stürzt sich in Affären, trinkt viel zu viel und rastet oft genug dabei aus und schafft – nach einer schwierigen Zeit an der Schreibakademie – seinen Durchbruch als Autor mit seinem Debüt Ute av verden. Dafür bekommt er 1998 den norwegischen Kritikerpreis und wird als literarische Entdeckung gefeiert. Nach qualvollen Jahren des Zweifelns und Scheiterns …
Knausgård und der Rausch des Schreibens, der Rausch des Lesens …
Faszinierend an „Träumen“ ist, wie bei den Bänden zuvor, dass dieser Rausch, den Knausgård beim Schreiben erlebt, dieses Manisch-Obsessive, sich auch beim Lesen einstellt. Jedes Buch ist auch ein Dokument darüber, wie sehr diesen jungen, unglaublich traurigen und unsicheren Mann die Angst vor dem Vater geprägt hat. Man weiß aus den Büchern davor, dass dieser Vater Alkoholiker war und gewalttätig – in Worten wie in Taten. Und Karl Ove will diesen Vater aus seinem Inneren bekommen. Diesen Vater, den er immer sehr genau beobachten musste, um jede Nuance seiner Stimmungen aufzunehmen … jede Sekunde konnte seine Stimmung schließlich kippen und er wurde böse. Tiefste Unsicherheit – das hat Knausgård geprägt. Und das steckt dem 19-Jährigen, der in Bergen in „Träumen“ an der Schreibakademie angenommen wurde, in den Knochen. Er beschreibt diese Unsicherheit, Verlorenheit, dieses Gefallen-Wollen um fast jeden Preis sezierend genau. Die Verzweiflung, der Selbsthass, das Gefühl, ein Nichts zu sein – das begleitet Karl Ove in einem oft auch beängstigenden Maße. Er ist hochsensibel und kann mit Kritik verdammt schlecht umgehen. Er verstummt im Kreis mehrerer Menschen, wird scheu und ungelenk. Jedes Wort von sich legt er auf die Goldwaage und beobachtet genau, was sein großer Bruder Yngve – er lebt auch in Bergen – gut findet, worüber er mit seinen Freunden spricht, welche Musik er hört oder welche Plakate er an die Wand in seiner Wohnung hängt.
„Das Herz irrt sich nie. Niemals irrt sich das Herz.“
Doch es gibt etwas, was aus dem scheuen und stummen Karl Ove jemanden macht, der drauflos plaudert, ohne sich selbst zu sezieren: der Alkohol. Dass in der Studentenstadt Bergen sowieso gut getrunken wird, ist klar. Bei Knausgård holt dieses Besaufen ab einem bestimmten Punkt etwas aus ihm heraus – oder lässt es frei –, das selbst seinem Bruder und den Freunden unheimlich wird. Karl Ove tickt aus, ist nicht mehr zu kontrollieren, wird auch körperlich gewalttätig und greift einmal sogar seinen Bruder Yngve an, schmeißt ihm ein Glas an den Kopf. Was da aus ihm herausbricht, macht Angst – auch ihm. Aber er beschreibt es dennoch in all der Peinlichkeit. Genauso wie die Demütigung, dass die Frau, in die er sich verliebt hat, Ingvild, sich nicht für ihn, sondern für seinen Bruder entscheidet. Zuvor schreibt er noch, an Ingvild denkend:
„Man sieht es, man verliebt sich, und das ist wenig, gut möglich, dass man sagen kann, es ist wenig, aber es ist immer richtig. Das Herz irrt sich nie.
Das Herz irrt sich nie.
Niemals irrt sich das Herz.“
Ja, er wird sich wieder verlieben. Und er wird, mit viel zu viel Alkohol im Blut, fremdgehen und sich danach deswegen zerfleischen. Er wird seine erste Frau Tonje kennenlernen und heiraten. Zuvor Ängste ausstehen, ob sie auch wirklich ihn will und nicht wieder seinen Bruder. Das sitzt tief bei ihm, und als sich Tonje und Yngve an einem Abend in der Kneipe für Karl Oves Gefühl viel zu gut verstehen, zerschneidet er sich auf der Toilette der Kneipe das Gesicht:
„Doch es hörte nicht auf, es ging einfach so weiter, sie unterhielten sich, als gäbe es mich gar nicht, ich trank und wurde immer verzweifelter. Schließlich dachte ich, dass mir diese ganze Hölle scheißegal war. Zum Teufel mit dieser verdammten Scheiße. Ich sah ein zerbrochenes Bierglas auf dem Fußboden. Ich bückte mich, nahm eine Scherbe in die Hand, betrachtete mich im Spiegel. Ich zog die Scherbe über meine Wange. Ein roter Streifen wurde sichtbar, etwas Blut sickerte über den Rand. Ich wischte es fort, mehr kam nicht. Ich zog die Scherbe über die andere Wange, diesmal jedoch so fest ich konnte […]“
Schreiben ist fast wie träumen …
Gegen Ende des 800-Seiten-Buches geht diese Beziehung auseinander. Knausgård kämpft um seinen Platz im Leben, in der Liebe und natürlich auch im Schreiben. Die Schreibakademie jedenfalls tut Karl Ove nicht gut. Er will schließlich immer der Beste sein und spürt doch, dass er nicht an sein Innerstes herankommt, an seinen Kern. Alles, so wütet er, bleibe bei ihm an der Oberfläche und demnach sei das, was er schreibe, schlecht. Ob die Texte wirklich so schlecht waren, wie er behauptet, sei dahingestellt. Denn sein Zweifeln an sich selbst steht ihm immer im Weg. Auch heute noch sagt er von sich, dass er nicht glücklich ist. „Glück ist nichts für mich. Das ist ein Urkonflikt in mir, ich habe wenig Selbstvertrauen und ich denke, nichts was ich habe ist wertvoll.“ Glücklich ist er fast nur, wenn er beim Schreiben an diesen Punkt kommt, wo er sich selbst auflöst, sich vergisst, so erzählt er. „Es ist fast wie träumen.“
14 Jahre verbrachte Knausgård in Bergen, bevor er aus der norwegischen Küstenstadt regelrecht nach Stockholm floh, als ginge es ins Exil. Es waren Jahre, in denen er so unermüdlich wie erfolglos versuchte, Schriftsteller zu werden, in denen schließlich seine erste Ehe scheiterte, in denen sich Momente kurzer Glückgefühle mit jenen tiefster Selbstverachtung die Hand gaben, in denen sich Demütigungen und Höhenräusche ebenso schnell abwechselten wie selbstzerstörerische Alkoholexzesse und erste künstlerische Erfolge. Dabei hatte es am Anfang so gut ausgesehen, dieses Leben in Bergen. Dem jungen Knausgård schien die Welt offenzustehen, all seine Träume schienen sich zu erfüllen. Er hatte einen Studienplatz an der Akademie für Schreibkunst bekommen, endlich eine Freundin gefunden ...
