B Paris, 1968. S Matthew, ein amerikanischer Student, gehört wie die Zwillinge Isabelle und Théo zu den Filmenthusiasten, die sich jeden Tag vor der Leinwand der Cinémathèque Française versammeln. Als das Kino aus politischen Gründen schließen muss, ziehen die Geschwister sich enttäuscht in ihre Wohnung zurück - und laden auch Matthew zum Bleiben ein. Er bemerkt bald, dass die beiden mehr verbindet als geschwisterliche Zuneigung. Auch das harmlose Filmquiz, das sie zum Zeitvertreib spielen, gleitet zusehends auf eine obsessive sexuelle Ebene ab. Sie isolieren sich völlig von der Außenwelt - bis eines Tages ein Pflasterstein durch ihre Fensterscheibe fliegt und sie in die reale Welt zurückkatapultiert werden, in der die Maiunruhen die Stadt in einen Kriegszustand versetzt haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2003Schafft Hitchcock ab!
Mondbruchlandung: Gilbert Adair schickt Jugendliche auf Zeitreise
Im sechzehnten Arrondissement von Paris, im Palais de Chaillot, in der Nähe der Esplanade du Trocadéro, ist die Cinémathèque Française untergebracht: eine kleine Traumfabrik, in der die Filmratten sich zu Hause fühlen und die Leinwand sie vor der Wirklichkeit beschützt. Es fängt beschaulich an in diesem kleinen Roman des in London lebenden Schriftstellers Gilbert Adair. "The Dreamers" ist die überarbeitete Fassung des bereits 1988 erschienenen Romans "The Holy Innocents". Die Unschuld bleibt sein Thema, aber auch die Harmlosigkeit, die in Katastrophen umschlägt.
So ist der Eintritt in den Roman zunächst eine Flucht in die Dunkelheit und Geborgenheit: Die Filmratten nehmen die Leser mit. Es geht zu wie in einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts: Milieu, Charakterbeschreibung, der Aufbau einer fiktionalen Welt jenseits von postmodernen Mätzchen, dafür eine gewisse Betulichkeit. Man tut also gut daran, die Antennen aufzustellen.
Drei Freunde werden eingeführt, das französische Zwillingspaar Théo und Isabelle und Matthew, der Amerikaner. Sie gehen noch zur Schule, treffen sich jedoch regelmäßig in der Cinemathek. Doch eines Tages ist dieses Schatzhaus der Bilder, das den dreien, die auch ein wenig verliebt sind, so trefflichen Stoff zum Reden und Träumen bietet, geschlossen. Irgendein politischer Vorgang führte offenbar zur Entmachtung des Direktors. Die drei beginnen, Filmszenen nachzuspielen, bald verlegen sie die Cinemathek in ihre Phantasie und in die Wohnung der Eltern der Zwillinge. Das Über-Ich geht ohnehin auf Urlaub, und so haben sie die Räume ganz für sich allein.
Nun entfalten sich die home movies auf ganzer Länge. Wer nicht weiß, aus welcher Filmszene ein bestimmter Dialog, eine gewisse Travestie stammt, muß ein Pfand geben. Natürlich wird das Pfänderspiel schnell ein erotisches, und so leben die drei Gefährten ihre inzestuösen und bisexuellen Phantasien aus. Die Pariser Wohnung wird zu einer wörtlichen Camera obscura, durch die allenfalls das Tageslicht hineindringt, um die eine oder andere Variante munteren sexuellen Treibens zu beleuchten. Die Wirklichkeit, das Draußen, bleibt dabei so abgeschirmt wie die ursprüngliche Cinemathek. Doch so ganz und gar utopisch will dieses Ausleben nicht werden.
Am Ende sehen wir drei ausgehungerte junge Menschen, die von Exkrementen beschmiert sind und Katzenfutter vertilgen. Die Phantasie ist an die Macht gekommen und auch nicht besser als das, was vor verschlossener Tür geschieht. Das Draußen meldet sich mit einem Stein, der durch das Fenster fliegt und die drei Traumhelden mit einem Ruck in die reale Welt zurückbefördert. War drinnen ein ahistorisches Irgendwo, so saugt nun die Geschichte zurück, was sich ihr verweigern wollte.
