14 Jahre verbrachte Knausgård in Bergen, bevor er aus der norwegischen Küstenstadt regelrecht nach Stockholm floh, als ginge es ins Exil. Es waren Jahre, in denen er so unermüdlich wie erfolglos versuchte, Schriftsteller zu werden, in denen schließlich seine erste Ehe scheiterte, in denen sich Momente kurzer Glückgefühle mit jenen tiefster Selbstverachtung die Hand gaben, in denen sich Demütigungen und Höhenräusche ebenso schnell abwechselten wie selbstzerstörerische Alkoholexzesse und erste künstlerische Erfolge. Dabei hatte es am Anfang so gut ausgesehen, dieses Leben in Bergen. Dem jungen Knausgård schien die Welt offenzustehen, all seine Träume schienen sich zu erfüllen. Er hatte einen Studienplatz an der Akademie für Schreibkunst bekommen, endlich eine Freundin gefunden ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2022Sein Spiegelbild
Er war Karl Ove Knausgårds Lehrer und ist noch immer der große Avantgardist der norwegischen Literatur: Eine Begegnung mit Jon Fosse.
Von Thomas David, Oslo
In "Träumen", dem fünften Band des autobiographischen Romanprojekts "Min Kamp", zeichnet Karl Ove Knausgård ein skizzenhaftes Porträt seines Lehrers Jon Fosse. Knausgård war im Sommer 1988 ins westnorwegische Bergen gezogen, um an der dortigen Akademie für Schreibkunst zu studieren. Fosse, der dort seit 1987 unterrichtete, war damals 28 Jahre alt. Er hatte bereits die Romane "Raudt, svart" und "Stengd gitar" sowie einen ersten Gedichtband veröffentlicht. Fosses Art, zu sprechen, war "zögernd, voller Pausen, Einschnitte, Räuspern, Schnauben und mitunter von einem plötzlichen, tiefen Atemholen unterbrochen", so Knausgård. Er strahlte Nervosität und Unruhe aus, aber was Fosse sagte, war von großer Selbstsicherheit erfüllt. Als er seine Studenten im Laufe der Zeit besser kennenlernte, erzählte er ihnen von seiner Kindheit in Strandebarm, einer kleinen Gemeinde am Ufer des Hardangerfjords, und sagte, so Knausgård, "in einer bestimmten Phase hätte er unter Umständen zu einem Straßenjungen werden können".
Der im September 1959 als Sohn eines Obstbauern geborene Fosse ist in der Tat erfüllt von den Erinnerungen an seine Kindheit, den Stimmungen der Landschaft, dem Klang des westnorwegischen Dialekts. In "Der andere Name", "Ich ist ein anderer" und "Ein neuer Name", den drei Bänden seines seit 2015 entstandenen, in der Originalausgabe mehr als 1200 Seiten langen Romans "Heptalogie", erkundet er auf eindringliche und zutiefst persönliche Weise die Möglichkeiten eines anderen Lebens.
"Ich schreibe immer aus der Landschaft, in der ich aufgewachsen bin", sagt Jon Fosse. "Ich kann dieser Landschaft nicht entkommen und vermisse sie, wenn ich hier in Oslo bin oder in unserer Wohnung in Hainburg an der Donau, wo ich 'Heptalogie' geschrieben habe. Ich vermisse das Meer und die Berge, das Wetter, den Regen." An einem sonnigen Nachmittag im Januar sitzt Fosse im "Kaffistova", dem Restaurant eines im Herzen von Oslo gelegenen Hotels, und erzählt von der Arbeit an seinem Roman, dessen zweiter Band dieser Tage in deutscher Übersetzung erscheint. Er trägt eine dunkle Hose, einen engen schwarzen Pullover, ein schwarzes Jackett. Er hat einen grauen, am Hals leicht flusigen Bart, ein blasses rundes Gesicht; seine langen grauen Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden. Fosse sieht aus wie Asle, der verwitwete Maler, der in "Heptalogie" seinem Doppelgänger begegnet, einem anderen Mann namens Asle, der ebenfalls Maler ist. Aus Furcht, zu spät zu kommen, war Fosse fast eine halbe Stunde zu früh zum verabredeten Termin erschienen und hatte sich ganz hinten im Lokal an einen Tisch beim Fenster gesetzt, den Rücken zur Wand. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee.
Er sagt: "Wir lebten mit Blick auf den Fjord, auch der Schulweg führte direkt am Wasser entlang. Auf meine ganz eigene Weise war ich ein sehr empfindsames Kind, sodass mich der unablässige Rhythmus der Wellen bereits geprägt hatte, als ich im Alter von zwölf Jahren mit dem Schreiben begann." Er erzählt, wie er sich 2015 auf Einladung der Nachkommen Paul Claudels im Château de Brangues aufhielt, dem östlich von Lyon gelegenen Schloss des 1955 verstorbenen französischen Schriftstellers, wo Fosse sich an einem heißen Sommertag an seinen Laptop setzte und die ersten Seiten von "Der andere Name" schrieb, auf denen Asle in einem gerade vollendeten Gemälde "eine Art leuchtende Dunkelheit" erkennt, "ein unsichtbares Licht". Er erzählt von dem bereits kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag gefassten Entschluss, nach den beinahe zwei Jahrzehnten, in denen er vor allem fürs Theater geschrieben hatte und für Stücke wie "Da kommt noch wer", "Der Name" oder "Die Nacht singt ihre Lieder" als "Beckett des 21. Jahrhunderts" gefeiert wurde, zu seinen Ursprüngen als Prosaautor zurückzukehren.
Der norwegische Staat verlieh Jon Fosse in dieser Zeit das lebenslange Wohnrecht in "Grotten", einem zuvor von dem Komponisten Arne Nordheim bewohnten Haus am Rande des Schlossparks von Oslo. Er erlitt einen Zusammenbruch, fiel ins Delirium und hörte anschließend mit dem Trinken auf. Nachdem er bereits als Sechzehnjähriger aus der lutherischen Staatskirche ausgetreten und Quäker geworden war, konvertierte er zum Katholizismus. Er lernte seine heutige Frau kennen, der "Heptalogie" gewidmet ist, und wurde zum vierten Mal Vater.
Wenn Fosse spricht, hat es den Anschein großer Dringlichkeit. Dem von Knausgård gezeichneten Bild ähnelt er an diesem Nachmittag vor allem dann, wenn er für einen gedehnten Augenblick in einen tiefen Atemzug abzutauchen scheint. Er sagt: "Ich trage einen Schmerz in mir, den ich mir nicht erklären kann. Das Schreiben ist für mich ein Weg, die Dunkelheit zu vertreiben." Er sagt: "Auch das Trinken war in erster Linie eine Art Selbstmedikation, um mit meiner depressiven Seite klarzukommen." Als er das Delirium überwunden hatte und nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, hat sein Sohn Fosses Flaschensammlung an Freunde verschenkt. "Es braucht Zeit, sich von einem solchen Erlebnis zu erholen, und ohne ärztliche Hilfe hätte ich es nicht geschafft", so Fosse. "Aber unmittelbar nach meinem Zusammenbruch hatte ich Angst, zu schreiben, weil man sich beim Schreiben dem Unbekannten überlassen muss. Ich hatte mich so weit von mir selbst entfernt, dass ich erst wieder Fuß fassen musste, bevor ich es wagen konnte, ein anderes Universum zu betreten."
Jon Fosse blickt aus dem Fenster. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, im Fensterglas spiegelt sich das Gesicht des Schriftstellers. "Ich hatte gewissermaßen genug mit meinem eigenen Universum zu tun, bis ich mich irgendwann wieder stark genug fühlte und dann im Sommer 2015 mit dem Schreiben von 'Heptalogie' begann." Er sieht vor sich hin, in seinem Blick liegt etwas Fragendes. "Aber natürlich bin es nicht ich, der diesen Roman geschrieben hat", sagt er. "Ich kann nicht behaupten, dass Gott ihn geschrieben hat, aber gewiss etwas, das außerhalb meiner selbst existiert. Was mag das sein? Es wird ein wenig unheimlich, sobald man beginnt, auf diese Weise darüber nachzudenken."
