Produktdetails
  • Verlag: Roter Stern, Fr. / Stroemfeld
  • Repr. d. Ausg. v. 1913-15. Lim. u. num. Ausg.
  • Seitenzahl: 153
  • Deutsch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 756g
  • ISBN-13: 9783878775553
  • ISBN-10: 3878775555
  • Artikelnr.: 06165485
Autorenporträt
Georg Trakl (1887-1914) wird von klein auf durch den heraufdämmernden Untergang der K. und K.-Monarchie geprägt. 1905 beginnt er ein Praktikum in einer Salzburger Apotheke. 1906 werden zwei Einakter, die er später vernichtet, im Salzburger Stadttheater aufgeführt. Er bewegt sich zunehmend in Bohème-Kreisen; sein lebenslanger Alkohol- und Drogenkonsum und das leidvolle inzestuöse Verhältnis zu seiner Schwester Margarethe gehen auf diese Zeit zurück. 1908 siedelt er zum Studium der Pharmazie nach Wien über. Bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges 1914 pendelt Trakl in Probediensten und auf der Suche nach Anstellungen, die er meist schnell wieder aufgibt, zwischen Salzburg, Wien und Innsbruck. Ab 1912 werden seine Gedichte im Brenner erstveröffentlicht; außerdem publiziert er in der Fackel von Karl Kraus. 1914 zieht Trakl als Medikamentenakzessist mit einer Sanitätskolonne nach Galizien in den Krieg, von wo er im Anschluss an die Schlacht bei Grodek zur Beobachtung seines Geisteszustande

s nach Krakau überwiesen wird. Dort stirbt er am 3. November an einer Überdosis Kokain.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.1996

Über moosige Stufen ein schneeiger Quell
Neuer Rekord der Textphilologie: Georg Trakls Dichtungen in der Innsbrucker Ausgabe · Von Friedmar Apel

Bekanntlich beginnt die Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug. Ähnlich scheint sich der Kauz der historisch-kritischen Edition unter dem Zeichen des Roten Sterns noch einmal in höchste Höhen schwingen zu wollen, während die Textproduktion am Personalcomputer deren materielle Grundlagen zum Verschwinden bringt und Begriffe wie "Textzeuge" oder "Textgenese" gleichsam in blauen Dunst auflöst. Es kann als sonderbares Phänomen einer Endzeitstimmung erscheinen, daß achtzig Jahre nach dem Tod Georg Trakls sein schwer zugängliches Werk zum zweiten Mal in einer großangelegten Edition erscheint.

Noch dezidierter als die früheren Unternehmungen des Verlags wendet sich die Trakl-Edition mit der Opulenz der Ausstattung und mit einem neuen Standard der Benutzerfreundlichkeit nicht nur an Fachleute, sondern auch an den enthusiastischen Leser. Freilich meinten schon die Herausgeber der bisher maßgeblichen Ausgabe (zweite ergänzte Auflage 1987), der jüngst verstorbene Walther Killy und Hans Szklenar, daß die historisch-kritische Editionstechnik der Eigenart des Traklschen Werks besonders angemessen ist: "Es gibt keinen neueren Dichter deutscher Sprache, Hölderlin ausgenommen, dessen Verse so sehr Ergebnis eines übersehbaren, aber komplexen Entstehungsvorganges sind, aus dessen Zusammenhang sie sich niemals endgültig lösen."

Killys poetologische Analysen solcher Zusammenhänge haben das Verständnis des Werks seit den sechziger Jahrer sehr gefördert. Dennoch ist fraglich, ob die zitierten Sätze etwas Sinnvolles bedeuten können. Denn jedes Kunstwerk, auch das selbstverständlich erscheinende, ist das - oft willkürlich stillgestellte - Ergebnis eines komplexen Entstehungsvorgangs. Ob dieser jedoch als Bedingungsstruktur rekonstruiert werden kann, bleibt ungeklärt.

Was Killys und Szklenars Edition als Entstehungsvorgang verzeichnet, ist entweder Chronologie von Varianten entlang der Koordinate von Drucken oder sogenannten Fassungen und Anordnung von veränderten Werkstellen, die - wie die Herausgeber selbst einräumen - "in ihrem zeitlichen Ablauf nachträglich nicht mehr zu fixieren" sind. Ob die Gründe für eine Veränderung immanent notwendig, äußerlich bedingt oder zufällig sind, entscheiden die historisch-kritischen Editoren nicht. Sie retten sich allenfalls in psychopathologische Scheinerklärungen, wenn sie Trakls Arbeitsweise als "Variation bis zur zwanghaften Veränderung" bezeichnen, was sich freilich ebensogut als Charakterisierung der Moderne im ganzen gebrauchen läßt.