Denn draußen ist auf einmal 1968, dort kämpfen jugendliche Rebellen gegen die Polizei. Che Guevara, Mao Tse-tung und Ho Chi-minh sind die Phantasmen, die sie antreiben und denen sie sich in ihrem Aufruhr verbunden glauben. Die Träumer geraten in einen anderen Traum, in eine Karikatur, aus der sie nicht wieder herausfinden - zudem es sich um eine Kulturrevolution handelt, die mit Mozart und Shakespeare auch noch Hitchcock abschaffen will. Der Unschuldigste von allen, wie schon bei Henry James der Amerikaner, stirbt mit der roten Fahne in der Hand.
Anklänge an die Romane Milan Kunderas finden sich hier, doch kommt es nirgendwo zu einer politisch-existentiellen Vertiefung. Der Erzähler gibt sich wissend und hausiert mit Metaphern und Vergleichen. Seine Skepsis gegenüber den Unruhen von 1968, in denen auch ein Cohn-Bendit auftritt, ist die von Jugendlichen des Jahrs 2003, die durch eine Zeitreise in politische Wirren geraten, die sie nicht durchschauen. Sie waren, wie sie selber mit Verweis auf ein Plakat von Jules Verne sagen, auf dem Mond. So kann man dieses Buch auch lesen als einen Abgesang auf die Spaßgeneration, der am 11. September 2001 eine Quittung verabreicht wurde. Die Geschichte hat sie vom Mond geholt. Aber so weit führen die Reflexionen im Roman selbst nicht. Vielmehr endet er beschaulich in der wiedereröffneten Cinemathek mit Truffauts "Baisers volés", einem Film, der dem Direktor der Cinemathek gewidmet wird und mit Jubel aufgenommen wird.
In den Kampfschriften, knalligen Taschenbüchern der Revolution, gibt es Fußnoten, "die vom Ende jeder Seite wie Quecksilber in einem Fieberthermometer hochkrochen". Das Fieberthermometer des Lesers steigt derweil zwar nicht, doch ist "Träumer" sicher das passende Buch für einen heißen Sommer. Auf den Filmfestspielen in Venedig im September dieses Jahres wird Bernardo Bertoluccis Verfilmung dieser filmischen Phantasien zur Uraufführung kommen.
ELMAR SCHENKEL.
Gilbert Adair: "Träumer". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Schlachter. Edition Epoca, Zürich 2003. 167 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mondbruchlandung: Gilbert Adair schickt Jugendliche auf Zeitreise
Im sechzehnten Arrondissement von Paris, im Palais de Chaillot, in der Nähe der Esplanade du Trocadéro, ist die Cinémathèque Française untergebracht: eine kleine Traumfabrik, in der die Filmratten sich zu Hause fühlen und die Leinwand sie vor der Wirklichkeit beschützt. Es fängt beschaulich an in diesem kleinen Roman des in London lebenden Schriftstellers Gilbert Adair. "The Dreamers" ist die überarbeitete Fassung des bereits 1988 erschienenen Romans "The Holy Innocents". Die Unschuld bleibt sein Thema, aber auch die Harmlosigkeit, die in Katastrophen umschlägt.
So ist der Eintritt in den Roman zunächst eine Flucht in die Dunkelheit und Geborgenheit: Die Filmratten nehmen die Leser mit. Es geht zu wie in einem Roman des neunzehnten Jahrhunderts: Milieu, Charakterbeschreibung, der Aufbau einer fiktionalen Welt jenseits von postmodernen Mätzchen, dafür eine gewisse Betulichkeit. Man tut also gut daran, die Antennen aufzustellen.
Drei Freunde werden eingeführt, das französische Zwillingspaar Théo und Isabelle und Matthew, der Amerikaner. Sie gehen noch zur Schule, treffen sich jedoch regelmäßig in der Cinemathek. Doch eines Tages ist dieses Schatzhaus der Bilder, das den dreien, die auch ein wenig verliebt sind, so trefflichen Stoff zum Reden und Träumen bietet, geschlossen. Irgendein politischer Vorgang führte offenbar zur Entmachtung des Direktors. Die drei beginnen, Filmszenen nachzuspielen, bald verlegen sie die Cinemathek in ihre Phantasie und in die Wohnung der Eltern der Zwillinge. Das Über-Ich geht ohnehin auf Urlaub, und so haben sie die Räume ganz für sich allein.