Fosse erzählt von den Bildern, die er als Jugendlicher malte und später zerstörte; von der Zeit, in der er im Jugendklub von Strandebarm ungelenkt mit einer E-Gitarre auf der Bühne stand, bis er als Sechzehnjähriger die Band verließ und begann, seine Musikalität beim Schreiben auszuleben. Er erzählt von der tiefen Stille, die mit "starker, wahrer Stimme" aus Mark Rothkos Gemälden spreche und ihn 2019 beim Besuch einer Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien vollkommen überwältigt habe. Er erzählt von seiner neunjährigen Tochter, der er später noch bei den Hausaufgaben helfen müsse. In "Ich ist ein anderer" setzt Fosse die mit "Der andere Name" begonnene Meditation fort und erzählt, wie Asle abermals vor seinem gerade fertiggestellten Gemälde steht. In fließenden, stetig wiederkehrenden Bewegungen von Fosses melodiöser, von keinem einzigen Punkt aufgehaltener Prosa dringt er in immer tiefere Ebenen seiner Selbstbegegnung vor. Jon Fosse sagt, er sei ein "mystischer Realist". In "Ich ist ein anderer" erzählt er, wie der in der Abgeschiedenheit seines Hauses an der westnorwegischen Küste lebende Asle, für den das Malen zeitlebens eine stille Andacht war, "ein Dienst an Gottes Reich", zunehmend von dem beunruhigenden Gefühl erfasst wird, er habe in seinen Bildern alles gesagt, was er zu sagen habe, und könne seinem Werk nichts mehr hinzufügen.
Er erzählt, wie Asle nach Bjørgvin fährt, der eine längere Autofahrt entfernten Stadt, um seinem Galeristen Bilder für die bevorstehende Weihnachtsausstellung zu bringen und dann im Krankenhaus vorbeizuschauen, um den anderen Mann namens Asle zu besuchen, seinen dem Alkohol verfallenen Doppelgänger, den er zwei Tage zuvor bewusstlos im Schnee gefunden hatte. Die überschaubare, über viele Seiten ruhig dahinfließende Handlung der an sieben Tagen vor Weihnachten spielenden "Heptalogie" verbindet sich auch in "Ich ist ein anderer" nahtlos mit Asles Nachdenken über die profanen und die spirituellen Aspekte des Lebens, seinen Erinnerungen und Vorstellungen. Den Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an die erste Zigarette, die er im Bootshaus des Vaters rauchte, an den frühen Tod seiner Schwester. Den Erinnerungen an die erste Ausstellung seiner Bilder im Jugendklub des Dorfes, an die ersten Begegnungen mit seinem Galeristen und mit seiner späteren Frau, die Asle in der Vorstellung ebenso leibhaftig vor sich sieht wie sein eigenes früheres Ich und den anderen Mann namens Asle, der im Krankenhaus zitternd im Delirium liegt.
Mit seiner introvertierten, kontemplativen Prosa, deren Lektüre ein intensives Erlebnis ist, erschafft Jon Fosse einen schwebenden Ort der Stille, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen und Asles Leben wie ein einziger der Zeit enthobener Augenblick erscheint. Als Asle sich in "Ich ist ein anderer" an die erste, beinahe fünf Jahrzehnte zurückliegende Begegnung mit dem anderen Mann namens Asle erinnert, sieht er ihn im Speisesaal eines Hotels an einem Tisch ganz hinten beim Fenster sitzen, den Rücken zur Wand. Er hat wie Asle lange braune Haare, trägt wie Asle eine schwarze Cordjacke und sieht auch sonst genauso aus wie er selbst. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee.
"Was ich im Spiegel meines Romans von mir selbst sehe?" Fosse lehnt sich zurück. Der Pullover ist ein wenig hochgerutscht; er hat einen blassen, untrainierten Bauch. "Ich sehe, dass Asle einige der Bilder loswerden will, die er in sich trägt. Aber um sich ihrer zu entledigen", sagt Fosse, "kann er sie nicht malen, wie sie sind. Er muss sie verändern. Etwas muss gleich bleiben, aber das Wesentliche, die Transformation, muss etwas anderes sein. Das ist es, was ich sehe. Meine Ähnlichkeit mit Asle ist rein äußerlich, beim Rest handelt es sich um die Transformation von vielem, das ich erlebt habe." Fosse blickt auf die Uhr. Später tritt er aus dem "Kaffistova" hinaus auf die Straße und geht die Kristian IV gate entlang Richtung Schlosspark. "Diese Transformation", sagt er, "der Vorgang, den Dingen Form und Flow zu geben, eine Transzendenz, bedeutet für mich, etwas herstellen, das ich Kunst nennen kann. Etwas, das es mir mehr oder weniger möglich macht zu leben."
Er geht an Det Norske Teatret vorbei, einem auf Inszenierungen in dem insbesondere aus westnorwegischen Dialekten hervorgegangenen Nynorsk spezialisierten Theater, in dem im vergangenen September auch Jon Fosses neues Stück "Starker Wind" uraufgeführt wurde. "Ich hatte schon als Kind, was man eine 'Künstlerseele' nennt", sagt er, "aber es gibt natürlich viele Menschen, die eine solche Seele in sich tragen und dennoch nicht Künstler geworden sind." Er passiert das ehemalige Gebäude der Nationalgalerie, in dem ihm ehedem vor einem von Lars Hertervigs Gemälden Tränen in die Augen gestiegen sind. "Auch ich hätte ein anderes Leben führen und mich vielleicht irgendwie mit der Gitarre als Musiker durchschlagen können", sagt er. "Als ich mit dem Schreiben anfing, konnte ich mir jedenfalls nicht vorstellen, Schriftsteller zu werden. Nein, das kam mir vor wie etwas, das zu groß für mich war. Ich hätte vielleicht Journalist bei einer Lokalzeitung werden können."
Er überquert die Frederiks gate und geht schließlich am Rand des Schlossparks die leicht ansteigende Wergelandsveien hinauf. "Ich hätte mit Drogen in Kontakt kommen können", sagt er, "aber ich hatte Glück und kannte Leute, die mit Drogen zu tun hatten, sodass ich Angst davor hatte und schließlich der Alkohol zu meiner einzigen Droge wurde." In einer bestimmten Phase des Lebens hätte Fosse Straßenjunge werden können.
An der Akademie für Schreibkunst unterrichtete er nur wenige Jahre. "Es gibt so viele unterschiedliche Wege", sagt er, "so viele Möglichkeiten." In "Heptalogie" umkreist er die beiden Männer namens Asle, deren Gedanken sich immer wieder wechselseitig durchdringen und die Erzählung wie die Schleife eines Möbiusbandes wirken lassen, dessen Drehung den Unterschied zwischen der Innen- und Außenperspektive beider Figuren aufhebt, die in Fosses Roman schließlich keine festen, voneinander abgegrenzten Identitäten mehr haben und im Kontinuum ihrer ineinanderlaufenden Gedanken auch die auktoriale Instanz des allwissenden Erzählers auflösen, der bei Fosse ein sich behutsam ins Ungewisse vortastender Schreibender ist.
"Das Schreiben bot mir einen Schutz vor der Welt, und das tut es noch immer", sagt Jon Fosse. "Es verbindet mich einerseits mit der Welt und bietet mir Zuflucht." Er geht an dem über einem ehemaligen Steinbruch aufgeschütteten Hügel vorbei, auf dem das kleine Haus steht, in dem er während des Schuljahres mit seiner Frau und den beiden Töchtern wohnt. An der Westküste, wo Fosse nördlich von Bergen eine weitere Wohnung hat, herrscht gerade starker Sturm. "Als ich mit dem Schreiben begann", sagt er, "habe ich einen geheimen Ort in mir entdeckt. Ich kann nicht viel über ihn sagen und versuche nicht mehr, ihn mir zu erklären. Aber dieser geheime Ort existiert noch immer." Er steht am Fuß von "Grotten" in der Dunkelheit. Dann geht er zum Haus hinauf, den hell erleuchteten Fenstern entgegen.
Jon Fosses Roman "Ich ist ein anderer", der Mittelteil von "Heptalogie", ist in Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel gerade beim Rowohlt-Verlag erschienen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er war Karl Ove Knausgårds Lehrer und ist noch immer der große Avantgardist der norwegischen Literatur: Eine Begegnung mit Jon Fosse.
