Dies ist die Geschichte des Tagelöhners Robert Grainier, der irgendwann im Jahr 1866 geboren wurde, entweder in Utah oder in Kanada, und der nie erfuhr, wer seine Eltern waren. Robert Grainier war in seinem Leben niemals betrunken, hat nie eine Waffe besessen und hat kein einziges Mal in einen Telefonhörer gesprochen. Er ist mit zahllosen Zügen gefahren, saß in vielen Automobilen und ist einmal, 1927, sogar in einem Flugzeug gereist. Dabei hat sich Robert Grainier in den über 80 Jahren seines Lebens bis auf wenige Meilen dem Pazifik genähert. Gesehen hat er den Ozean nie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004Wenn der Wolfsmensch dreimal klingelt
Weh dem, der für Visionen keine Drogen braucht: Denis Johnsons Zugnovelle / Von Peter Körte
Die Welt ist alles, was Zerfall ist. Das ist man von Denis Johnson gewohnt. In einem seiner wenigen Interviews hat er erklärt, seine Bücher handelten vom "Dilemma, in einer gefallenen Welt zu leben", und der Lebenslauf des fünfundfünfzigjährigen Amerikaners scheint das zu beglaubigen. In München geboren, mit Drogen erwachsen geworden, mit Raymond Carver getrunken und erst irgendwo in Idaho und jetzt in Arizona seßhaft geworden. Der Mann hat ein Messer im Auge gehabt - aber nur als Kleindarsteller in der Verfilmung seiner Kurzgeschichten "Jesus' Son", und mittlerweile bekennt er sich als Christ, den viele seiner Brüder und Schwestern im Glauben lieber zur Hölle fahren sehen. Johnson schreibt deshalb keine Erbauungsprosa, er erzählt von amerikanischen Gottsuchern, die noch brennende Dornbüsche erblicken und denen noch Zeichen und Wunder geschehen, wenn sie den Widerschein des Übernatürlichen in einem Elvis-Porträt an der Wand ahnen.
Und wenn man sich schon an den Weltuntergang gewöhnt zu haben glaubt, schlägt Johnson in seinem neuen Buch eine kleine Volte und entfernt sich aus der Gegenwart. Keine Dropouts, Drifter oder Delinquenten. Nur ein alter Mann, der irgendwann im Jahre 1886 geboren wurde, vielleicht in Kanada, vielleicht auch in Utah. Irgend jemand hat diesen Robert Grainier als Siebenjährigen in den Zug gesetzt und zu Verwandten nach Idaho geschickt. Er ist an einem Fluß aufgewachsen, und wenn das örtliche Postamt bei einem Hochwasser weggeschwemmt wird und hundert Meilen flußabwärts in British Columbia strandet, dann kann Denis Johnson das so erzählen, daß man sich wie der kleine Junge fühlt, der auf den Schultern des Onkels sitzt und das wacklige Holzhaus davontreiben sieht. Es sind die Kraft und die Bilderwucht einer Sprache, die aus einem einfachen, ereignislosen und traurigen Leben eine Geschichte werden lassen. Es sind die Genauigkeit, der Rhythmus und die Spurenelemente von Magie in einem Realismus, welche die Menschen in dieser Geschichte aus den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts so plastisch erscheinen lassen wie auf den Fotografien eines Walker Evans.
Johnson versetzt sich nicht einfach in ein schlichtes Gemüt und blickt durch dessen Augen auf die Welt. Er schaut Grainier über die Schulter, er sieht ein wenig weiter und ein wenig schärfer als der alte Mann in seiner Erinnerung, ohne daß er ihn deshalb bevormundete: "Die Welt war grau, weiß, schwarz und stickig, ohne lebende Tiere und Pflanzen, eine Welt, die nicht mehr brannte und doch noch von der Wärme und dem Leben des Feuers erfüllt war. So viel Asche, so viel atemberaubender Rauch - schon Meilen, bevor er sein Zuhause erreicht hatte, wußte er, daß nichts davon geblieben sein konnte, und ging dennoch weiter, weinte um seine Frau und seine Tochter und rief wieder und wieder ,Kate!' ,Gladys!'" So viel kann man in zwei Sätzen erzählen, über den Mann, über seine Welt und über das, was ihm widerfahren ist, als er gerade mal Mitte Dreißig war.