Das editorische Konzept der Innsbrucker Ausgabe geht nun aufs neue darauf aus, "der Eigenart der Entstehung und Überlieferung von Trakls Werk zu entsprechen", und soll überdies das "Moderne an seiner Art zu dichten" erkennbar machen. Neue Forschungen zur Datierung hätten schließlich "eine Rekonstruktion der Werkentstehung und der Textgenese ermöglicht". In der Tat haben die beiden Herausgeber Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina, beide Mitarbeiter des "Brenner-Archivs" (das den Nachlaß von Ludwig von Fickers Zeitschrift bewahrt, in der Trakl vor allem publiziert wurde), Beiträge zur Datierung vorgelegt, die über den Stand der früheren Ausgabe erheblich hinausgehen. Welche Fortschritte daraus für die Darstellung der Werkentstehung und Textgenese resultieren, ist gleichwohl fraglich. Dabei ist die Verlagspraxis mißlich, daß der vermeintlich attraktivste Band zuerst publiziert wird, so daß man die Prüfung des Herausgeberberichts verschieben muß, der wohl in Band V oder VI erst 1998/99 erscheinen wird.

So kann man sich nur an Beispielen orientieren. Trakls Gedicht "Nachtseele" ist editorisch von mittlerer Problematik, gleichwohl ist die Textlage kompliziert genug. In der Form, in der es in der Zeitschrift "Phöbus" erschien, lautet es: Schweigsam stieg vom schwarzen Wald ein blaues Wild Die Seele nieder, Da es Nacht war, über moosige Stufen ein schneeiger Quell.

Blut und Waffengetümmel vergangener Zeiten Rauscht im Föhrengrund.

Der Mond scheint leise in verfallene Zimmer, Trunken von dunklen Giften, silberne Larve Über den Schlummer der Hirten geneigt; Haupt, das schweigend seine Sagen verlassen.

O, dann öffnet jener die langsamen Hände Verwesend in purpurnem Schlaf Und silbern erblühen die Blumen des Winters.

Am Waldsaum, erstrahlen die finstern Wege In die steinerne Stadt; Öfter ruft aus schwarzer Schwermut das Käuzchen den Trunknen.

Nach Killy und Szklenar erschien dieser Text im Juni 1914, nach den Innsbruckern eher im Dezember des Jahres - angesichts der Weltkriegsereignisse ein schwerwiegender Unterschied für den Horizont der zeitgenössischen Rezeption. Erstere datieren die Entstehung zwischen März und Juni 1914, in der neuen Edition erscheint es, einer ersten Grundniederschrift auf dem Papier des Cafés Bazar in Salzburg folgend, unter September/Oktober 1912. Der Entstehungszeitraum wird also erheblich ausgedehnt.

Die ältere Ausgabe präsentiert das Gedicht im Textband in drei Fassungen. Die Herausgeber rechnen damit, daß Trakl in verschiedenen Stadien je eine integrale Version in bestimmter Form im Sinne hatte. Das ist zwar keineswegs abwegig, bleibt aber eine Annahme, die im Apparatband auch relativiert wird. Die Innsbrucker Ausgabe trennt nicht in Text- und Apparatband, sondern bietet den Text nebst den Informationen in folgender Gliederung dar: Angaben zur Entstehungsgeschichte, Datierung der Textzeugen, textgenetischer Überblick, Erläuterungen einzelner Stellen, Faksimiles von Handschriften oder Typoskripten, Umschrift aller entzifferten beziehungsweise registrierten Zeichen, Textstufen in chronologischer Folge.

Die Entstehung des Gedichts "Nachtseele" wird so in neun "Textstufen" präsentiert, also nicht in "Fassungen". Auch der im Wortlaut mit der früheren Ausgabe identische Phöbus-Text wird so bezeichnet. Diese Textstufen ließen sich mit viel Puzzlearbeit weitgehend auch aus der älteren Ausgabe erschließen, freilich ohne die nun dargebotene zwingend erscheinende Abfolge. Zu den entscheidenden Abweichungen gehört aber beispielsweise, daß im Vergleich der "1. Fassung" mit "Textstufe 1 H" die erste Strophe ("Stille wieder empfängt . . .") als letzte steht, die zweite ("Schweigsam stieg . . .") somit als erste. Dies wird von den Innsbruckern mit der Beobachtung (oder Behauptung) begründet, es sei "die Gepflogenheit Trakls, die Niederschrift eines neuen Gedichts in einem mehrseitigen Konvolut auf einer neuen Seite zu beginnen." Und wenn er es nur einmal nicht so gemacht hätte? Dann stünden nicht nur die Struktur des Textes und seine ästhetische Wirkung wieder zur Disposition, sondern auch der Zusammenhang mit den anderen Textstufen.

Der Zusammenhang könnte besser einleuchten oder bezweifelt werden, wenn man über das Verständnis des Wortlauts im Wechsel der Kontexte etwas Zusammenhängendes erführe. Dabei aber wird der Leser des Gedichts von beiden Ausgaben weitgehend im Stich gelassen. In der neuen Edition erfährt man immerhin, daß es die Wendung "die gewaltige Nacht" schon bei Hölderlin gibt, der Titel "Nachtseele" in Maeterlincks Lyrik zu finden ist. Zu einer Hypothese über die Werkentstehung tragen diese Erläuterungen aber nichts bei.