Von Thomas David, Oslo
In "Träumen", dem fünften Band des autobiographischen Romanprojekts "Min Kamp", zeichnet Karl Ove Knausgård ein skizzenhaftes Porträt seines Lehrers Jon Fosse. Knausgård war im Sommer 1988 ins westnorwegische Bergen gezogen, um an der dortigen Akademie für Schreibkunst zu studieren. Fosse, der dort seit 1987 unterrichtete, war damals 28 Jahre alt. Er hatte bereits die Romane "Raudt, svart" und "Stengd gitar" sowie einen ersten Gedichtband veröffentlicht. Fosses Art, zu sprechen, war "zögernd, voller Pausen, Einschnitte, Räuspern, Schnauben und mitunter von einem plötzlichen, tiefen Atemholen unterbrochen", so Knausgård. Er strahlte Nervosität und Unruhe aus, aber was Fosse sagte, war von großer Selbstsicherheit erfüllt. Als er seine Studenten im Laufe der Zeit besser kennenlernte, erzählte er ihnen von seiner Kindheit in Strandebarm, einer kleinen Gemeinde am Ufer des Hardangerfjords, und sagte, so Knausgård, "in einer bestimmten Phase hätte er unter Umständen zu einem Straßenjungen werden können".
Der im September 1959 als Sohn eines Obstbauern geborene Fosse ist in der Tat erfüllt von den Erinnerungen an seine Kindheit, den Stimmungen der Landschaft, dem Klang des westnorwegischen Dialekts. In "Der andere Name", "Ich ist ein anderer" und "Ein neuer Name", den drei Bänden seines seit 2015 entstandenen, in der Originalausgabe mehr als 1200 Seiten langen Romans "Heptalogie", erkundet er auf eindringliche und zutiefst persönliche Weise die Möglichkeiten eines anderen Lebens.
"Ich schreibe immer aus der Landschaft, in der ich aufgewachsen bin", sagt Jon Fosse. "Ich kann dieser Landschaft nicht entkommen und vermisse sie, wenn ich hier in Oslo bin oder in unserer Wohnung in Hainburg an der Donau, wo ich 'Heptalogie' geschrieben habe. Ich vermisse das Meer und die Berge, das Wetter, den Regen." An einem sonnigen Nachmittag im Januar sitzt Fosse im "Kaffistova", dem Restaurant eines im Herzen von Oslo gelegenen Hotels, und erzählt von der Arbeit an seinem Roman, dessen zweiter Band dieser Tage in deutscher Übersetzung erscheint. Er trägt eine dunkle Hose, einen engen schwarzen Pullover, ein schwarzes Jackett. Er hat einen grauen, am Hals leicht flusigen Bart, ein blasses rundes Gesicht; seine langen grauen Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden. Fosse sieht aus wie Asle, der verwitwete Maler, der in "Heptalogie" seinem Doppelgänger begegnet, einem anderen Mann namens Asle, der ebenfalls Maler ist. Aus Furcht, zu spät zu kommen, war Fosse fast eine halbe Stunde zu früh zum verabredeten Termin erschienen und hatte sich ganz hinten im Lokal an einen Tisch beim Fenster gesetzt, den Rücken zur Wand. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee.
Er sagt: "Wir lebten mit Blick auf den Fjord, auch der Schulweg führte direkt am Wasser entlang. Auf meine ganz eigene Weise war ich ein sehr empfindsames Kind, sodass mich der unablässige Rhythmus der Wellen bereits geprägt hatte, als ich im Alter von zwölf Jahren mit dem Schreiben begann." Er erzählt, wie er sich 2015 auf Einladung der Nachkommen Paul Claudels im Château de Brangues aufhielt, dem östlich von Lyon gelegenen Schloss des 1955 verstorbenen französischen Schriftstellers, wo Fosse sich an einem heißen Sommertag an seinen Laptop setzte und die ersten Seiten von "Der andere Name" schrieb, auf denen Asle in einem gerade vollendeten Gemälde "eine Art leuchtende Dunkelheit" erkennt, "ein unsichtbares Licht". Er erzählt von dem bereits kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag gefassten Entschluss, nach den beinahe zwei Jahrzehnten, in denen er vor allem fürs Theater geschrieben hatte und für Stücke wie "Da kommt noch wer", "Der Name" oder "Die Nacht singt ihre Lieder" als "Beckett des 21. Jahrhunderts" gefeiert wurde, zu seinen Ursprüngen als Prosaautor zurückzukehren.
Der norwegische Staat verlieh Jon Fosse in dieser Zeit das lebenslange Wohnrecht in "Grotten", einem zuvor von dem Komponisten Arne Nordheim bewohnten Haus am Rande des Schlossparks von Oslo. Er erlitt einen Zusammenbruch, fiel ins Delirium und hörte anschließend mit dem Trinken auf. Nachdem er bereits als Sechzehnjähriger aus der lutherischen Staatskirche ausgetreten und Quäker geworden war, konvertierte er zum Katholizismus. Er lernte seine heutige Frau kennen, der "Heptalogie" gewidmet ist, und wurde zum vierten Mal Vater.
Wenn Fosse spricht, hat es den Anschein großer Dringlichkeit. Dem von Knausgård gezeichneten Bild ähnelt er an diesem Nachmittag vor allem dann, wenn er für einen gedehnten Augenblick in einen tiefen Atemzug abzutauchen scheint. Er sagt: "Ich trage einen Schmerz in mir, den ich mir nicht erklären kann. Das Schreiben ist für mich ein Weg, die Dunkelheit zu vertreiben." Er sagt: "Auch das Trinken war in erster Linie eine Art Selbstmedikation, um mit meiner depressiven Seite klarzukommen." Als er das Delirium überwunden hatte und nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, hat sein Sohn Fosses Flaschensammlung an Freunde verschenkt. "Es braucht Zeit, sich von einem solchen Erlebnis zu erholen, und ohne ärztliche Hilfe hätte ich es nicht geschafft", so Fosse. "Aber unmittelbar nach meinem Zusammenbruch hatte ich Angst, zu schreiben, weil man sich beim Schreiben dem Unbekannten überlassen muss. Ich hatte mich so weit von mir selbst entfernt, dass ich erst wieder Fuß fassen musste, bevor ich es wagen konnte, ein anderes Universum zu betreten."
Jon Fosse blickt aus dem Fenster. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden, im Fensterglas spiegelt sich das Gesicht des Schriftstellers. "Ich hatte gewissermaßen genug mit meinem eigenen Universum zu tun, bis ich mich irgendwann wieder stark genug fühlte und dann im Sommer 2015 mit dem Schreiben von 'Heptalogie' begann." Er sieht vor sich hin, in seinem Blick liegt etwas Fragendes. "Aber natürlich bin es nicht ich, der diesen Roman geschrieben hat", sagt er. "Ich kann nicht behaupten, dass Gott ihn geschrieben hat, aber gewiss etwas, das außerhalb meiner selbst existiert. Was mag das sein? Es wird ein wenig unheimlich, sobald man beginnt, auf diese Weise darüber nachzudenken."
Fosse erzählt von den Bildern, die er als Jugendlicher malte und später zerstörte; von der Zeit, in der er im Jugendklub von Strandebarm ungelenkt mit einer E-Gitarre auf der Bühne stand, bis er als Sechzehnjähriger die Band verließ und begann, seine Musikalität beim Schreiben auszuleben. Er erzählt von der tiefen Stille, die mit "starker, wahrer Stimme" aus Mark Rothkos Gemälden spreche und ihn 2019 beim Besuch einer Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien vollkommen überwältigt habe. Er erzählt von seiner neunjährigen Tochter, der er später noch bei den Hausaufgaben helfen müsse. In "Ich ist ein anderer" setzt Fosse die mit "Der andere Name" begonnene Meditation fort und erzählt, wie Asle abermals vor seinem gerade fertiggestellten Gemälde steht. In fließenden, stetig wiederkehrenden Bewegungen von Fosses melodiöser, von keinem einzigen Punkt aufgehaltener Prosa dringt er in immer tiefere Ebenen seiner Selbstbegegnung vor. Jon Fosse sagt, er sei ein "mystischer Realist". In "Ich ist ein anderer" erzählt er, wie der in der Abgeschiedenheit seines Hauses an der westnorwegischen Küste lebende Asle, für den das Malen zeitlebens eine stille Andacht war, "ein Dienst an Gottes Reich", zunehmend von dem beunruhigenden Gefühl erfasst wird, er habe in seinen Bildern alles gesagt, was er zu sagen habe, und könne seinem Werk nichts mehr hinzufügen.