„Träumen“ und schreibend die Welt (zurück)erobern
Das, was Karl Ove Knausgård mit seinem sechsbändigen autobiografischen Romanzyklus bei Lesern ausgelöst hat, dürfte einzigartig sein. Er schreibt „nur“ über sein Leben, das aber so schonungslos und genau, dass viele – gerade auch Männer – den Eindruck haben, da schreibe jemand über sie selbst, ihr Leben, ihre Probleme. Gefühlt sprachen und sprechen alle über Knausgård und jeder neue Band wird hierzulande sehnsüchtig erwartet. Der deutsche Verlag hat den Originaltitel „Min Kamp“, also „Mein Kampf“, aus naheliegenden Gründen umbenannt. Nach „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“ und „Leben“ erscheint nun die deutschsprachige Übersetzung von Band fünf: „Träumen“ (Der Abschluss der Reihe, Band 6 des rund 3.500 Seiten starken Projektes, kommt laut Verlag im Frühjahr 2017 auf den Markt).
„Kinder großziehen, ein Elternteil verlieren, Beziehungsprobleme. Das ist doch unser Kampf“
Die Kritiker sprechen von einer „literarischen Sensation“ und einem Hype, den bisher sonst nur die „Harry Potter“-Bände ausgelöst haben. Mit Hokuspokus und fantastischen Welten hat Knausgård allerdings gar nichts am Hut. Er bleibt so dicht an der Wirklichkeit, so dicht an all seinen Unzulänglichkeiten, dass es schmerzt. Genau deshalb hat Knausgård auch den Titel „Mein Kampf“ gewählt, mit der Betonung auf MEIN Kampf. In einem 3sat-Interview sagt er dazu: „Ich wollte den Titel zurückhaben und zeigen, was der wirkliche Kampf ist: Kinder großziehen, ein Elternteil verlieren, Beziehungsprobleme. Das ist doch unser Kampf.“
Knausgård will sich schreibend die Welt (zurück)erobern und versucht, ein ganzes Leben abzubilden. So schreibt er alles auf, was sein Leben ausmacht und löst so die Grenzen zwischen dem Schreiben und dem Leben. „Träumen“ beginnt mit dem 19-jährigen Knausgård, der in die norwegische Stadt Bergen zieht. Er erlebt große Lieben und heiratet auch, trennt sich wieder und stürzt sich in Affären, trinkt viel zu viel und rastet oft genug dabei aus und schafft – nach einer schwierigen Zeit an der Schreibakademie – seinen Durchbruch als Autor mit seinem Debüt Ute av verden. Dafür bekommt er 1998 den norwegischen Kritikerpreis und wird als literarische Entdeckung gefeiert. Nach qualvollen Jahren des Zweifelns und Scheiterns …
Knausgård und der Rausch des Schreibens, der Rausch des Lesens …
Faszinierend an „Träumen“ ist, wie bei den Bänden zuvor, dass dieser Rausch, den Knausgård beim Schreiben erlebt, dieses Manisch-Obsessive, sich auch beim Lesen einstellt. Jedes Buch ist auch ein Dokument darüber, wie sehr diesen jungen, unglaublich traurigen und unsicheren Mann die Angst vor dem Vater geprägt hat. Man weiß aus den Büchern davor, dass dieser Vater Alkoholiker war und gewalttätig – in Worten wie in Taten. Und Karl Ove will diesen Vater aus seinem Inneren bekommen. Diesen Vater, den er immer sehr genau beobachten musste, um jede Nuance seiner Stimmungen aufzunehmen … jede Sekunde konnte seine Stimmung schließlich kippen und er wurde böse. Tiefste Unsicherheit – das hat Knausgård geprägt. Und das steckt dem 19-Jährigen, der in Bergen in „Träumen“ an der Schreibakademie angenommen wurde, in den Knochen. Er beschreibt diese Unsicherheit, Verlorenheit, dieses Gefallen-Wollen um fast jeden Preis sezierend genau. Die Verzweiflung, der Selbsthass, das Gefühl, ein Nichts zu sein – das begleitet Karl Ove in einem oft auch beängstigenden Maße. Er ist hochsensibel und kann mit Kritik verdammt schlecht umgehen. Er verstummt im Kreis mehrerer Menschen, wird scheu und ungelenk. Jedes Wort von sich legt er auf die Goldwaage und beobachtet genau, was sein großer Bruder Yngve – er lebt auch in Bergen – gut findet, worüber er mit seinen Freunden spricht, welche Musik er hört oder welche Plakate er an die Wand in seiner Wohnung hängt.