Der Verzicht auf die Präsentation von Fassungen dürfte der lauteren Absicht entspringen, die Prozeßhaftigkeit von Trakls Werk zu betonen und dem Leser keine willkürlichen Vorentscheidungen über Form und Bedeutung des Texts aufzudrängen. Das ist, wenn man die Modernität Trakls heraustellen will, folgerichtig, erweist sich aber schnell als eher oberflächlich. Denn erstens folgt die Anordnung weiterhin der Lesekoordinate, die mit einer möglichen Produktionskoordinate unvermittelt bleibt; zweitens aber führt die Beigabe von Herausgeberzeichen zu den ersten acht Textstufen am Ende doch dazu, daß der ungezeichnete Phöbus-Text als notwendiges oder zwangsläufiges Resultat des Entstehungsprozesses erscheint.

Die Innsbrucker Ausgabe ist zweifellos eine gewaltige Arbeitsleistung und in vielen Einzelinformationen auch ein Fortschritt. Freilich mehr im sportlichen Sinne: Wie ein neuer Weltrekord nicht mehr beweist, als daß der Mensch noch schneller, höher oder weiter kann als bisher, so beweist auch die neue Trakl-Ausgabe vor allem, daß die Perfektionierung der Editionstechnik noch nicht an ihrem Ende angekommen ist.

In "Über Georg Trakl" hatte Walther Killy gefragt: "Wo ist die Nötigung, die dem Dichter in dem Gedicht ,Nachtseele' nicht nur zwei so verschiedene Schlüsse abforderte, sondern auch für die schönen Verse: ,Und es läuten im Grün die Schritte der Tänzerin/Die Nacht lang . . .' erst die beiden Möglichkeiten erwägen ließ: "Purpurn läuten Aglaias Locken . . .' ,und es läuten trunken die Schritte Liebender . . .'? Die Antwort auf diese Fragen wird nicht von der einzelnen Figur gegeben, sie liegt vielmehr im Ganzen des Gedichts beschlossen und wird von dem ineffabile bestimmt, daß der Dichter mittelbar zu machen trachtet." Die Eigenart von Trakls Dichtung sei weder dem Zufall noch etwa dem gefährdeten Gemüt eines Drogensüchtigen entsprungen, vielmehr gelte es, in einer Welt ohne Sinn und Sicherheit "Verhältnisse zu schaffen, unter denen überhaupt zu reden möglich ist." Solche Verhältnisse aber bleiben im Gedicht verschlossen. Die Bildlichkeit des Christentums und der griechischen Antike verschränken sich darin derart mit Schuld und Lust des trunken-enthusiastischen Nachtlebens, daß ein Reden zu einer mit der Geldwirtschaft beschäftigten Öffentlichkeit nur immer schwerer wird.

An den Herausgeber des "Brenner", seinen fürsorglichen Freund Ludwig von Ficker, schrieb Trakl im November 1913 einen einfachen, anrührenden Satz: "Es ist ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht." Das moderne Gedicht kann nicht, wie es zumindest die Hoffnung der klassischen Form der Selbstvergewisserung des Subjekts war, die Dinge symbolisch ins Geschick bringen und damit Orientierung ermöglichen. Allenfalls kann es die Widersprüche ins Verhältnis setzen, nichts anderes tut das Gedicht "Nachtseele". Zusammenhang ist in diesem schönen und noch immer befremdlichen Gedicht in den Bildbrüchen verborgen, ist immer nur möglicher und zu ahnender Zusammenhang, den der Leser des Gedichts je aktualisieren muß. Der allgemeinen Form ästhetischer Erfahrung in der modernen Lyrik entspricht die Technik der historisch-kritischen Edition aufgrund ihrer sowohl organizistischen wie positivistischen Hintergründe nur schlecht. Sie ermöglicht zwar die Erfahrung von Bruch und Riß, macht sie aber in der vorgetäuschten Greifbarkeit des Entstehungszusammenhangs wieder zunichte.

Für Leser, die sich angesichts der Gefährdung des modernen Gedichts germanistisch-technischer Bemächtigung lieber entziehen wollen, hält der Verlag eine paradoxe Alternative bereit: einen sehr schön gemachten, einmaligen Nachdruck der Originalausgaben der "Gedichte" und von "Sebastian im Traum". Mit solchen Widersprüchen kann der Leser in der Dämmerung des Buchwesens wohl leben.

Georg Trakl: "Dichtungen Sommer 1912 bis Frühjahr 1913". Sämtliche Werke in der Innsbrucker Ausgabe, Band II. Herausgegeben von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. 367 S., geb., 148,- DM, Subskriptionspreis 128,- DM.

Georg Trakl: "Gedichte/Sebastian im Traum". Nachdruck der Originalausgaben. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Basel und Frankfurt am Main 1995.67 S. u. 92 S., geb., zus. 98,- DM.

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