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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2021

Der verborgene Gott
Grete Weils endlich neu aufgelegter Roman „Tramhalte Beethovenstraat“
über die deutsche Besetzung der Niederlande
VON BURKHARD MÜLLER
Der „Verlag Das kulturelle Gedächtnis“ ist eine besondere Einrichtung. Der Verlag ist kein kommerzielles Unternehmen, sondern eine Art Bund literarisch interessierter Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Büchern, die es noch nie oder noch nie so oder schon lange nicht mehr zu lesen gab, einen Platz in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Das Verlagslogo zeigt einen Frosch, der einen Hecht reitet, dazu das lateinische Motto „astu non vi – mit List, nicht mit Gewalt“. Das diesjährige Frühjahrsprogramm umfasst unter anderem eine „Unerhörte Auswahl vergessener Wortschönheiten“, Boccaccios Büchlein zum Lob Dantes und eine Ausgabe des kaum mehr bekannten englischen Dichters John Clare aus dem 19. Jahrhundert.
Und es enthält Grete Weils Roman „Tramhalte Beethovenstraat“. Grete Weil, 1906 geboren und dem liberalen jüdischen Großbürgertum in Deutschland zugehörig, mit Max Beckmann, Franz Werfel, Klaus und Erika Mann bekannt, Autorin, Fotografin, Übersetzerin, Alpinistin, war in den späten Dreißigerjahren nach Holland emigriert, wo ihre Situation während der deutschen Besatzung von 1940 an jedoch immer prekärer wurde. Als sie 1943 deportiert werden sollte, tauchte sie unter. Nach Ende des Krieges ließ sie sich zum Entsetzen vieler ihrer Freunde wieder in Deutschland nieder. 1999 starb sie in Grünwald bei München.
Der Roman ist vor rund sechzig Jahren erstmals erschienen und war – trotz einer Schweizer Neuauflage Anfang der neunziger Jahre – nahezu in Vergessenheit geraten. Der Protagonist Andreas bewegt sich im Erfahrungsraum seiner Autorin: Er lebt während des Kriegs in Amsterdam, in der titelgebenden Beethoovenstraat, und bekommt mit, wie dort wöchentlich mit der Trambahn die Juden zur Verschleppung abgeholt werden. Er selbst ist nicht Jude, sondern ein junger Dichter, der für die reichsdeutsche Presse Stimmungsbilder über die deutsch-holländische Freundschaft zu schreiben hat, eine Aufgabe, die er verabscheut, aber die ihn davor bewahrt, an die Ostfront eingezogen zu werden.
Er ist ein Zauderer und Melancholiker, der darunter leidet, dass ihn die Einheimischen als Besatzer hassen. Als er es durch Zufall mit einigen der ansässigen Juden zu tun bekommt, entscheidet er sich spontan, ihnen zu helfen. Er versteckt die jüdische Fotografin Sabine (auch Grete Weil hatte damals in der Beethovenstraat ein Fotoatelier betrieben), obwohl sie eine Quasselstrippe ist, die er in seiner Einzimmerwohnung kaum erträgt; und er fühlt sich auf unklare Weise zu dem 17-jährigen Daniel Rosenbusch hingezogen, der seine dunklen Haare blond färbt wie ein Arier und in den Untergrund geht.
Ein jüdischer Widerstandskämpfer: Das kann natürlich nicht gut gehen; er wird gefasst und nach Osten deportiert, der Himmelsrichtung des Nichts, wie es im Buch heißt. Andreas’ verzweifelte Befreiungsversuche schlagen fehl. Von da an ist sein Leben eigentlich vorbei, wenigstens soweit es noch Neues zeitigen könnte. Er kehrt nach Deutschland zurück, heiratet Daniels Schwester Susanne, aus Auschwitz wieder aufgetaucht, die durch Rückübertragung von Vermögen reich geworden ist und felsenfest an das poetische Genie ihres Mannes glaubt. Aber Andreas bringt nichts Brauchbares mehr aufs Papier. Das Besondere dieses Buchs liegt in seinem hybriden Charakter zwischen Dokument und Fiktion. Der Dichter Andreas fühlt sich in der Pflicht, Zeugnis zu geben von den furchtbaren Dingen, die um ihn herum geschehen.
Doch es erweist sich, dass sich ihm diese zwei widersprüchlichen Anforderungen – Zeugnis und Dichtung – nicht fügen wollen, weswegen ihm nichts bleibt als ein zunehmend verzweifeltes Verstummen. Grete Weil kalibriert ihr Werk anders, indem sie einen Mann und (wenn auch unbehagliches) Mitglied der Reichsschrifttumskammer ins Zentrum rückt, also bei aller stofflichen Nähe erzählerisch auf Distanz geht zu dem, was ihr damals selbst widerfahren ist. Das könnte leicht schiefgehen, aber es gelingt.