„Das Herz irrt sich nie. Niemals irrt sich das Herz.“
Doch es gibt etwas, was aus dem scheuen und stummen Karl Ove jemanden macht, der drauflos plaudert, ohne sich selbst zu sezieren: der Alkohol. Dass in der Studentenstadt Bergen sowieso gut getrunken wird, ist klar. Bei Knausgård holt dieses Besaufen ab einem bestimmten Punkt etwas aus ihm heraus – oder lässt es frei –, das selbst seinem Bruder und den Freunden unheimlich wird. Karl Ove tickt aus, ist nicht mehr zu kontrollieren, wird auch körperlich gewalttätig und greift einmal sogar seinen Bruder Yngve an, schmeißt ihm ein Glas an den Kopf. Was da aus ihm herausbricht, macht Angst – auch ihm. Aber er beschreibt es dennoch in all der Peinlichkeit. Genauso wie die Demütigung, dass die Frau, in die er sich verliebt hat, Ingvild, sich nicht für ihn, sondern für seinen Bruder entscheidet. Zuvor schreibt er noch, an Ingvild denkend:
„Man sieht es, man verliebt sich, und das ist wenig, gut möglich, dass man sagen kann, es ist wenig, aber es ist immer richtig. Das Herz irrt sich nie.
Das Herz irrt sich nie.
Niemals irrt sich das Herz.“
Ja, er wird sich wieder verlieben. Und er wird, mit viel zu viel Alkohol im Blut, fremdgehen und sich danach deswegen zerfleischen. Er wird seine erste Frau Tonje kennenlernen und heiraten. Zuvor Ängste ausstehen, ob sie auch wirklich ihn will und nicht wieder seinen Bruder. Das sitzt tief bei ihm, und als sich Tonje und Yngve an einem Abend in der Kneipe für Karl Oves Gefühl viel zu gut verstehen, zerschneidet er sich auf der Toilette der Kneipe das Gesicht:
„Doch es hörte nicht auf, es ging einfach so weiter, sie unterhielten sich, als gäbe es mich gar nicht, ich trank und wurde immer verzweifelter. Schließlich dachte ich, dass mir diese ganze Hölle scheißegal war. Zum Teufel mit dieser verdammten Scheiße. Ich sah ein zerbrochenes Bierglas auf dem Fußboden. Ich bückte mich, nahm eine Scherbe in die Hand, betrachtete mich im Spiegel. Ich zog die Scherbe über meine Wange. Ein roter Streifen wurde sichtbar, etwas Blut sickerte über den Rand. Ich wischte es fort, mehr kam nicht. Ich zog die Scherbe über die andere Wange, diesmal jedoch so fest ich konnte […]“
Schreiben ist fast wie träumen …
Gegen Ende des 800-Seiten-Buches geht diese Beziehung auseinander. Knausgård kämpft um seinen Platz im Leben, in der Liebe und natürlich auch im Schreiben. Die Schreibakademie jedenfalls tut Karl Ove nicht gut. Er will schließlich immer der Beste sein und spürt doch, dass er nicht an sein Innerstes herankommt, an seinen Kern. Alles, so wütet er, bleibe bei ihm an der Oberfläche und demnach sei das, was er schreibe, schlecht. Ob die Texte wirklich so schlecht waren, wie er behauptet, sei dahingestellt. Denn sein Zweifeln an sich selbst steht ihm immer im Weg. Auch heute noch sagt er von sich, dass er nicht glücklich ist. „Glück ist nichts für mich. Das ist ein Urkonflikt in mir, ich habe wenig Selbstvertrauen und ich denke, nichts was ich habe ist wertvoll.“ Glücklich ist er fast nur, wenn er beim Schreiben an diesen Punkt kommt, wo er sich selbst auflöst, sich vergisst, so erzählt er. „Es ist fast wie träumen.“
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2022Sein Spiegelbild
Er war Karl Ove Knausgårds Lehrer und ist noch immer der große Avantgardist der norwegischen Literatur: Eine Begegnung mit Jon Fosse.
Von Thomas David, Oslo
In "Träumen", dem fünften Band des autobiographischen Romanprojekts "Min Kamp", zeichnet Karl Ove Knausgård ein skizzenhaftes Porträt seines Lehrers Jon Fosse. Knausgård war im Sommer 1988 ins westnorwegische Bergen gezogen, um an der dortigen Akademie für Schreibkunst zu studieren. Fosse, der dort seit 1987 unterrichtete, war damals 28 Jahre alt. Er hatte bereits die Romane "Raudt, svart" und "Stengd gitar" sowie einen ersten Gedichtband veröffentlicht. Fosses Art, zu sprechen, war "zögernd, voller Pausen, Einschnitte, Räuspern, Schnauben und mitunter von einem plötzlichen, tiefen Atemholen unterbrochen", so Knausgård. Er strahlte Nervosität und Unruhe aus, aber was Fosse sagte, war von großer Selbstsicherheit erfüllt. Als er seine Studenten im Laufe der Zeit besser kennenlernte, erzählte er ihnen von seiner Kindheit in Strandebarm, einer kleinen Gemeinde am Ufer des Hardangerfjords, und sagte, so Knausgård, "in einer bestimmten Phase hätte er unter Umständen zu einem Straßenjungen werden können".
Der im September 1959 als Sohn eines Obstbauern geborene Fosse ist in der Tat erfüllt von den Erinnerungen an seine Kindheit, den Stimmungen der Landschaft, dem Klang des westnorwegischen Dialekts. In "Der andere Name", "Ich ist ein anderer" und "Ein neuer Name", den drei Bänden seines seit 2015 entstandenen, in der Originalausgabe mehr als 1200 Seiten langen Romans "Heptalogie", erkundet er auf eindringliche und zutiefst persönliche Weise die Möglichkeiten eines anderen Lebens.
