Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.1996Sätze aus dem Abfalleimer
"Trainspotting": Irvine Welsh kennt die Junkies von Edinburgh
Ein skurriles Hobby der Briten heißt "train spotting", "Züge gucken". Man wartet stundenlang auf Eisenbahnbrücken oder in Bahnhofsnähe auf Dampflokomotiven und notiert die Zugnummern. Der Ehrgeiz der "train spotter" zielt darauf, möglichst viele Relikte der guten alten Zeit in ihren Notizblöcken zu versammeln. In Leith, einem heruntergekommenen Vorort Edinburghs, ist dieser kostenlosen Freizeitbeschäftigung die Grundlage entzogen. Hier fahren längst keine Züge mehr. Statt dessen erblickt man Obdachlose, Säufer und Drogensüchtige, denen der stillgelegte Bahnhof als Unterschlupf dient.
"Wenns hier noch Züge gäb, dann würd ich einen nehmen, raus aus diesem Dreckloch", erklärt Begbie halbherzig seinem Freund Mark Renton, genannt Rents. Doch das ist eine Floskel. Beide sind an Leith gekettet, der eine ein prügelwütiger Krimineller, der andere ein Junkie. Die jugendlichen Antihelden in Irvine Welshs Erstlingswerk "Trainspotting" halten nicht nach Zugnummern Ausschau, sondern nach dem nächsten Schuß Heroin.
Der Roman, der 1993 in England herauskam und jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, hatte in Großbritannien außerordentlichen Erfolg. Der Stoff wurde für die Bühne bearbeitet und in diesem Jahr von Danny Boyle verfilmt (Kritik folgt morgen). Aber man lasse sich von der Betriebsamkeit um den neuen "Kultautor", um Kinoerfolg und Bestsellerlisten nicht täuschen: Der achtunddreißig Jahre alte Welsh hat einen Drogenroman geschrieben, von dem man wohl sagen muß, daß er die Wirklichkeit abbildet.
Zuerst zerbirst die Sprache. Welshs Wörter und Sätze klingen, als hätte er sie aus dem Abfalleimer. Die Gedanken und Gespräche seiner Fixer sind im Slang der Bewohner von Leith gehalten: Schimpfwörter und kryptische Vokabeln, die genauso zerschlissen wirken wie die Welt, die sie beschreiben. Mit jedem Satz scheint Welsh seinen Lesern sagen zu wollen: Mein Edinburgh liegt in einem fremden Land. Den rollenden schottischen Akzent läßt er durch phonetische Umschrift einfließen - keine leichte Aufgabe für den Übersetzer Peter Torberg. "Ah'd take oaf his jaykit, sit um doon, and gie um a can ay Export", heißt ein Satz im Original. An dem unmöglichen Vorhaben, zu den Lautverdrehungen des Akzents in der deutschen Übersetzung ein Äquivalent zu schaffen, versucht Torberg sich verständlicherweise gar nicht erst. Er hält sich strikt an die Umgangssprache: "Hab ihm die Jacke abgenommen, ihm nen Stuhl angeboten und ne Dose Bier."
Nicht weniger zerzaust als ihre Sprache wirkt auch der Alltag der Junkies. In kurzen Abschnitten erzählt Welsh Geschichten von den entwürdigenden Besuchen beim Dealer, von den Schmerzen des Entzugs, von den zerschorften Leibern, in denen alle Venen zerstochen sind. Rents, der im Mittelpunkt der meisten Episoden steht, kommentiert diesen Krieg gegen den eigenen Körper mit beißender Ironie. Doch "Trainspotting" ist nur selten komisch, und oft verlangt das Weiterlesen Überwindung.
Die deprimierende Lakonie der Drogensucht wird nur durch die Niederlagen der "Hibernians" gegen die "Hearts" im Fußball-Lokalderby unterbrochen. Und durch die kurze Trauer um die Freunde, die an Aids sterben: In der Edinburgher Drogenszene ist der Tod so normal geworden wie die Sportschau am Samstagnachmittag. William S. Burroughs' Satz aus seinem Vorwort zu "Junkie" (1953) bestätigt Irvin Welshs "Trainspotting" für die neunziger Jahre: Drogenabhängigkeit ist kein Rausch, sondern eine Lebensweise.
Obwohl die Figuren Tag für Tag Tragödien erleben, haben sie keine Läuterung zu erwarten. Trotzig haben sich Rents und seine Freunde in der schottischen "Interzone" eingerichtet. Sie kommen zurecht, auch wenn sie nicht glücklich sind. Im Gegensatz zu Burroughs' surreal aufgeblasenen Opium-Träumen stilisiert "Trainspotting" den Drogenkonsum nicht zu einem intellektuellen Hobby. Welsh verzichtet aber auch aufs Moralisieren. Sein Roman ist gleichermaßen frei von preiswerter Betroffenheit wie von herkömmlicher Sozialkritik. Er berichtet aus einer Welt, die jenseits von Gut und Böse zynische Beständigkeit zeigt. Wenn er abhängig sei, sagt Rents, habe er wenigstens nur eine einzige Sorge. Das erleichtere das Leben ungemein. KOLJA MENSING
Irvine Welsh: "Trainspotting". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Peter Torberg. Verlag Rogner & Bernhard, Hamburg 1996. 438 S., geb., 33,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Trainspotting": Irvine Welsh kennt die Junkies von Edinburgh
Ein skurriles Hobby der Briten heißt "train spotting", "Züge gucken". Man wartet stundenlang auf Eisenbahnbrücken oder in Bahnhofsnähe auf Dampflokomotiven und notiert die Zugnummern. Der Ehrgeiz der "train spotter" zielt darauf, möglichst viele Relikte der guten alten Zeit in ihren Notizblöcken zu versammeln. In Leith, einem heruntergekommenen Vorort Edinburghs, ist dieser kostenlosen Freizeitbeschäftigung die Grundlage entzogen. Hier fahren längst keine Züge mehr. Statt dessen erblickt man Obdachlose, Säufer und Drogensüchtige, denen der stillgelegte Bahnhof als Unterschlupf dient.