Nun entfalten sich die home movies auf ganzer Länge. Wer nicht weiß, aus welcher Filmszene ein bestimmter Dialog, eine gewisse Travestie stammt, muß ein Pfand geben. Natürlich wird das Pfänderspiel schnell ein erotisches, und so leben die drei Gefährten ihre inzestuösen und bisexuellen Phantasien aus. Die Pariser Wohnung wird zu einer wörtlichen Camera obscura, durch die allenfalls das Tageslicht hineindringt, um die eine oder andere Variante munteren sexuellen Treibens zu beleuchten. Die Wirklichkeit, das Draußen, bleibt dabei so abgeschirmt wie die ursprüngliche Cinemathek. Doch so ganz und gar utopisch will dieses Ausleben nicht werden.
Am Ende sehen wir drei ausgehungerte junge Menschen, die von Exkrementen beschmiert sind und Katzenfutter vertilgen. Die Phantasie ist an die Macht gekommen und auch nicht besser als das, was vor verschlossener Tür geschieht. Das Draußen meldet sich mit einem Stein, der durch das Fenster fliegt und die drei Traumhelden mit einem Ruck in die reale Welt zurückbefördert. War drinnen ein ahistorisches Irgendwo, so saugt nun die Geschichte zurück, was sich ihr verweigern wollte.
Denn draußen ist auf einmal 1968, dort kämpfen jugendliche Rebellen gegen die Polizei. Che Guevara, Mao Tse-tung und Ho Chi-minh sind die Phantasmen, die sie antreiben und denen sie sich in ihrem Aufruhr verbunden glauben. Die Träumer geraten in einen anderen Traum, in eine Karikatur, aus der sie nicht wieder herausfinden - zudem es sich um eine Kulturrevolution handelt, die mit Mozart und Shakespeare auch noch Hitchcock abschaffen will. Der Unschuldigste von allen, wie schon bei Henry James der Amerikaner, stirbt mit der roten Fahne in der Hand.
Anklänge an die Romane Milan Kunderas finden sich hier, doch kommt es nirgendwo zu einer politisch-existentiellen Vertiefung. Der Erzähler gibt sich wissend und hausiert mit Metaphern und Vergleichen. Seine Skepsis gegenüber den Unruhen von 1968, in denen auch ein Cohn-Bendit auftritt, ist die von Jugendlichen des Jahrs 2003, die durch eine Zeitreise in politische Wirren geraten, die sie nicht durchschauen. Sie waren, wie sie selber mit Verweis auf ein Plakat von Jules Verne sagen, auf dem Mond. So kann man dieses Buch auch lesen als einen Abgesang auf die Spaßgeneration, der am 11. September 2001 eine Quittung verabreicht wurde. Die Geschichte hat sie vom Mond geholt. Aber so weit führen die Reflexionen im Roman selbst nicht. Vielmehr endet er beschaulich in der wiedereröffneten Cinemathek mit Truffauts "Baisers volés", einem Film, der dem Direktor der Cinemathek gewidmet wird und mit Jubel aufgenommen wird.
In den Kampfschriften, knalligen Taschenbüchern der Revolution, gibt es Fußnoten, "die vom Ende jeder Seite wie Quecksilber in einem Fieberthermometer hochkrochen". Das Fieberthermometer des Lesers steigt derweil zwar nicht, doch ist "Träumer" sicher das passende Buch für einen heißen Sommer. Auf den Filmfestspielen in Venedig im September dieses Jahres wird Bernardo Bertoluccis Verfilmung dieser filmischen Phantasien zur Uraufführung kommen.
ELMAR SCHENKEL.
Gilbert Adair: "Träumer". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Schlachter. Edition Epoca, Zürich 2003. 167 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit großer Sympathie schreibt Thomas Hermann über diesen 1988 erstmals erschienenen Roman - wohl vor allem, weil seine drei Helden Cinephile sind. Nur das Kino zählt für sie. Gilbert Adair erzählt das "atemberaubend" mit "filmartigen Cuts", lobt Hermann. Was für ein Schock, als Kulturminister Andre Malraux plötzlich die Cinematheque schließen lässt. Die drei Helden des Romans, erzählt Hermann, ziehen sich in eine Wohnung zurück und pflegen ihre Dreiecksbeziehung. Dies werde eher "langatmig" beschrieben, bis plötzlich ein Stein durchs Fenster fliegt. Es ist der Mai 68. Die drei ziehen auf die Straße, und, so unser Rezensent, "einmal mehr mündet ein Gedankenexperiment aus dem Labor des Gilbert Adair in ein fatales Finale".
© Perlentaucher Medien GmbH
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