"Ich schreibe immer aus der Landschaft, in der ich aufgewachsen bin", sagt Jon Fosse. "Ich kann dieser Landschaft nicht entkommen und vermisse sie, wenn ich hier in Oslo bin oder in unserer Wohnung in Hainburg an der Donau, wo ich 'Heptalogie' geschrieben habe. Ich vermisse das Meer und die Berge, das Wetter, den Regen." An einem sonnigen Nachmittag im Januar sitzt Fosse im "Kaffistova", dem Restaurant eines im Herzen von Oslo gelegenen Hotels, und erzählt von der Arbeit an seinem Roman, dessen zweiter Band dieser Tage in deutscher Übersetzung erscheint. Er trägt eine dunkle Hose, einen engen schwarzen Pullover, ein schwarzes Jackett. Er hat einen grauen, am Hals leicht flusigen Bart, ein blasses rundes Gesicht; seine langen grauen Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden. Fosse sieht aus wie Asle, der verwitwete Maler, der in "Heptalogie" seinem Doppelgänger begegnet, einem anderen Mann namens Asle, der ebenfalls Maler ist. Aus Furcht, zu spät zu kommen, war Fosse fast eine halbe Stunde zu früh zum verabredeten Termin erschienen und hatte sich ganz hinten im Lokal an einen Tisch beim Fenster gesetzt, den Rücken zur Wand. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee.
Er sagt: "Wir lebten mit Blick auf den Fjord, auch der Schulweg führte direkt am Wasser entlang. Auf meine ganz eigene Weise war ich ein sehr empfindsames Kind, sodass mich der unablässige Rhythmus der Wellen bereits geprägt hatte, als ich im Alter von zwölf Jahren mit dem Schreiben begann." Er erzählt, wie er sich 2015 auf Einladung der Nachkommen Paul Claudels im Château de Brangues aufhielt, dem östlich von Lyon gelegenen Schloss des 1955 verstorbenen französischen Schriftstellers, wo Fosse sich an einem heißen Sommertag an seinen Laptop setzte und die ersten Seiten von "Der andere Name" schrieb, auf denen Asle in einem gerade vollendeten Gemälde "eine Art leuchtende Dunkelheit" erkennt, "ein unsichtbares Licht". Er erzählt von dem bereits kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag gefassten Entschluss, nach den beinahe zwei Jahrzehnten, in denen er vor allem fürs Theater geschrieben hatte und für Stücke wie "Da kommt noch wer", "Der Name" oder "Die Nacht singt ihre Lieder" als "Beckett des 21. Jahrhunderts" gefeiert wurde, zu seinen Ursprüngen als Prosaautor zurückzukehren.
Der norwegische Staat verlieh Jon Fosse in dieser Zeit das lebenslange Wohnrecht in "Grotten", einem zuvor von dem Komponisten Arne Nordheim bewohnten Haus am Rande des Schlossparks von Oslo. Er erlitt einen Zusammenbruch, fiel ins Delirium und hörte anschließend mit dem Trinken auf. Nachdem er bereits als Sechzehnjähriger aus der lutherischen Staatskirche ausgetreten und Quäker geworden war, konvertierte er zum Katholizismus. Er lernte seine heutige Frau kennen, der "Heptalogie" gewidmet ist, und wurde zum vierten Mal Vater.
Wenn Fosse spricht, hat es den Anschein großer Dringlichkeit. Dem von Knausgård gezeichneten Bild ähnelt er an diesem Nachmittag vor allem dann, wenn er für einen gedehnten Augenblick in einen tiefen Atemzug abzutauchen scheint. Er sagt: "Ich trage einen Schmerz in mir, den ich mir nicht erklären kann. Das Schreiben ist für mich ein Weg, die Dunkelheit zu vertreiben." Er sagt: "Auch das Trinken war in erster Linie eine Art Selbstmedikation, um mit meiner depressiven Seite klarzukommen." Als er das Delirium überwunden hatte und nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, hat sein Sohn Fosses Flaschensammlung an Freunde verschenkt. "Es braucht Zeit, sich von einem solchen Erlebnis zu erholen, und ohne ärztliche Hilfe hätte ich es nicht geschafft", so Fosse. "Aber unmittelbar nach meinem Zusammenbruch hatte ich Angst, zu schreiben, weil man sich beim Schreiben dem Unbekannten überlassen muss. Ich hatte mich so weit von mir selbst entfernt, dass ich erst wieder Fuß fassen musste, bevor ich es wagen konnte, ein anderes Universum zu betreten."
Jon Fosse blickt aus dem Fenster. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, im Fensterglas spiegelt sich das Gesicht des Schriftstellers. "Ich hatte gewissermaßen genug mit meinem eigenen Universum zu tun, bis ich mich irgendwann wieder stark genug fühlte und dann im Sommer 2015 mit dem Schreiben von 'Heptalogie' begann." Er sieht vor sich hin, in seinem Blick liegt etwas Fragendes. "Aber natürlich bin es nicht ich, der diesen Roman geschrieben hat", sagt er. "Ich kann nicht behaupten, dass Gott ihn geschrieben hat, aber gewiss etwas, das außerhalb meiner selbst existiert. Was mag das sein? Es wird ein wenig unheimlich, sobald man beginnt, auf diese Weise darüber nachzudenken."
Fosse erzählt von den Bildern, die er als Jugendlicher malte und später zerstörte; von der Zeit, in der er im Jugendklub von Strandebarm ungelenkt mit einer E-Gitarre auf der Bühne stand, bis er als Sechzehnjähriger die Band verließ und begann, seine Musikalität beim Schreiben auszuleben. Er erzählt von der tiefen Stille, die mit "starker, wahrer Stimme" aus Mark Rothkos Gemälden spreche und ihn 2019 beim Besuch einer Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien vollkommen überwältigt habe. Er erzählt von seiner neunjährigen Tochter, der er später noch bei den Hausaufgaben helfen müsse. In "Ich ist ein anderer" setzt Fosse die mit "Der andere Name" begonnene Meditation fort und erzählt, wie Asle abermals vor seinem gerade fertiggestellten Gemälde steht. In fließenden, stetig wiederkehrenden Bewegungen von Fosses melodiöser, von keinem einzigen Punkt aufgehaltener Prosa dringt er in immer tiefere Ebenen seiner Selbstbegegnung vor. Jon Fosse sagt, er sei ein "mystischer Realist". In "Ich ist ein anderer" erzählt er, wie der in der Abgeschiedenheit seines Hauses an der westnorwegischen Küste lebende Asle, für den das Malen zeitlebens eine stille Andacht war, "ein Dienst an Gottes Reich", zunehmend von dem beunruhigenden Gefühl erfasst wird, er habe in seinen Bildern alles gesagt, was er zu sagen habe, und könne seinem Werk nichts mehr hinzufügen.