Er erzählt, wie Asle nach Bjørgvin fährt, der eine längere Autofahrt entfernten Stadt, um seinem Galeristen Bilder für die bevorstehende Weihnachtsausstellung zu bringen und dann im Krankenhaus vorbeizuschauen, um den anderen Mann namens Asle zu besuchen, seinen dem Alkohol verfallenen Doppelgänger, den er zwei Tage zuvor bewusstlos im Schnee gefunden hatte. Die überschaubare, über viele Seiten ruhig dahinfließende Handlung der an sieben Tagen vor Weihnachten spielenden "Heptalogie" verbindet sich auch in "Ich ist ein anderer" nahtlos mit Asles Nachdenken über die profanen und die spirituellen Aspekte des Lebens, seinen Erinnerungen und Vorstellungen. Den Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an die erste Zigarette, die er im Bootshaus des Vaters rauchte, an den frühen Tod seiner Schwester. Den Erinnerungen an die erste Ausstellung seiner Bilder im Jugendklub des Dorfes, an die ersten Begegnungen mit seinem Galeristen und mit seiner späteren Frau, die Asle in der Vorstellung ebenso leibhaftig vor sich sieht wie sein eigenes früheres Ich und den anderen Mann namens Asle, der im Krankenhaus zitternd im Delirium liegt.
Mit seiner introvertierten, kontemplativen Prosa, deren Lektüre ein intensives Erlebnis ist, erschafft Jon Fosse einen schwebenden Ort der Stille, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen und Asles Leben wie ein einziger der Zeit enthobener Augenblick erscheint. Als Asle sich in "Ich ist ein anderer" an die erste, beinahe fünf Jahrzehnte zurückliegende Begegnung mit dem anderen Mann namens Asle erinnert, sieht er ihn im Speisesaal eines Hotels an einem Tisch ganz hinten beim Fenster sitzen, den Rücken zur Wand. Er hat wie Asle lange braune Haare, trägt wie Asle eine schwarze Cordjacke und sieht auch sonst genauso aus wie er selbst. Vor ihm steht eine Tasse Kaffee.
"Was ich im Spiegel meines Romans von mir selbst sehe?" Fosse lehnt sich zurück. Der Pullover ist ein wenig hochgerutscht; er hat einen blassen, untrainierten Bauch. "Ich sehe, dass Asle einige der Bilder loswerden will, die er in sich trägt. Aber um sich ihrer zu entledigen", sagt Fosse, "kann er sie nicht malen, wie sie sind. Er muss sie verändern. Etwas muss gleich bleiben, aber das Wesentliche, die Transformation, muss etwas anderes sein. Das ist es, was ich sehe. Meine Ähnlichkeit mit Asle ist rein äußerlich, beim Rest handelt es sich um die Transformation von vielem, das ich erlebt habe." Fosse blickt auf die Uhr. Später tritt er aus dem "Kaffistova" hinaus auf die Straße und geht die Kristian IV gate entlang Richtung Schlosspark. "Diese Transformation", sagt er, "der Vorgang, den Dingen Form und Flow zu geben, eine Transzendenz, bedeutet für mich, etwas herstellen, das ich Kunst nennen kann. Etwas, das es mir mehr oder weniger möglich macht zu leben."
Er geht an Det Norske Teatret vorbei, einem auf Inszenierungen in dem insbesondere aus westnorwegischen Dialekten hervorgegangenen Nynorsk spezialisierten Theater, in dem im vergangenen September auch Jon Fosses neues Stück "Starker Wind" uraufgeführt wurde. "Ich hatte schon als Kind, was man eine 'Künstlerseele' nennt", sagt er, "aber es gibt natürlich viele Menschen, die eine solche Seele in sich tragen und dennoch nicht Künstler geworden sind." Er passiert das ehemalige Gebäude der Nationalgalerie, in dem ihm ehedem vor einem von Lars Hertervigs Gemälden Tränen in die Augen gestiegen sind. "Auch ich hätte ein anderes Leben führen und mich vielleicht irgendwie mit der Gitarre als Musiker durchschlagen können", sagt er. "Als ich mit dem Schreiben anfing, konnte ich mir jedenfalls nicht vorstellen, Schriftsteller zu werden. Nein, das kam mir vor wie etwas, das zu groß für mich war. Ich hätte vielleicht Journalist bei einer Lokalzeitung werden können."
Er überquert die Frederiks gate und geht schließlich am Rand des Schlossparks die leicht ansteigende Wergelandsveien hinauf. "Ich hätte mit Drogen in Kontakt kommen können", sagt er, "aber ich hatte Glück und kannte Leute, die mit Drogen zu tun hatten, sodass ich Angst davor hatte und schließlich der Alkohol zu meiner einzigen Droge wurde." In einer bestimmten Phase des Lebens hätte Fosse Straßenjunge werden können.
An der Akademie für Schreibkunst unterrichtete er nur wenige Jahre. "Es gibt so viele unterschiedliche Wege", sagt er, "so viele Möglichkeiten." In "Heptalogie" umkreist er die beiden Männer namens Asle, deren Gedanken sich immer wieder wechselseitig durchdringen und die Erzählung wie die Schleife eines Möbiusbandes wirken lassen, dessen Drehung den Unterschied zwischen der Innen- und Außenperspektive beider Figuren aufhebt, die in Fosses Roman schließlich keine festen, voneinander abgegrenzten Identitäten mehr haben und im Kontinuum ihrer ineinanderlaufenden Gedanken auch die auktoriale Instanz des allwissenden Erzählers auflösen, der bei Fosse ein sich behutsam ins Ungewisse vortastender Schreibender ist.
"Das Schreiben bot mir einen Schutz vor der Welt, und das tut es noch immer", sagt Jon Fosse. "Es verbindet mich einerseits mit der Welt und bietet mir Zuflucht." Er geht an dem über einem ehemaligen Steinbruch aufgeschütteten Hügel vorbei, auf dem das kleine Haus steht, in dem er während des Schuljahres mit seiner Frau und den beiden Töchtern wohnt. An der Westküste, wo Fosse nördlich von Bergen eine weitere Wohnung hat, herrscht gerade starker Sturm. "Als ich mit dem Schreiben begann", sagt er, "habe ich einen geheimen Ort in mir entdeckt. Ich kann nicht viel über ihn sagen und versuche nicht mehr, ihn mir zu erklären. Aber dieser geheime Ort existiert noch immer." Er steht am Fuß von "Grotten" in der Dunkelheit. Dann geht er zum Haus hinauf, den hell erleuchteten Fenstern entgegen.
Jon Fosses Roman "Ich ist ein anderer", der Mittelteil von "Heptalogie", ist in Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel gerade beim Rowohlt-Verlag erschienen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Felicitas von Lovenberg begreift den fünften Band von Karl Ove Knausgards autobiografischem Mammutprojekt als Einladung zur Hingabe. Für sie die Bedingung, um vom Erzählstrom mitgerissen zu werden. Also Smartphone beiseite, rät Lovenberg, und eingelassen auf die schiere Monumentalität und das Identifikationangebot des Autors, wenn er das Gewöhnlichste in aller Ausführlichkeit schildert. Der Gewinn besteht laut Rezensentin in einer Nähe zur menschlichen Seele, im verstörenden Erfahren menschlicher Verfasstheit, das durch die Größe des Projekts überhaupt erst erträglich wird, wie Lovenberg findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.10.2015Schmerzen vor Glück
Karl Ove Knausgård hat mit seinem rückhaltlos autobiografischen Schreiben Millionen
Leser in Bann geschlagen. Aber sein neues Buch „Träumen“ zeigt: Nicht nur der Hunger
nach Leben, sondern auch der Hunger nach Literatur treibt diesen Autor an
VON LOTHAR MÜLLER
Allmählich beginnt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård in dem Bild zu verschwinden, das er in seinen Büchern und in einer anschwellenden Flut von Interviews und Selbstkommentaren von sich entworfen hat. Auf diesem Bild ist er ein umgekehrter Don Quijote, der ausgezogen ist, die Literatur von der Übermacht der Fiktionen zu befreien, damit das Leben selbst in ihr zu Wort kommen kann, nach seinen eigenen Gesetzen, in seiner eigenen Sprache und so lange es will.