Der Duktus des Romans ist womöglich noch zehn Jahre älter, als das Ersterscheinungsdatum 1963 vermuten lässt. Man fühlt sich an Wolfgang Koeppen und seine Trilogie aus den frühen Fünfzigern erinnert, besonders an „Tauben im Gras“. Auch bei Weil begegnet einem dieser träumerische Existenzialismus vor dem Hintergrund materieller Dürftigkeit; auch bei ihr tritt der kreativ impotente Dichter auf wie der irdische Platzhalter des damals beliebten Deus absconditus, des verborgenen Gottes, der angesichts der historischen Erfahrungen sein Haupt in schamvoller Ohnmacht verhüllt.
Nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben, hatte Adorno dekretiert, was implizierte: ein so kontingentes und frivoles Gebilde wie einen Roman erst recht nicht. Aber das Schweigen ist dem Schrecklichen der Geschichte noch weniger gemäß, weil es so elend nah am Verschweigen und damit am Vergessen steht. Wovon genau geschwiegen wird, lässt sich nicht ausmachen, weil alles Schweigen sich so sehr ähnelt.
Also muss, trotz allem, irgendwie gesprochen werden. Das haben einige Autoren in jüngster Vergangenheit als Ermächtigung verstanden, ihre kecken Erfindungen zur Nazi-Epoche unters Volk zu bringen, von Jonathan Littell bis Takis Würger, wobei sie sich darauf verlassen konnten: Hitler sells. Wer sich darüber aufregt, trägt noch zu ihrer Verbreitung bei, denn dann entsteht unfehlbar eine „Debatte“.
An Weils Buch wird sich keine Debatte anschließen. Sie weiß, was sie gesehen hat, und sagt es in schlichten Worten. Es hört sich so an: „Er wollte zum Fenster, konnte nicht, blieb wie gelähmt liegen, der Pyjama klebte an seiner Haut. Die Trambahnen fuhren an, das Rollen verhallte, Schritte entfernten sich, dann war es still. Er sah auf die Uhr, es war Viertel nach zwei; er versuchte zu lesen, sich nach Weimar zu flüchten, in das ironisch Bewundernde, doch die Ironie ging unter im Rollen der Trambahnen, das Buch fiel zu Boden, im Halbschlaf blieb er liegen, bis die van Lier mit dem Frühstück kam und spöttisch fragte: ‚Haben Sie gut geschlafen?‘ ‚Sehr gut‘, sagte er eigensinnig und starrte auf ihren mächtigen Busen, der dafür gemacht schien, sich an ihm auszuweinen.“
Das kommt nicht als hohe Literatur daher. Und doch entspricht es gerade so der Erschütterung des Feiglings, der im Folgenden über sich selbst hinauswächst. Selbst das Bedürfnis nach Ausweinen an einem mächtigen Busen ist hier nicht kitschig, sondern bloß wahr.
Meisterwerke über den Holocaust kann und sollte es nicht geben. Doch benötigt die Erinnerung, soll sie nicht im Namenlosen untergehen, einen Modus der Abstandsregelung. So hat Grete Weil zur Form des Romans gegriffen. Ist ihr das gelungen? Diese Frage führt nicht weiter. Es ist ihre Art gewesen, dem Gedächtnis, ihrem Gedächtnis treu zu bleiben. Und darum hat das Buch zu Recht seinen Platz in dieser Reihe gefunden.
Das Besondere dieses Buchs
liegt in seiner hybriden Form
zwischen Dokument und Fiktion
Grete Weil erlebte den Einmarsch der Deutschen 1940 in Amsterdam. 1943 tauchte sie unter.
Foto: SZ-PHOTO
Grete Weil: Tramhalte Beethovenstraat. Roman. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin, 2021. 192 Seiten, 22 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Burkhard Müller ist dem Verlag dankbar für die Wiederentdeckung des Romans der Fotografin Grete Weil. Wie die Autorin eigene Erinnerungen an Amsterdam während der deutschen Besatzung mit der Geschichte eines jungen Schriftstellers zwischen Pflicht (der Arbeit für die reichsdeutsche Presse) und Kür verbindet, der mit Schrecken die Judendeportationen beobachtet, scheint Müller lesenswert vor allem, da Weil die Balance zwischen Dokument und Fiktion im Buch gelingt. Der träumerisch existenzialistische Ton des erstmals 1963 erschienenen Romans erinnert Müller an Koeppen. Keine hohe Literatur, meint er, aber wahre.

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