Er erzählt, wie Asle nach Bjørgvin fährt, der eine längere Autofahrt entfernten Stadt, um seinem Galeristen Bilder für die bevorstehende Weihnachtsausstellung zu bringen und dann im Krankenhaus vorbeizuschauen, um den anderen Mann namens Asle zu besuchen, seinen dem Alkohol verfallenen Doppelgänger, den er zwei Tage zuvor bewusstlos im Schnee gefunden hatte. Die überschaubare, über viele Seiten ruhig dahinfließende Handlung der an sieben Tagen vor Weihnachten spielenden "Heptalogie" verbindet sich auch in "Ich ist ein anderer" nahtlos mit Asles Nachdenken über die profanen und die spirituellen Aspekte des Lebens, seinen Erinnerungen und Vorstellungen. Den Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an die erste Zigarette, die er im Bootshaus des Vaters rauchte, an den frühen Tod seiner Schwester. Den Erinnerungen an die erste Ausstellung seiner Bilder im Jugendklub des Dorfes, an die ersten Begegnungen mit seinem Galeristen und mit seiner späteren Frau, die Asle in der Vorstellung ebenso leibhaftig vor sich sieht wie sein eigenes früheres Ich und den anderen Mann namens Asle, der im Krankenhaus zitternd im Delirium liegt.
Mit seiner introvertierten, kontemplativen Prosa, deren Lektüre ein intensives Erlebnis ist, erschafft Jon Fosse einen schwebenden Ort der Stille, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen und Asles Leben wie ein einziger der Zeit enthobener Augenblick erscheint. Als Asle sich in "Ich ist ein anderer" an die erste, beinahe fünf Jahrzehnte zurückliegende Begegnung mit dem anderen Mann namens Asle erinnert, sieht er ihn im Speisesaal eines Hotels an einem Tisch ganz hinten beim Fenster sitzen, den Rücken zur Wand. Er hat wie Asle lange braune Haare, trägt wie Asle eine schwarze Cordjacke und sieht auch sonst genauso aus wie er selbst. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee.
"Was ich im Spiegel meines Romans von mir selbst sehe?" Fosse lehnt sich zurück. Der Pullover ist ein wenig hochgerutscht; er hat einen blassen, untrainierten Bauch. "Ich sehe, dass Asle einige der Bilder loswerden will, die er in sich trägt. Aber um sich ihrer zu entledigen", sagt Fosse, "kann er sie nicht malen, wie sie sind. Er muss sie verändern. Etwas muss gleich bleiben, aber das Wesentliche, die Transformation, muss etwas anderes sein. Das ist es, was ich sehe. Meine Ähnlichkeit mit Asle ist rein äußerlich, beim Rest handelt es sich um die Transformation von vielem, das ich erlebt habe." Fosse blickt auf die Uhr. Später tritt er aus dem "Kaffistova" hinaus auf die Straße und geht die Kristian IV gate entlang Richtung Schlosspark. "Diese Transformation", sagt er, "der Vorgang, den Dingen Form und Flow zu geben, eine Transzendenz, bedeutet für mich, etwas herstellen, das ich Kunst nennen kann. Etwas, das es mir mehr oder weniger möglich macht zu leben."
Er geht an Det Norske Teatret vorbei, einem auf Inszenierungen in dem insbesondere aus westnorwegischen Dialekten hervorgegangenen Nynorsk spezialisierten Theater, in dem im vergangenen September auch Jon Fosses neues Stück "Starker Wind" uraufgeführt wurde. "Ich hatte schon als Kind, was man eine 'Künstlerseele' nennt", sagt er, "aber es gibt natürlich viele Menschen, die eine solche Seele in sich tragen und dennoch nicht Künstler geworden sind." Er passiert das ehemalige Gebäude der Nationalgalerie, in dem ihm ehedem vor einem von Lars Hertervigs Gemälden Tränen in die Augen gestiegen sind. "Auch ich hätte ein anderes Leben führen und mich vielleicht irgendwie mit der Gitarre als Musiker durchschlagen können", sagt er. "Als ich mit dem Schreiben anfing, konnte ich mir jedenfalls nicht vorstellen, Schriftsteller zu werden. Nein, das kam mir vor wie etwas, das zu groß für mich war. Ich hätte vielleicht Journalist bei einer Lokalzeitung werden können."
Er überquert die Frederiks gate und geht schließlich am Rand des Schlossparks die leicht ansteigende Wergelandsveien hinauf. "Ich hätte mit Drogen in Kontakt kommen können", sagt er, "aber ich hatte Glück und kannte Leute, die mit Drogen zu tun hatten, sodass ich Angst davor hatte und schließlich der Alkohol zu meiner einzigen Droge wurde." In einer bestimmten Phase des Lebens hätte Fosse Straßenjunge werden können.
An der Akademie für Schreibkunst unterrichtete er nur wenige Jahre. "Es gibt so viele unterschiedliche Wege", sagt er, "so viele Möglichkeiten." In "Heptalogie" umkreist er die beiden Männer namens Asle, deren Gedanken sich immer wieder wechselseitig durchdringen und die Erzählung wie die Schleife eines Möbiusbandes wirken lassen, dessen Drehung den Unterschied zwischen der Innen- und Außenperspektive beider Figuren aufhebt, die in Fosses Roman schließlich keine festen, voneinander abgegrenzten Identitäten mehr haben und im Kontinuum ihrer ineinanderlaufenden Gedanken auch die auktoriale Instanz des allwissenden Erzählers auflösen, der bei Fosse ein sich behutsam ins Ungewisse vortastender Schreibender ist.