Das Leben, das Knausgård gegen die Windmühlen gängiger Romanproduktion ins Feld führt, ist sein eigenes. Den sechs umfangreichen Bänden, in denen er es vor dem Publikum ausbreitet, hat er den Titel „Min Kamp“ („Mein Kampf“) gegeben. Dass der eigentlich schon vergeben war, musste er wissen. Auch in Norwegen gibt es in manchen Haushalten und Nachlässen Exemplare von Hitlers Autobiografie. „My struggle“ hieß deren 1933 in England erschienene Ausgabe, und so heißt nun Knausgårds Zyklus in der Englisch sprechenden Welt. Der deutsche Verlag mochte da nicht mitziehen. „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“ hießen die bisher erschienenen Bände, in diesem Herbst ist der fünfte hinzugekommen, „Träumen“.
Dieser fünfte Band ist ein idealer Anlass, den Kampf des 1968 in der norwegischen Provinz geborenen Karl Ove Knausgård näher ins Auge zu fassen. Denn in keinem bisherigen Band tritt die Paradoxie so sehr in den Vordergrund, die den umgekehrten Don Quijote in seinen Windmühlenkampf hineintreibt. Er zieht unter der Fahne des Lebens aus, will die Literatur hinter sich lassen, den modernen Roman durch das autobiografische Erzählen unterwandern. Seine Eroberungsfantasie aber besteht darin, die Fahne mit dem Namen Karl Ove Knausgård gerade nicht im Leben aufzupflanzen, sondern im Pantheon der Literatur, in unmittelbarer Nachbarschaft der großen Autoren der Moderne.
Ja, auch in diesem Band „Träumen“, in dem der Lebensstoff den Jahren zwischen 1988 und 2002 entnommen ist, Jahre, in denen Knausgård in der Küstenstadt Bergen lebte, stellt sich ein Selbstentblößer vor das Publikum. Irgendwann kauft er ein Buch über Jean-Jacques Rousseau, das Urbild aller Selbstentblößer, Fiktions- und Romankritiker. Er schlägt das opulente Kunstbuch voller nackter Frauen auf, das den jungen Knausgård auf die Toilette begleitet, als er verspätet den Reiz des Onanierens entdeckt; er schildert die Wut, die in ihm aufkeimt, als Yngve, der ältere Bruder, ihm eine erhoffte Geliebte ausspannt, schildert seine Neigung zum Verstummen in Gesellschaft, seine Schüchternheit beim Werben um Frauen, die bei den häufigen Abstürzen in den Alkohol einer Eroberungswut und Geilheit weicht, der er fast immer nachgibt. Und er schildert die sich ebenfalls fast immer einstellende Peinlichkeit, zu früh zum Höhepunkt zu kommen.
Die One-Night-Stands, die der Selbstentblößer dem Publikum erzählt, hätte er als junger Mann den Frauen, mit denen er damals zusammen war, am liebsten verschwiegen. Der ersten, die er irgendwann verlässt, der zweiten, die er heiratet. Aber die eigentliche Rivalin der Frauen sind nicht die anderen Frauen. Die schärfste Rivalin ist die Literatur.
Das Campusradio der Uni, in dem der junge Mann seinen Zivildienst ableistet, die psychiatrischen Anstalten, in denen er als Student jobbt, die Bohrinsel, auf der er zeitweilig viel Geld verdient, gehören zu den Lieferanten von Lebensstoff. Aber sie stehen nicht im Zentrum dieses Bandes. Im Zentrum stehen die Lektüren, die Schreibversuche, die Autorfantasien des jungen Mannes, der nach Bergen kommt, weil er einen Platz an der Akademie für Schreibkunst ergattert hat, an der Autoren wie Jon Fosse lehren.
Ströme von Alkohol gehen durch den jungen Karl Ove Knausgård. Da der Zyklus damit beginnt, dass sich der Vater zu Tode getrunken hat, erscheinen sie nicht nur als Überschwang und Exzess der Jugend, sondern zugleich als Erbteil dieser dunklen, harten Vaterfigur. „Mein Kampf“, das ist zunächst der Kampf der Ich-Figur um die Befreiung von den Dämonen der Kindheit, der Kampf um ein Leben jenseits der Peinlichkeiten und des sexuellen Ungeschicks. Der eigentliche Kampf aber ist der des jungen Mannes um seine Romananfänge, Essays und Erzählungen, um die Grundlegung seiner Autorschaft.
Beide Kämpfe sind existenziell, aber das Schicksal der Ich-Figur entscheidet sich am zweiten Kampf. An dieser Front ist der junge Karl Ove Knausgård ein Nerd, ein Ästhet, der durch Buchhandlungen und Antiquariate streift, über das Misstrauen gegen Metaphern debattiert und von einer Flut von Buchstaben durchströmt wird, von Flauberts „Bouvard und Pécuchet“ und „Salambô“, von Prousts „Recherche“, von Joyce‘ „Ulysses“ und „Stephen Hero“, von Becketts Romanen, Thomas Manns „Zauberberg“ und „Doktor Faustus“, von Hölderlin, Rilke und Paul Celan, von Italo Calvino und Julio Cortázar, und von der gesamten norwegischen Gegenwartsliteratur. Er verfasst Essays über die Bedeutung von Dante für Joyce, wird von abgrundtiefer Enttäuschung erfasst, wenn die Dozenten seine Probetexte nicht würdigen, schreibt und verwirft Erzählungen im Stil von Cortázar. Sein literarischer Ehrgeiz ist grenzenlos, er will Norwegen erobern und dann die Welt.
Wie schon in „Spielen“, gibt es in „Träumen“ eine Schlüsselgeste für den Kampf des jungen Mannes gegen die Dämonen der Angst, der Scham, der Peinlichkeit: Er zerschneidet sich mit Glasscherben das Gesicht. Die Geste stammt – wie das Stirn-Aufschlitzen mit einer Rasierklinge des jungen Autors Rainald Goetz 1983 in Klagenfurt – aus der Welt des Punk. Eine lange Liste von Bands und Titeln aus Punk, Post-Punk und Indie-Pop ließe sich aus diesem Band herausschreiben.
Es liegt verführerisch nahe, Knausgårds „Mein Kampf“ als Übertragung der Energien des musikalischen Punk in die Literatur zu interpretieren. War nicht Punk die Rebellion der elementaren Akkorde, der dreckigen Stimmen, des selbstbewussten Dilettantismus gegen den pompös gewordenen Pop, gegen das virtuose Gitarren-Solo? Hat nicht der britische Punk das höhnische Zitat von NS-Titeln und NS-Gesten in die Popkultur geholt? Und ist nicht das Projekt eines radikalen, kunstlosen autobiografischen Schreibens ein vergleichbarer Aufstand des Lebens gegen die Kunst, ein Angriff auf die immer virtuoser verschlungenen Reflexionsschleifen literarischer Fiktion?
„Allein schon bei dem Gedanken an Fiktion, allein schon bei dem Gedanken an einen erfundenen Charakter in einer erfundenen Handlung wurde mir flau, ich reagierte körperlich darauf“, so blickte Knausgård im zweiten Band seines Zyklus auf sich selbst als jungen Autor zurück, den der Ekel an der Allgegenwart der Fiktionen aus der Romanform hinaustreibt: „Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher und Essays, die Genres in der Literatur, in denen es nicht um eine Erzählung ging, die von nichts handelten, sondern nur aus einer Stimme bestanden, der Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen konnte.“
Yngve, der ältere Bruder, steht mit beiden Beinen in der Welt der Indie-Pop-Musik. Der junge Knausgård verfasst Lyrics und ist Schlagzeuger der gemeinsamen Band „Kafkafilter“. Dass er sich damit zufriedengibt, ein ziemlich dilettantischer Schlagzeuger zu sein, unterscheidet ihn von dem gleichnamigen angehenden Schriftsteller. Der würde sich nie damit zufriedengeben, so mittelmäßig zu schreiben, wie er Schlagzeug spielt. Und woran arbeitet er? An seinem ersten Roman.