Robert Grainier hat Visionen auch ohne Drogen; was er sieht, sind eher die Phantasmagorien eines Eremiten, den der Verlust von Frau und Tochter in die Einsamkeit getrieben hat. Er braucht auch kein Fernsehen oder kein Kino, ja nicht einmal die Gleichnisse eines von der Kanzel donnernden Pfarrers als Bilderreservoir, um in einem Traum seine Frau vor sich zu sehen, die erzählt, wie sie ums Leben kam. Es braucht nur die fiebrige Erzählung eines Mannes, den Grainier durch die Nacht fährt, um seine Phantasie so zu erhitzen, daß er eines Nachts Besuch von einem Wolfsmenschen bekommt. Er glaubt in diesem Wesen die Tochter zu erkennen, die dem Feuer entkam und unter die Wölfe fiel. So bevölkern Schmerz, Schuld und Verlust als Albtraumgestalten seine einsame Welt.
Grainier hat als Holzfäller gearbeitet und als Fuhrmann, er hat sich nie für irgend etwas wirklich interessiert, er war hilfsbereit und zugleich ganz egoistisch aufs Überleben bedacht. Er hat bei der Eisenbahn gearbeitet, weil er den diffusen Wunsch verspürte, an etwas Größerem mitzuwirken, und wenn er überhaupt je ein Ziel im Leben hatte, dann ist es mit dem Tod seiner Familie verschwunden. Das Buch heißt "Train Dreams", weil es durch das Prisma dieses einen unscheinbaren Lebens sichtbar macht, wie ein Land erschlossen wurde, wie es überhaupt zu einem Land wurde und wie dieser Weg nach Westen all die kleinen und großen Träume freigesetzt hat. Johnsons Novelle ist die Erinnerung an einen unbekannten Amerikaner, von dem es knapp heißt: "So ziemlich jeder in der Gegend kannte Robert Grainier, doch als er, irgendwann im November 1968, im Schlaf aus dem Leben schied, lag er für den Rest des Herbstes und den ganzen Winter hindurch tot in seiner Hütte, und niemand vermißte ihn." Ein kleines Denkmal ohne pathetische Schnörkel. Als habe Johnson in Idaho jemanden getroffen, der von Robert Grainier gehört hatte - und der Schriftsteller hat daraus ein Stück Prosa gemacht.
Es ist eine kleine Geschichte aus dem halbwilden Nordwesten, dunkel und dann wieder so hell und weit wie das Land, eine Geschichte von Einsamkeit ohne Verzweiflung und vom ländlichen Leben ohne Idylle, von einer Arglosigkeit und Unschuld des Herzens, die verloren ist und nicht beschworen wird. Johnson erzählt einfach davon, und das Buch endet mit dem Satz: "Und jene Zeit war für immer vorbei." Warum diese Träume von Zügen ausgerechnet in der "marebibliothek. Autoren erzählen ihre Geschichte vom Meer" angelandet ist? Grainier habe sich "in den über achtzig Jahren seines Lebens bis auf wenige Meilen dem Pazifik genähert. Gesehen hat er den Ozean nie", heißt es einmal. Sonst ist da nur ein Fluß namens Moyea, der manchmal über die Ufer tritt, und ob der alte Mann sich nach dem Meer gesehnt hat, ist unbekannt. Macht aber nichts. Es hätte ja so sein können. Bei Denis Johnson hören die Wunder und das Wundern nie auf.
Denis Johnson: "Train Dreams". Novelle. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Marebuchverlag, Hamburg 2004. 112 S., geb., 18,- [Euro].