"Das Schreiben bot mir einen Schutz vor der Welt, und das tut es noch immer", sagt Jon Fosse. "Es verbindet mich einerseits mit der Welt und bietet mir Zuflucht." Er geht an dem über einem ehemaligen Steinbruch aufgeschütteten Hügel vorbei, auf dem das kleine Haus steht, in dem er während des Schuljahres mit seiner Frau und den beiden Töchtern wohnt. An der Westküste, wo Fosse nördlich von Bergen eine weitere Wohnung hat, herrscht gerade starker Sturm. "Als ich mit dem Schreiben begann", sagt er, "habe ich einen geheimen Ort in mir entdeckt. Ich kann nicht viel über ihn sagen und versuche nicht mehr, ihn mir zu erklären. Aber dieser geheime Ort existiert noch immer." Er steht am Fuß von "Grotten" in der Dunkelheit. Dann geht er zum Haus hinauf, den hell erleuchteten Fenstern entgegen.
Jon Fosses Roman "Ich ist ein anderer", der Mittelteil von "Heptalogie", ist in Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel gerade beim Rowohlt-Verlag erschienen.
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Er war Karl Ove Knausgårds Lehrer und ist noch immer der große Avantgardist der norwegischen Literatur: Eine Begegnung mit Jon Fosse.
Von Thomas David, Oslo
In "Träumen", dem fünften Band des autobiographischen Romanprojekts "Min Kamp", zeichnet Karl Ove Knausgård ein skizzenhaftes Porträt seines Lehrers Jon Fosse. Knausgård war im Sommer 1988 ins westnorwegische Bergen gezogen, um an der dortigen Akademie für Schreibkunst zu studieren. Fosse, der dort seit 1987 unterrichtete, war damals 28 Jahre alt. Er hatte bereits die Romane "Raudt, svart" und "Stengd gitar" sowie einen ersten Gedichtband veröffentlicht. Fosses Art, zu sprechen, war "zögernd, voller Pausen, Einschnitte, Räuspern, Schnauben und mitunter von einem plötzlichen, tiefen Atemholen unterbrochen", so Knausgård. Er strahlte Nervosität und Unruhe aus, aber was Fosse sagte, war von großer Selbstsicherheit erfüllt. Als er seine Studenten im Laufe der Zeit besser kennenlernte, erzählte er ihnen von seiner Kindheit in Strandebarm, einer kleinen Gemeinde am Ufer des Hardangerfjords, und sagte, so Knausgård, "in einer bestimmten Phase hätte er unter Umständen zu einem Straßenjungen werden können".
Der im September 1959 als Sohn eines Obstbauern geborene Fosse ist in der Tat erfüllt von den Erinnerungen an seine Kindheit, den Stimmungen der Landschaft, dem Klang des westnorwegischen Dialekts. In "Der andere Name", "Ich ist ein anderer" und "Ein neuer Name", den drei Bänden seines seit 2015 entstandenen, in der Originalausgabe mehr als 1200 Seiten langen Romans "Heptalogie", erkundet er auf eindringliche und zutiefst persönliche Weise die Möglichkeiten eines anderen Lebens.
"Ich schreibe immer aus der Landschaft, in der ich aufgewachsen bin", sagt Jon Fosse. "Ich kann dieser Landschaft nicht entkommen und vermisse sie, wenn ich hier in Oslo bin oder in unserer Wohnung in Hainburg an der Donau, wo ich 'Heptalogie' geschrieben habe. Ich vermisse das Meer und die Berge, das Wetter, den Regen." An einem sonnigen Nachmittag im Januar sitzt Fosse im "Kaffistova", dem Restaurant eines im Herzen von Oslo gelegenen Hotels, und erzählt von der Arbeit an seinem Roman, dessen zweiter Band dieser Tage in deutscher Übersetzung erscheint. Er trägt eine dunkle Hose, einen engen schwarzen Pullover, ein schwarzes Jackett. Er hat einen grauen, am Hals leicht flusigen Bart, ein blasses rundes Gesicht; seine langen grauen Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden. Fosse sieht aus wie Asle, der verwitwete Maler, der in "Heptalogie" seinem Doppelgänger begegnet, einem anderen Mann namens Asle, der ebenfalls Maler ist. Aus Furcht, zu spät zu kommen, war Fosse fast eine halbe Stunde zu früh zum verabredeten Termin erschienen und hatte sich ganz hinten im Lokal an einen Tisch beim Fenster gesetzt, den Rücken zur Wand. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee.
Er sagt: "Wir lebten mit Blick auf den Fjord, auch der Schulweg führte direkt am Wasser entlang. Auf meine ganz eigene Weise war ich ein sehr empfindsames Kind, sodass mich der unablässige Rhythmus der Wellen bereits geprägt hatte, als ich im Alter von zwölf Jahren mit dem Schreiben begann." Er erzählt, wie er sich 2015 auf Einladung der Nachkommen Paul Claudels im Château de Brangues aufhielt, dem östlich von Lyon gelegenen Schloss des 1955 verstorbenen französischen Schriftstellers, wo Fosse sich an einem heißen Sommertag an seinen Laptop setzte und die ersten Seiten von "Der andere Name" schrieb, auf denen Asle in einem gerade vollendeten Gemälde "eine Art leuchtende Dunkelheit" erkennt, "ein unsichtbares Licht". Er erzählt von dem bereits kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag gefassten Entschluss, nach den beinahe zwei Jahrzehnten, in denen er vor allem fürs Theater geschrieben hatte und für Stücke wie "Da kommt noch wer", "Der Name" oder "Die Nacht singt ihre Lieder" als "Beckett des 21. Jahrhunderts" gefeiert wurde, zu seinen Ursprüngen als Prosaautor zurückzukehren.