Auf das Erscheinen und den Erfolg dieses Romans, auf den Durchbruch zur Autorschaft läuft „Träumen“ zu, und damit verschränkt wird hier noch einmal vom Tod des Vaters erzählt. Es scheint, als besiegele die erfolgreiche Autorschaft die Befreiung vom Vater, dem Dämon der Kindheit. Aber der Leser des nicht chronologisch, sondern in Schleifen und Rückblenden erzählten Zyklus weiß aus den vorangegangenen Bänden, dass der erfolgreiche Romanautor, der mit seiner zweiten Ehefrau Linda eine Familie gegründet hat, am Schreiben verzweifelt, dass er keinen tragfähigen Stoff für einen neuen Roman findet und irgendwann den Ausweg im Schreiben über sich selbst sucht: „Die Idee war, meinem Leben so nahezukommen wie möglich, also schrieb ich über Linda und John, die im Nebenzimmer schliefen, Vanja und Heidi, die im Kindergarten waren, die Aussicht aus dem Fenster, die Musik, die ich hörte.“ Aus dieser Idee ist „Mein Kampf“ hervorgegangen: aus der Nahsicht auf das mal dramatische, mal triviale, banale Leben des Autors, aufgezeichnet von einem Schreiben, das den Forderungen und Obsessionen entkommen ist, die es in der „Akademie für Schreibkunst“ in sich aufgenommen hat. Was bleibt nach Proust, nach Joyce, nach Musil? Beiseite- treten, noch einmal von vorn anfangen, anspruchslos.
Es scheint, als habe der umgekehrte Don Quijote sein Ziel erreicht. Er hat, zunächst in Norwegen, dann international Massen von Lesern in seinen Bann gezogen, Leser, die süchtig geworden sind nach diesem Lebensstoff, nach diesem rückhaltlosen Schreiben über das eigene Leben. Aber was ist dabei aus dem grenzenlosen literarischen Ehrgeiz geworden, von dem „Träumen“ erzählt? Was würde der junge Mann, der ein ganz großer Autor werden will, zu den Sätzen sagen, in denen hier sein Liebesglück beschrieben wird: „Ich blieb die ganze Nacht bei ihr. Wir suchten einander, waren vollkommen offen füreinander, alles war erfüllt von Licht. Ich hatte Schmerzen vor lauter Glück, denn ich hatte sie, sie war da, die ganze Zeit. Die ganze Zeit war sie da und umgab mich, und ich hatte Schmerzen vor Glück, und alles war erfüllt von Licht.“ Müsste er dazu nicht sagen: Das ist mitnichten die Sprache des Lebens, es ist die Sprache eines konventionellen Liebesromans?
Einmal zwingt der junge Karl-Ove Knausgård eine Angebetete, die sich ihm entzieht, dazu, seine vollständige Rezitation der „Todesfuge“ von Paul Celan anzuhören. Sich mit den Mitteln der Literatur am Leben rächen, das ist eine charakteristische Geste in „Mein Kampf“. Instrument der Rache muss aber nicht die Poesie, es kann auch die absolute Anspruchslosigkeit der Sprache sein. Mit ihr rächt sich in Knausgårds Trivialdialogen und seitenlangen Schilderungen des Familienlebens, des Windelwechselns oder Kindergeburtstagsfeierns die Literatur am Leben, das sich dem Schreiben in den Weg stellt. Der Hunger nach Leben trägt viele Leser über die langweiligen Passagen in „Mein Kampf“ hinweg. Die Parole „So viel Leben wie möglich“ taucht darin gelegentlich auf, formuliert mit Blick auf Ernest Hemingway, Hunter S. Thompson, Wladimir Majakowski. Nicht wenige Kritiker sehen in dem Manifest „Reality Hunger“ von David Shields einen Schlüssel zu Knausgårds autobiografischem Radikalismus.
Aber es gibt darin noch einen anderen Hunger und eine Sprache, in der nicht das Leben pulsiert, sondern der Buchstabenstrom, der durch den jungen Absolventen der Akademie für Schreibkunst hindurchgegangen ist. „Seine Scheu war eher wie eine Robe, die er um sich geschlungen hatte“, schreibt Knausgård über den Akademie-Dozenten und Autor Jon Fosse und lässt damit seine Kunst der Charakteristik aufblitzen, die sich an den Porträts der Großmutter, des Großvaters und des Onkels bewährt, des einsamen Kommunisten auf dem Lande und ernsten Arbeiterdichters.
Dieser Porträtist ist mit dem Essayisten verwandt, der in „Mein Kampf“ immer wieder auftaucht, und mit dem Widerpart des Selbstentblößers. Dieser Widerpart ist mit der Außenwelt im Bunde, mit dem Licht, dem Wetter, der Landschaft. Er hat in dem stilsicheren Übersetzer Paul Berf einen Verbündeten im Deutschen und schreibt so: „Das Licht in der Stadt hatte sich im Laufe des Frühjahrs grundlegend verändert. Das feuchte und Saugende der Farben in Herbst und Winter war verschwunden. Jetzt waren die Farben trocken und leicht, und auf Grund der kreideweißen Häuser, die das Licht reflektierten, selbst das indirekte, wenn die Sonne hinter den Wolken schien, messerscharf und schimmernd, schien es mir so, als wäre die ganze Stadt emporgestiegen.“
Aus einer Fülle von Prosa-Miniaturen setzt dieser Widerpart des Selbstentblößers das Bild der Stadt Bergen zusammen, macht sie zu einer Hauptstadt des Regens. Durch die Provinzlandschaften, in die der junge Knausgård reist, um Verwandte zu besuchen (oder zu beerdigen), führt er auf die Spur des nicht geschriebenen Romans, der in „Träumen“ versteckt ist, der Cover-Version von Knut Hamsuns „Hunger“, dem Roman über den jungen Schriftsteller in der Stadt, in der er sich bewähren muss: „Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet ist“.
Als entwurzelter Moderner, nicht als Autor der Scholle und des Bodens geistert Hamsun durch den Zyklus „Mein Kampf“, hier, in „Träumen“ verwandelt sein Schatten die Stadt Bergen, in eine literarische Nachbarin Kristianias. Hungernd kommt der junge Knausgård, von einer Italienreise zurückkehrend, in Bergen an, kauft sich Hamsuns Roman, liest ihn, während es draußen in Strömen gießt („Es war auffällig, wie simpel die Geschichte war“), und gleicht wenige Seiten später einem jener jungen Männer, die in Romanen des 19. Jahrhunderts ausziehen, Paris oder eine andere Metropole zu erobern: „Eine Woge des Glücks durchrollte mich. Es war der Regen, es waren die Lichter, es war die große Stadt. Es war ich selbst, ich würde Schriftsteller werden, ein Star, ein Leitstern für andere.“
Hamsuns „Hunger“ endet mit dem Abschiedsblick des Erzählers vom Fjord aus auf die Stadt, die er verlässt. Knausgårds „Träumen“ läuft auf den Satz zu: „So verließ ich Bergen.“ Das ist ein Schlusssatz, der mindestens so gut zu einem Roman passt wie zu einer Flucht aus der Fiktion ins pure Leben. Karl Ove Knausgård hat „Mein Kampf“ zu einem abgeschlossenen Projekt ohne Fortsetzung erklärt. Schriftsteller aber will er bleiben. Das ist eine gute Nachricht: Sein Hunger nach Literatur ist noch nicht gestillt.
Der neue Band aus dem
Erzählzyklus ist ideal, um das
ganze Projekt zu erklären
Knausgård würde nie
so mittelmäßig schreiben,
wie er Schlagzeug spielt
Das Einzige,
worin ich einen Wert
erblickte, waren Genres in
der Literatur, die nur
aus der Stimme der
eigenen Persönlichkeit
bestanden.“
„Mein Kampf“ („Min Kamp“) hat Karl Ove Knausgård seinen auf sechs
Bände angelegten Lebensroman genannt, wohl wissend, dass dieser Titel eigentlich schon vergeben ist.
Sein deutscher Verlag allerdings mochte da nicht mitziehen. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Karl Ove Knausgård:
Träumen. Aus dem
Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2015.
800 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Karl Ove Knausgård hat mit seinem rückhaltlos autobiografischen Schreiben Millionen
Leser in Bann geschlagen. Aber sein neues Buch „Träumen“ zeigt: Nicht nur der Hunger
nach Leben, sondern auch der Hunger nach Literatur treibt diesen Autor an
VON LOTHAR MÜLLER
Allmählich beginnt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård in dem Bild zu verschwinden, das er in seinen Büchern und in einer anschwellenden Flut von Interviews und Selbstkommentaren von sich entworfen hat. Auf diesem Bild ist er ein umgekehrter Don Quijote, der ausgezogen ist, die Literatur von der Übermacht der Fiktionen zu befreien, damit das Leben selbst in ihr zu Wort kommen kann, nach seinen eigenen Gesetzen, in seiner eigenen Sprache und so lange es will.