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Weh dem, der für Visionen keine Drogen braucht: Denis Johnsons Zugnovelle / Von Peter Körte
Die Welt ist alles, was Zerfall ist. Das ist man von Denis Johnson gewohnt. In einem seiner wenigen Interviews hat er erklärt, seine Bücher handelten vom "Dilemma, in einer gefallenen Welt zu leben", und der Lebenslauf des fünfundfünfzigjährigen Amerikaners scheint das zu beglaubigen. In München geboren, mit Drogen erwachsen geworden, mit Raymond Carver getrunken und erst irgendwo in Idaho und jetzt in Arizona seßhaft geworden. Der Mann hat ein Messer im Auge gehabt - aber nur als Kleindarsteller in der Verfilmung seiner Kurzgeschichten "Jesus' Son", und mittlerweile bekennt er sich als Christ, den viele seiner Brüder und Schwestern im Glauben lieber zur Hölle fahren sehen. Johnson schreibt deshalb keine Erbauungsprosa, er erzählt von amerikanischen Gottsuchern, die noch brennende Dornbüsche erblicken und denen noch Zeichen und Wunder geschehen, wenn sie den Widerschein des Übernatürlichen in einem Elvis-Porträt an der Wand ahnen.
Und wenn man sich schon an den Weltuntergang gewöhnt zu haben glaubt, schlägt Johnson in seinem neuen Buch eine kleine Volte und entfernt sich aus der Gegenwart. Keine Dropouts, Drifter oder Delinquenten. Nur ein alter Mann, der irgendwann im Jahre 1886 geboren wurde, vielleicht in Kanada, vielleicht auch in Utah. Irgend jemand hat diesen Robert Grainier als Siebenjährigen in den Zug gesetzt und zu Verwandten nach Idaho geschickt. Er ist an einem Fluß aufgewachsen, und wenn das örtliche Postamt bei einem Hochwasser weggeschwemmt wird und hundert Meilen flußabwärts in British Columbia strandet, dann kann Denis Johnson das so erzählen, daß man sich wie der kleine Junge fühlt, der auf den Schultern des Onkels sitzt und das wacklige Holzhaus davontreiben sieht. Es sind die Kraft und die Bilderwucht einer Sprache, die aus einem einfachen, ereignislosen und traurigen Leben eine Geschichte werden lassen. Es sind die Genauigkeit, der Rhythmus und die Spurenelemente von Magie in einem Realismus, welche die Menschen in dieser Geschichte aus den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts so plastisch erscheinen lassen wie auf den Fotografien eines Walker Evans.
Johnson versetzt sich nicht einfach in ein schlichtes Gemüt und blickt durch dessen Augen auf die Welt. Er schaut Grainier über die Schulter, er sieht ein wenig weiter und ein wenig schärfer als der alte Mann in seiner Erinnerung, ohne daß er ihn deshalb bevormundete: "Die Welt war grau, weiß, schwarz und stickig, ohne lebende Tiere und Pflanzen, eine Welt, die nicht mehr brannte und doch noch von der Wärme und dem Leben des Feuers erfüllt war. So viel Asche, so viel atemberaubender Rauch - schon Meilen, bevor er sein Zuhause erreicht hatte, wußte er, daß nichts davon geblieben sein konnte, und ging dennoch weiter, weinte um seine Frau und seine Tochter und rief wieder und wieder ,Kate!' ,Gladys!'" So viel kann man in zwei Sätzen erzählen, über den Mann, über seine Welt und über das, was ihm widerfahren ist, als er gerade mal Mitte Dreißig war.
Robert Grainier hat Visionen auch ohne Drogen; was er sieht, sind eher die Phantasmagorien eines Eremiten, den der Verlust von Frau und Tochter in die Einsamkeit getrieben hat. Er braucht auch kein Fernsehen oder kein Kino, ja nicht einmal die Gleichnisse eines von der Kanzel donnernden Pfarrers als Bilderreservoir, um in einem Traum seine Frau vor sich zu sehen, die erzählt, wie sie ums Leben kam. Es braucht nur die fiebrige Erzählung eines Mannes, den Grainier durch die Nacht fährt, um seine Phantasie so zu erhitzen, daß er eines Nachts Besuch von einem Wolfsmenschen bekommt. Er glaubt in diesem Wesen die Tochter zu erkennen, die dem Feuer entkam und unter die Wölfe fiel. So bevölkern Schmerz, Schuld und Verlust als Albtraumgestalten seine einsame Welt.