"Wenns hier noch Züge gäb, dann würd ich einen nehmen, raus aus diesem Dreckloch", erklärt Begbie halbherzig seinem Freund Mark Renton, genannt Rents. Doch das ist eine Floskel. Beide sind an Leith gekettet, der eine ein prügelwütiger Krimineller, der andere ein Junkie. Die jugendlichen Antihelden in Irvine Welshs Erstlingswerk "Trainspotting" halten nicht nach Zugnummern Ausschau, sondern nach dem nächsten Schuß Heroin.
Der Roman, der 1993 in England herauskam und jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, hatte in Großbritannien außerordentlichen Erfolg. Der Stoff wurde für die Bühne bearbeitet und in diesem Jahr von Danny Boyle verfilmt (Kritik folgt morgen). Aber man lasse sich von der Betriebsamkeit um den neuen "Kultautor", um Kinoerfolg und Bestsellerlisten nicht täuschen: Der achtunddreißig Jahre alte Welsh hat einen Drogenroman geschrieben, von dem man wohl sagen muß, daß er die Wirklichkeit abbildet.
Zuerst zerbirst die Sprache. Welshs Wörter und Sätze klingen, als hätte er sie aus dem Abfalleimer. Die Gedanken und Gespräche seiner Fixer sind im Slang der Bewohner von Leith gehalten: Schimpfwörter und kryptische Vokabeln, die genauso zerschlissen wirken wie die Welt, die sie beschreiben. Mit jedem Satz scheint Welsh seinen Lesern sagen zu wollen: Mein Edinburgh liegt in einem fremden Land. Den rollenden schottischen Akzent läßt er durch phonetische Umschrift einfließen - keine leichte Aufgabe für den Übersetzer Peter Torberg. "Ah'd take oaf his jaykit, sit um doon, and gie um a can ay Export", heißt ein Satz im Original. An dem unmöglichen Vorhaben, zu den Lautverdrehungen des Akzents in der deutschen Übersetzung ein Äquivalent zu schaffen, versucht Torberg sich verständlicherweise gar nicht erst. Er hält sich strikt an die Umgangssprache: "Hab ihm die Jacke abgenommen, ihm nen Stuhl angeboten und ne Dose Bier."
Nicht weniger zerzaust als ihre Sprache wirkt auch der Alltag der Junkies. In kurzen Abschnitten erzählt Welsh Geschichten von den entwürdigenden Besuchen beim Dealer, von den Schmerzen des Entzugs, von den zerschorften Leibern, in denen alle Venen zerstochen sind. Rents, der im Mittelpunkt der meisten Episoden steht, kommentiert diesen Krieg gegen den eigenen Körper mit beißender Ironie. Doch "Trainspotting" ist nur selten komisch, und oft verlangt das Weiterlesen Überwindung.
Die deprimierende Lakonie der Drogensucht wird nur durch die Niederlagen der "Hibernians" gegen die "Hearts" im Fußball-Lokalderby unterbrochen. Und durch die kurze Trauer um die Freunde, die an Aids sterben: In der Edinburgher Drogenszene ist der Tod so normal geworden wie die Sportschau am Samstagnachmittag. William S. Burroughs' Satz aus seinem Vorwort zu "Junkie" (1953) bestätigt Irvin Welshs "Trainspotting" für die neunziger Jahre: Drogenabhängigkeit ist kein Rausch, sondern eine Lebensweise.
Obwohl die Figuren Tag für Tag Tragödien erleben, haben sie keine Läuterung zu erwarten. Trotzig haben sich Rents und seine Freunde in der schottischen "Interzone" eingerichtet. Sie kommen zurecht, auch wenn sie nicht glücklich sind. Im Gegensatz zu Burroughs' surreal aufgeblasenen Opium-Träumen stilisiert "Trainspotting" den Drogenkonsum nicht zu einem intellektuellen Hobby. Welsh verzichtet aber auch aufs Moralisieren. Sein Roman ist gleichermaßen frei von preiswerter Betroffenheit wie von herkömmlicher Sozialkritik. Er berichtet aus einer Welt, die jenseits von Gut und Böse zynische Beständigkeit zeigt. Wenn er abhängig sei, sagt Rents, habe er wenigstens nur eine einzige Sorge. Das erleichtere das Leben ungemein. KOLJA MENSING
Irvine Welsh: "Trainspotting". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Peter Torberg. Verlag Rogner & Bernhard, Hamburg 1996. 438 S., geb., 33,- DM.
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The arrival of Trainspotting was an earth-shaking cultural moment and it had a huge influence on me... This book sings and, in the darkest moments, it shines with humour and friendship. Every character here is alive DOUGLAS STUART, Booker Prize-winning author of Shuggie Bain and Young Mungo