Der norwegische Staat verlieh Jon Fosse in dieser Zeit das lebenslange Wohnrecht in "Grotten", einem zuvor von dem Komponisten Arne Nordheim bewohnten Haus am Rande des Schlossparks von Oslo. Er erlitt einen Zusammenbruch, fiel ins Delirium und hörte anschließend mit dem Trinken auf. Nachdem er bereits als Sechzehnjähriger aus der lutherischen Staatskirche ausgetreten und Quäker geworden war, konvertierte er zum Katholizismus. Er lernte seine heutige Frau kennen, der "Heptalogie" gewidmet ist, und wurde zum vierten Mal Vater.
Wenn Fosse spricht, hat es den Anschein großer Dringlichkeit. Dem von Knausgård gezeichneten Bild ähnelt er an diesem Nachmittag vor allem dann, wenn er für einen gedehnten Augenblick in einen tiefen Atemzug abzutauchen scheint. Er sagt: "Ich trage einen Schmerz in mir, den ich mir nicht erklären kann. Das Schreiben ist für mich ein Weg, die Dunkelheit zu vertreiben." Er sagt: "Auch das Trinken war in erster Linie eine Art Selbstmedikation, um mit meiner depressiven Seite klarzukommen." Als er das Delirium überwunden hatte und nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, hat sein Sohn Fosses Flaschensammlung an Freunde verschenkt. "Es braucht Zeit, sich von einem solchen Erlebnis zu erholen, und ohne ärztliche Hilfe hätte ich es nicht geschafft", so Fosse. "Aber unmittelbar nach meinem Zusammenbruch hatte ich Angst, zu schreiben, weil man sich beim Schreiben dem Unbekannten überlassen muss. Ich hatte mich so weit von mir selbst entfernt, dass ich erst wieder Fuß fassen musste, bevor ich es wagen konnte, ein anderes Universum zu betreten."
Jon Fosse blickt aus dem Fenster. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, im Fensterglas spiegelt sich das Gesicht des Schriftstellers. "Ich hatte gewissermaßen genug mit meinem eigenen Universum zu tun, bis ich mich irgendwann wieder stark genug fühlte und dann im Sommer 2015 mit dem Schreiben von 'Heptalogie' begann." Er sieht vor sich hin, in seinem Blick liegt etwas Fragendes. "Aber natürlich bin es nicht ich, der diesen Roman geschrieben hat", sagt er. "Ich kann nicht behaupten, dass Gott ihn geschrieben hat, aber gewiss etwas, das außerhalb meiner selbst existiert. Was mag das sein? Es wird ein wenig unheimlich, sobald man beginnt, auf diese Weise darüber nachzudenken."
Fosse erzählt von den Bildern, die er als Jugendlicher malte und später zerstörte; von der Zeit, in der er im Jugendklub von Strandebarm ungelenkt mit einer E-Gitarre auf der Bühne stand, bis er als Sechzehnjähriger die Band verließ und begann, seine Musikalität beim Schreiben auszuleben. Er erzählt von der tiefen Stille, die mit "starker, wahrer Stimme" aus Mark Rothkos Gemälden spreche und ihn 2019 beim Besuch einer Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien vollkommen überwältigt habe. Er erzählt von seiner neunjährigen Tochter, der er später noch bei den Hausaufgaben helfen müsse. In "Ich ist ein anderer" setzt Fosse die mit "Der andere Name" begonnene Meditation fort und erzählt, wie Asle abermals vor seinem gerade fertiggestellten Gemälde steht. In fließenden, stetig wiederkehrenden Bewegungen von Fosses melodiöser, von keinem einzigen Punkt aufgehaltener Prosa dringt er in immer tiefere Ebenen seiner Selbstbegegnung vor. Jon Fosse sagt, er sei ein "mystischer Realist". In "Ich ist ein anderer" erzählt er, wie der in der Abgeschiedenheit seines Hauses an der westnorwegischen Küste lebende Asle, für den das Malen zeitlebens eine stille Andacht war, "ein Dienst an Gottes Reich", zunehmend von dem beunruhigenden Gefühl erfasst wird, er habe in seinen Bildern alles gesagt, was er zu sagen habe, und könne seinem Werk nichts mehr hinzufügen.
Er erzählt, wie Asle nach Bjørgvin fährt, der eine längere Autofahrt entfernten Stadt, um seinem Galeristen Bilder für die bevorstehende Weihnachtsausstellung zu bringen und dann im Krankenhaus vorbeizuschauen, um den anderen Mann namens Asle zu besuchen, seinen dem Alkohol verfallenen Doppelgänger, den er zwei Tage zuvor bewusstlos im Schnee gefunden hatte. Die überschaubare, über viele Seiten ruhig dahinfließende Handlung der an sieben Tagen vor Weihnachten spielenden "Heptalogie" verbindet sich auch in "Ich ist ein anderer" nahtlos mit Asles Nachdenken über die profanen und die spirituellen Aspekte des Lebens, seinen Erinnerungen und Vorstellungen. Den Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an die erste Zigarette, die er im Bootshaus des Vaters rauchte, an den frühen Tod seiner Schwester. Den Erinnerungen an die erste Ausstellung seiner Bilder im Jugendklub des Dorfes, an die ersten Begegnungen mit seinem Galeristen und mit seiner späteren Frau, die Asle in der Vorstellung ebenso leibhaftig vor sich sieht wie sein eigenes früheres Ich und den anderen Mann namens Asle, der im Krankenhaus zitternd im Delirium liegt.