Grainier hat als Holzfäller gearbeitet und als Fuhrmann, er hat sich nie für irgend etwas wirklich interessiert, er war hilfsbereit und zugleich ganz egoistisch aufs Überleben bedacht. Er hat bei der Eisenbahn gearbeitet, weil er den diffusen Wunsch verspürte, an etwas Größerem mitzuwirken, und wenn er überhaupt je ein Ziel im Leben hatte, dann ist es mit dem Tod seiner Familie verschwunden. Das Buch heißt "Train Dreams", weil es durch das Prisma dieses einen unscheinbaren Lebens sichtbar macht, wie ein Land erschlossen wurde, wie es überhaupt zu einem Land wurde und wie dieser Weg nach Westen all die kleinen und großen Träume freigesetzt hat. Johnsons Novelle ist die Erinnerung an einen unbekannten Amerikaner, von dem es knapp heißt: "So ziemlich jeder in der Gegend kannte Robert Grainier, doch als er, irgendwann im November 1968, im Schlaf aus dem Leben schied, lag er für den Rest des Herbstes und den ganzen Winter hindurch tot in seiner Hütte, und niemand vermißte ihn." Ein kleines Denkmal ohne pathetische Schnörkel. Als habe Johnson in Idaho jemanden getroffen, der von Robert Grainier gehört hatte - und der Schriftsteller hat daraus ein Stück Prosa gemacht.
Es ist eine kleine Geschichte aus dem halbwilden Nordwesten, dunkel und dann wieder so hell und weit wie das Land, eine Geschichte von Einsamkeit ohne Verzweiflung und vom ländlichen Leben ohne Idylle, von einer Arglosigkeit und Unschuld des Herzens, die verloren ist und nicht beschworen wird. Johnson erzählt einfach davon, und das Buch endet mit dem Satz: "Und jene Zeit war für immer vorbei." Warum diese Träume von Zügen ausgerechnet in der "marebibliothek. Autoren erzählen ihre Geschichte vom Meer" angelandet ist? Grainier habe sich "in den über achtzig Jahren seines Lebens bis auf wenige Meilen dem Pazifik genähert. Gesehen hat er den Ozean nie", heißt es einmal. Sonst ist da nur ein Fluß namens Moyea, der manchmal über die Ufer tritt, und ob der alte Mann sich nach dem Meer gesehnt hat, ist unbekannt. Macht aber nichts. Es hätte ja so sein können. Bei Denis Johnson hören die Wunder und das Wundern nie auf.
Denis Johnson: "Train Dreams". Novelle. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Marebuchverlag, Hamburg 2004. 112 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Rezensent Peter Körte feiert die Genauigkeit, den Rhythmus und die "Spurenelemente von Magie", die Denis Johnson in den Realismus seiner Erzählung gemischt hat. Es handelt sich seinen Informationen zufolge um einen kleine Geschichte von Einsamkeit ohne Verzweiflung, vom ländlichen Leben ohne Idylle aus dem halbwilden Nordwesten der USA. Denis Johnson blicke seinem Protagonisten über die Schulter und sehe ein wenig weiter und schärfer als der schlichte alte Mann, dessen Lebenserinnerungen der amerikanische Autor in seiner Novelle beschreibe. Der Rezensent beschreibt und beschwört Kraft und Bilderwucht der Sprache Johnsons, die aus einem einfachen, ereignislosen und traurigen Leben eine Geschichte mache, aus der unser Rezensent die ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts so plastisch hervortreten sieht wie auf den Fotografien eines Walker Evans. Das Buch heiße "Train Dreams", weil es durch das Prisma dieses einen unscheinbaren Lebens sichtbar mache, wie ein ganzes Land erschlossen wurde, wie es überhaupt zu einem Land geworden ist.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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Denis Johnsons Novelle ist ein Meisterstück. Süddeutsche Zeitung