Zeitängste "In der Dichtung, besser der Sprache, bis in die des Alltags hinein, droht die Auflösung überhandzunehmen. Die missverstandene Virulenz der Zeitkomponente, das Zu-Tode-Hetzen der Zeit bringt ein Zu-Tode-Gehetzt-Werden der Sprache mit sich. Die Abkürzungsmanie für die Namen von Institutionen, der wahllose Gebrauch der Wörter, die Massenhaftigkeit des täglich Gedruckten zeigen die Gefahr der Atomisierung der Sprache an. [...] Wie weit das gehen kann, zeigt der heutige Sport. In der Art, wie er heute betrieben wird, kommen diese Gefahren immer zum Ausdruck. Was einst Spiel war, wurde zum Rekordrausch. Die Hingabe des in der Zuschauer-Masse untergehenden einzelnen an ein wertloses Phänomen ist für die heutige Übergangsituation symptomatisch. Die Schnelligkeitssucht zeugt von der tiefgreifenden Angst vor der Zeit: jeder neue Rekord ist ein Schritt weiter in Richtung auf Tötung der Zeit (und damit auch der Seele und des Lebens). Die Rekordbegeisterung ist ein deutlicher Hinweis auf die prädominante Rolle des Zeitproblems: auch die Massenpsyche ist der Zeit verfallen; sie sucht sich ihrer durch eine negative Überwindung zu entledigen; jeder neue Rekord nähert uns dem Zeit Tod an, statt zur Zeitfreiheit zu führen. Diese Sucht, die Zeit negativ zu überwinden, wird überall sichtbar. Überall werden die bisherige Schwellenwerte überschritten; nicht nur das Radio, auch durch die Ultraschall-Flugzeuge oder (ein anderes extremes Beispiel) durch die medizinischen Bemühungen, die menschliche Lebensdauer zu verlängern; gerade auch diese Anstrengungen, ins Quantitative zu fliehen, sind aus Zeitangst geborene Zeitflucht, die vordergründig unseren Alltag beherrscht. [Jean Gebser]