Das Leben, das Knausgård gegen die Windmühlen gängiger Romanproduktion ins Feld führt, ist sein eigenes. Den sechs umfangreichen Bänden, in denen er es vor dem Publikum ausbreitet, hat er den Titel „Min Kamp“ („Mein Kampf“) gegeben. Dass der eigentlich schon vergeben war, musste er wissen. Auch in Norwegen gibt es in manchen Haushalten und Nachlässen Exemplare von Hitlers Autobiografie. „My struggle“ hieß deren 1933 in England erschienene Ausgabe, und so heißt nun Knausgårds Zyklus in der Englisch sprechenden Welt. Der deutsche Verlag mochte da nicht mitziehen. „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“ hießen die bisher erschienenen Bände, in diesem Herbst ist der fünfte hinzugekommen, „Träumen“.
Dieser fünfte Band ist ein idealer Anlass, den Kampf des 1968 in der norwegischen Provinz geborenen Karl Ove Knausgård näher ins Auge zu fassen. Denn in keinem bisherigen Band tritt die Paradoxie so sehr in den Vordergrund, die den umgekehrten Don Quijote in seinen Windmühlenkampf hineintreibt. Er zieht unter der Fahne des Lebens aus, will die Literatur hinter sich lassen, den modernen Roman durch das autobiografische Erzählen unterwandern. Seine Eroberungsfantasie aber besteht darin, die Fahne mit dem Namen Karl Ove Knausgård gerade nicht im Leben aufzupflanzen, sondern im Pantheon der Literatur, in unmittelbarer Nachbarschaft der großen Autoren der Moderne.
Ja, auch in diesem Band „Träumen“, in dem der Lebensstoff den Jahren zwischen 1988 und 2002 entnommen ist, Jahre, in denen Knausgård in der Küstenstadt Bergen lebte, stellt sich ein Selbstentblößer vor das Publikum. Irgendwann kauft er ein Buch über Jean-Jacques Rousseau, das Urbild aller Selbstentblößer, Fiktions- und Romankritiker. Er schlägt das opulente Kunstbuch voller nackter Frauen auf, das den jungen Knausgård auf die Toilette begleitet, als er verspätet den Reiz des Onanierens entdeckt; er schildert die Wut, die in ihm aufkeimt, als Yngve, der ältere Bruder, ihm eine erhoffte Geliebte ausspannt, schildert seine Neigung zum Verstummen in Gesellschaft, seine Schüchternheit beim Werben um Frauen, die bei den häufigen Abstürzen in den Alkohol einer Eroberungswut und Geilheit weicht, der er fast immer nachgibt. Und er schildert die sich ebenfalls fast immer einstellende Peinlichkeit, zu früh zum Höhepunkt zu kommen.
Die One-Night-Stands, die der Selbstentblößer dem Publikum erzählt, hätte er als junger Mann den Frauen, mit denen er damals zusammen war, am liebsten verschwiegen. Der ersten, die er irgendwann verlässt, der zweiten, die er heiratet. Aber die eigentliche Rivalin der Frauen sind nicht die anderen Frauen. Die schärfste Rivalin ist die Literatur.
Das Campusradio der Uni, in dem der junge Mann seinen Zivildienst ableistet, die psychiatrischen Anstalten, in denen er als Student jobbt, die Bohrinsel, auf der er zeitweilig viel Geld verdient, gehören zu den Lieferanten von Lebensstoff. Aber sie stehen nicht im Zentrum dieses Bandes. Im Zentrum stehen die Lektüren, die Schreibversuche, die Autorfantasien des jungen Mannes, der nach Bergen kommt, weil er einen Platz an der Akademie für Schreibkunst ergattert hat, an der Autoren wie Jon Fosse lehren.
Ströme von Alkohol gehen durch den jungen Karl Ove Knausgård. Da der Zyklus damit beginnt, dass sich der Vater zu Tode getrunken hat, erscheinen sie nicht nur als Überschwang und Exzess der Jugend, sondern zugleich als Erbteil dieser dunklen, harten Vaterfigur. „Mein Kampf“, das ist zunächst der Kampf der Ich-Figur um die Befreiung von den Dämonen der Kindheit, der Kampf um ein Leben jenseits der Peinlichkeiten und des sexuellen Ungeschicks. Der eigentliche Kampf aber ist der des jungen Mannes um seine Romananfänge, Essays und Erzählungen, um die Grundlegung seiner Autorschaft.
Beide Kämpfe sind existenziell, aber das Schicksal der Ich-Figur entscheidet sich am zweiten Kampf. An dieser Front ist der junge Karl Ove Knausgård ein Nerd, ein Ästhet, der durch Buchhandlungen und Antiquariate streift, über das Misstrauen gegen Metaphern debattiert und von einer Flut von Buchstaben durchströmt wird, von Flauberts „Bouvard und Pécuchet“ und „Salambô“, von Prousts „Recherche“, von Joyce‘ „Ulysses“ und „Stephen Hero“, von Becketts Romanen, Thomas Manns „Zauberberg“ und „Doktor Faustus“, von Hölderlin, Rilke und Paul Celan, von Italo Calvino und Julio Cortázar, und von der gesamten norwegischen Gegenwartsliteratur. Er verfasst Essays über die Bedeutung von Dante für Joyce, wird von abgrundtiefer Enttäuschung erfasst, wenn die Dozenten seine Probetexte nicht würdigen, schreibt und verwirft Erzählungen im Stil von Cortázar. Sein literarischer Ehrgeiz ist grenzenlos, er will Norwegen erobern und dann die Welt.
Wie schon in „Spielen“, gibt es in „Träumen“ eine Schlüsselgeste für den Kampf des jungen Mannes gegen die Dämonen der Angst, der Scham, der Peinlichkeit: Er zerschneidet sich mit Glasscherben das Gesicht. Die Geste stammt – wie das Stirn-Aufschlitzen mit einer Rasierklinge des jungen Autors Rainald Goetz 1983 in Klagenfurt – aus der Welt des Punk. Eine lange Liste von Bands und Titeln aus Punk, Post-Punk und Indie-Pop ließe sich aus diesem Band herausschreiben.
Es liegt verführerisch nahe, Knausgårds „Mein Kampf“ als Übertragung der Energien des musikalischen Punk in die Literatur zu interpretieren. War nicht Punk die Rebellion der elementaren Akkorde, der dreckigen Stimmen, des selbstbewussten Dilettantismus gegen den pompös gewordenen Pop, gegen das virtuose Gitarren-Solo? Hat nicht der britische Punk das höhnische Zitat von NS-Titeln und NS-Gesten in die Popkultur geholt? Und ist nicht das Projekt eines radikalen, kunstlosen autobiografischen Schreibens ein vergleichbarer Aufstand des Lebens gegen die Kunst, ein Angriff auf die immer virtuoser verschlungenen Reflexionsschleifen literarischer Fiktion?
„Allein schon bei dem Gedanken an Fiktion, allein schon bei dem Gedanken an einen erfundenen Charakter in einer erfundenen Handlung wurde mir flau, ich reagierte körperlich darauf“, so blickte Knausgård im zweiten Band seines Zyklus auf sich selbst als jungen Autor zurück, den der Ekel an der Allgegenwart der Fiktionen aus der Romanform hinaustreibt: „Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher und Essays, die Genres in der Literatur, in denen es nicht um eine Erzählung ging, die von nichts handelten, sondern nur aus einer Stimme bestanden, der Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen konnte.“
Yngve, der ältere Bruder, steht mit beiden Beinen in der Welt der Indie-Pop-Musik. Der junge Knausgård verfasst Lyrics und ist Schlagzeuger der gemeinsamen Band „Kafkafilter“. Dass er sich damit zufriedengibt, ein ziemlich dilettantischer Schlagzeuger zu sein, unterscheidet ihn von dem gleichnamigen angehenden Schriftsteller. Der würde sich nie damit zufriedengeben, so mittelmäßig zu schreiben, wie er Schlagzeug spielt. Und woran arbeitet er? An seinem ersten Roman.