Mit seiner introvertierten, kontemplativen Prosa, deren Lektüre ein intensives Erlebnis ist, erschafft Jon Fosse einen schwebenden Ort der Stille, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen und Asles Leben wie ein einziger der Zeit enthobener Augenblick erscheint. Als Asle sich in "Ich ist ein anderer" an die erste, beinahe fünf Jahrzehnte zurückliegende Begegnung mit dem anderen Mann namens Asle erinnert, sieht er ihn im Speisesaal eines Hotels an einem Tisch ganz hinten beim Fenster sitzen, den Rücken zur Wand. Er hat wie Asle lange braune Haare, trägt wie Asle eine schwarze Cordjacke und sieht auch sonst genauso aus wie er selbst. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee.
"Was ich im Spiegel meines Romans von mir selbst sehe?" Fosse lehnt sich zurück. Der Pullover ist ein wenig hochgerutscht; er hat einen blassen, untrainierten Bauch. "Ich sehe, dass Asle einige der Bilder loswerden will, die er in sich trägt. Aber um sich ihrer zu entledigen", sagt Fosse, "kann er sie nicht malen, wie sie sind. Er muss sie verändern. Etwas muss gleich bleiben, aber das Wesentliche, die Transformation, muss etwas anderes sein. Das ist es, was ich sehe. Meine Ähnlichkeit mit Asle ist rein äußerlich, beim Rest handelt es sich um die Transformation von vielem, das ich erlebt habe." Fosse blickt auf die Uhr. Später tritt er aus dem "Kaffistova" hinaus auf die Straße und geht die Kristian IV gate entlang Richtung Schlosspark. "Diese Transformation", sagt er, "der Vorgang, den Dingen Form und Flow zu geben, eine Transzendenz, bedeutet für mich, etwas herstellen, das ich Kunst nennen kann. Etwas, das es mir mehr oder weniger möglich macht zu leben."
Er geht an Det Norske Teatret vorbei, einem auf Inszenierungen in dem insbesondere aus westnorwegischen Dialekten hervorgegangenen Nynorsk spezialisierten Theater, in dem im vergangenen September auch Jon Fosses neues Stück "Starker Wind" uraufgeführt wurde. "Ich hatte schon als Kind, was man eine 'Künstlerseele' nennt", sagt er, "aber es gibt natürlich viele Menschen, die eine solche Seele in sich tragen und dennoch nicht Künstler geworden sind." Er passiert das ehemalige Gebäude der Nationalgalerie, in dem ihm ehedem vor einem von Lars Hertervigs Gemälden Tränen in die Augen gestiegen sind. "Auch ich hätte ein anderes Leben führen und mich vielleicht irgendwie mit der Gitarre als Musiker durchschlagen können", sagt er. "Als ich mit dem Schreiben anfing, konnte ich mir jedenfalls nicht vorstellen, Schriftsteller zu werden. Nein, das kam mir vor wie etwas, das zu groß für mich war. Ich hätte vielleicht Journalist bei einer Lokalzeitung werden können."
Er überquert die Frederiks gate und geht schließlich am Rand des Schlossparks die leicht ansteigende Wergelandsveien hinauf. "Ich hätte mit Drogen in Kontakt kommen können", sagt er, "aber ich hatte Glück und kannte Leute, die mit Drogen zu tun hatten, sodass ich Angst davor hatte und schließlich der Alkohol zu meiner einzigen Droge wurde." In einer bestimmten Phase des Lebens hätte Fosse Straßenjunge werden können.
An der Akademie für Schreibkunst unterrichtete er nur wenige Jahre. "Es gibt so viele unterschiedliche Wege", sagt er, "so viele Möglichkeiten." In "Heptalogie" umkreist er die beiden Männer namens Asle, deren Gedanken sich immer wieder wechselseitig durchdringen und die Erzählung wie die Schleife eines Möbiusbandes wirken lassen, dessen Drehung den Unterschied zwischen der Innen- und Außenperspektive beider Figuren aufhebt, die in Fosses Roman schließlich keine festen, voneinander abgegrenzten Identitäten mehr haben und im Kontinuum ihrer ineinanderlaufenden Gedanken auch die auktoriale Instanz des allwissenden Erzählers auflösen, der bei Fosse ein sich behutsam ins Ungewisse vortastender Schreibender ist.
"Das Schreiben bot mir einen Schutz vor der Welt, und das tut es noch immer", sagt Jon Fosse. "Es verbindet mich einerseits mit der Welt und bietet mir Zuflucht." Er geht an dem über einem ehemaligen Steinbruch aufgeschütteten Hügel vorbei, auf dem das kleine Haus steht, in dem er während des Schuljahres mit seiner Frau und den beiden Töchtern wohnt. An der Westküste, wo Fosse nördlich von Bergen eine weitere Wohnung hat, herrscht gerade starker Sturm. "Als ich mit dem Schreiben begann", sagt er, "habe ich einen geheimen Ort in mir entdeckt. Ich kann nicht viel über ihn sagen und versuche nicht mehr, ihn mir zu erklären. Aber dieser geheime Ort existiert noch immer." Er steht am Fuß von "Grotten" in der Dunkelheit. Dann geht er zum Haus hinauf, den hell erleuchteten Fenstern entgegen.
Jon Fosses Roman "Ich ist ein anderer", der Mittelteil von "Heptalogie", ist in Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel gerade beim Rowohlt-Verlag erschienen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Felicitas von Lovenberg begreift den fünften Band von Karl Ove Knausgards autobiografischem Mammutprojekt als Einladung zur Hingabe. Für sie die Bedingung, um vom Erzählstrom mitgerissen zu werden. Also Smartphone beiseite, rät Lovenberg, und eingelassen auf die schiere Monumentalität und das Identifikationangebot des Autors, wenn er das Gewöhnlichste in aller Ausführlichkeit schildert. Der Gewinn besteht laut Rezensentin in einer Nähe zur menschlichen Seele, im verstörenden Erfahren menschlicher Verfasstheit, das durch die Größe des Projekts überhaupt erst erträglich wird, wie Lovenberg findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Das gehört zum Großartigsten an Literatur, was zur Zeit geschrieben wird." Juli Zeh / ZDF - Das Literarische Quartett