Auf das Erscheinen und den Erfolg dieses Romans, auf den Durchbruch zur Autorschaft läuft „Träumen“ zu, und damit verschränkt wird hier noch einmal vom Tod des Vaters erzählt. Es scheint, als besiegele die erfolgreiche Autorschaft die Befreiung vom Vater, dem Dämon der Kindheit. Aber der Leser des nicht chronologisch, sondern in Schleifen und Rückblenden erzählten Zyklus weiß aus den vorangegangenen Bänden, dass der erfolgreiche Romanautor, der mit seiner zweiten Ehefrau Linda eine Familie gegründet hat, am Schreiben verzweifelt, dass er keinen tragfähigen Stoff für einen neuen Roman findet und irgendwann den Ausweg im Schreiben über sich selbst sucht: „Die Idee war, meinem Leben so nahezukommen wie möglich, also schrieb ich über Linda und John, die im Nebenzimmer schliefen, Vanja und Heidi, die im Kindergarten waren, die Aussicht aus dem Fenster, die Musik, die ich hörte.“ Aus dieser Idee ist „Mein Kampf“ hervorgegangen: aus der Nahsicht auf das mal dramatische, mal triviale, banale Leben des Autors, aufgezeichnet von einem Schreiben, das den Forderungen und Obsessionen entkommen ist, die es in der „Akademie für Schreibkunst“ in sich aufgenommen hat. Was bleibt nach Proust, nach Joyce, nach Musil? Beiseite- treten, noch einmal von vorn anfangen, anspruchslos.
Es scheint, als habe der umgekehrte Don Quijote sein Ziel erreicht. Er hat, zunächst in Norwegen, dann international Massen von Lesern in seinen Bann gezogen, Leser, die süchtig geworden sind nach diesem Lebensstoff, nach diesem rückhaltlosen Schreiben über das eigene Leben. Aber was ist dabei aus dem grenzenlosen literarischen Ehrgeiz geworden, von dem „Träumen“ erzählt? Was würde der junge Mann, der ein ganz großer Autor werden will, zu den Sätzen sagen, in denen hier sein Liebesglück beschrieben wird: „Ich blieb die ganze Nacht bei ihr. Wir suchten einander, waren vollkommen offen füreinander, alles war erfüllt von Licht. Ich hatte Schmerzen vor lauter Glück, denn ich hatte sie, sie war da, die ganze Zeit. Die ganze Zeit war sie da und umgab mich, und ich hatte Schmerzen vor Glück, und alles war erfüllt von Licht.“ Müsste er dazu nicht sagen: Das ist mitnichten die Sprache des Lebens, es ist die Sprache eines konventionellen Liebesromans?
Einmal zwingt der junge Karl-Ove Knausgård eine Angebetete, die sich ihm entzieht, dazu, seine vollständige Rezitation der „Todesfuge“ von Paul Celan anzuhören. Sich mit den Mitteln der Literatur am Leben rächen, das ist eine charakteristische Geste in „Mein Kampf“. Instrument der Rache muss aber nicht die Poesie, es kann auch die absolute Anspruchslosigkeit der Sprache sein. Mit ihr rächt sich in Knausgårds Trivialdialogen und seitenlangen Schilderungen des Familienlebens, des Windelwechselns oder Kindergeburtstagsfeierns die Literatur am Leben, das sich dem Schreiben in den Weg stellt. Der Hunger nach Leben trägt viele Leser über die langweiligen Passagen in „Mein Kampf“ hinweg. Die Parole „So viel Leben wie möglich“ taucht darin gelegentlich auf, formuliert mit Blick auf Ernest Hemingway, Hunter S. Thompson, Wladimir Majakowski. Nicht wenige Kritiker sehen in dem Manifest „Reality Hunger“ von David Shields einen Schlüssel zu Knausgårds autobiografischem Radikalismus.
Aber es gibt darin noch einen anderen Hunger und eine Sprache, in der nicht das Leben pulsiert, sondern der Buchstabenstrom, der durch den jungen Absolventen der Akademie für Schreibkunst hindurchgegangen ist. „Seine Scheu war eher wie eine Robe, die er um sich geschlungen hatte“, schreibt Knausgård über den Akademie-Dozenten und Autor Jon Fosse und lässt damit seine Kunst der Charakteristik aufblitzen, die sich an den Porträts der Großmutter, des Großvaters und des Onkels bewährt, des einsamen Kommunisten auf dem Lande und ernsten Arbeiterdichters.
Dieser Porträtist ist mit dem Essayisten verwandt, der in „Mein Kampf“ immer wieder auftaucht, und mit dem Widerpart des Selbstentblößers. Dieser Widerpart ist mit der Außenwelt im Bunde, mit dem Licht, dem Wetter, der Landschaft. Er hat in dem stilsicheren Übersetzer Paul Berf einen Verbündeten im Deutschen und schreibt so: „Das Licht in der Stadt hatte sich im Laufe des Frühjahrs grundlegend verändert. Das feuchte und Saugende der Farben in Herbst und Winter war verschwunden. Jetzt waren die Farben trocken und leicht, und auf Grund der kreideweißen Häuser, die das Licht reflektierten, selbst das indirekte, wenn die Sonne hinter den Wolken schien, messerscharf und schimmernd, schien es mir so, als wäre die ganze Stadt emporgestiegen.“
Aus einer Fülle von Prosa-Miniaturen setzt dieser Widerpart des Selbstentblößers das Bild der Stadt Bergen zusammen, macht sie zu einer Hauptstadt des Regens. Durch die Provinzlandschaften, in die der junge Knausgård reist, um Verwandte zu besuchen (oder zu beerdigen), führt er auf die Spur des nicht geschriebenen Romans, der in „Träumen“ versteckt ist, der Cover-Version von Knut Hamsuns „Hunger“, dem Roman über den jungen Schriftsteller in der Stadt, in der er sich bewähren muss: „Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet ist“.
Als entwurzelter Moderner, nicht als Autor der Scholle und des Bodens geistert Hamsun durch den Zyklus „Mein Kampf“, hier, in „Träumen“ verwandelt sein Schatten die Stadt Bergen, in eine literarische Nachbarin Kristianias. Hungernd kommt der junge Knausgård, von einer Italienreise zurückkehrend, in Bergen an, kauft sich Hamsuns Roman, liest ihn, während es draußen in Strömen gießt („Es war auffällig, wie simpel die Geschichte war“), und gleicht wenige Seiten später einem jener jungen Männer, die in Romanen des 19. Jahrhunderts ausziehen, Paris oder eine andere Metropole zu erobern: „Eine Woge des Glücks durchrollte mich. Es war der Regen, es waren die Lichter, es war die große Stadt. Es war ich selbst, ich würde Schriftsteller werden, ein Star, ein Leitstern für andere.“
Hamsuns „Hunger“ endet mit dem Abschiedsblick des Erzählers vom Fjord aus auf die Stadt, die er verlässt. Knausgårds „Träumen“ läuft auf den Satz zu: „So verließ ich Bergen.“ Das ist ein Schlusssatz, der mindestens so gut zu einem Roman passt wie zu einer Flucht aus der Fiktion ins pure Leben. Karl Ove Knausgård hat „Mein Kampf“ zu einem abgeschlossenen Projekt ohne Fortsetzung erklärt. Schriftsteller aber will er bleiben. Das ist eine gute Nachricht: Sein Hunger nach Literatur ist noch nicht gestillt.
Der neue Band aus dem
Erzählzyklus ist ideal, um das
ganze Projekt zu erklären
Knausgård würde nie
so mittelmäßig schreiben,
wie er Schlagzeug spielt
Das Einzige,
worin ich einen Wert
erblickte, waren Genres in
der Literatur, die nur
aus der Stimme der
eigenen Persönlichkeit
bestanden.“
„Mein Kampf“ („Min Kamp“) hat Karl Ove Knausgård seinen auf sechs
Bände angelegten Lebensroman genannt, wohl wissend, dass dieser Titel eigentlich schon vergeben ist.
Sein deutscher Verlag allerdings mochte da nicht mitziehen. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Karl Ove Knausgård:
Träumen. Aus dem
Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2015.
800 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Das gehört zum Großartigsten an Literatur, was zur Zeit geschrieben wird." Juli Zeh / ZDF - Das Literarische Quartett