Catherine Millet gilt in Frankreich als eine der wichtigsten Kunstkritikerinnen, ihre Fachbücher und Essays sind maßgebliche Beiträge zur Kulturgeschichte. Weltweit in Erstaunen versetzte sie Kritiker und Leser aber mit ihren Bestsellern »Das sexuelle Leben der Catherine M.« und »Eifersucht«, beides autobiografische Schilderungen ihrer intimen Erfahrungen.Traumhafte Kindheit schließt an diese beiden Werke an, Catherine Millet rekapituliert mit äußerster Präzision die Entwicklung ihrer Wahrnehmung, ihrer Gefühle und ihres Bewusstseins und spiegelt so anhand scharf beobachteter und packend erzählter Episoden, wie sich ihre Persönlichkeit bildete. Offen und frei spricht sie von der Einsamkeit, den diffusen Schuld- und Schamgefühlen, den Ängsten eines jungen Menschen, der seine eigene Familie als »Glutofen der Hölle« empfindet und sich nicht anders zu helfen weiß, als auf dem Schulhof das alltägliche Elend der Eltern in ausgeschmückten Schilderungen noch einmal zuzuspitzen, um den gesellschaftlichen Makel in Stoff für exklusive Geschichten zu verkehren.Mit der zärtlichen Stimme einer sensiblen Seherin und einer humorvollen und zugleich dem Ziel einer beobachtenden Objektivität folgenden Darstellung sozialer Abgründe eröffnet Catherine Millet dem Leser Einblicke in die Rätsel derSeele und zitiert wie nebenbei eine Fülle zeitgeschichtlicher Impressionen. Fotografisch genau erinnerte Details fügen sich zu einem Milieu- und Epochenbild, das die Autorin mit hohem Unterhaltungswert zu zeichnen versteht.Wer den Blick mit Millet auf seine eigene Kindheit zurücklenkt, wird in vielen der hier geschilderten Erfahrungen seine eigenen wiedererkennen und herausgefordert sein, sie besser zu verstehen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.2017Der heimische Herd als Glutofen der Hölle
Ebenso ungerührt, wie sie vor Jahren ihre reife Sexualität dargestellt hat, legt Catherine Millet nun ihre Herkunft offen mit dem Buch "Traumhafte Kindheit"
Der französische Bücherherbst hat eine alte Faszination wiedergeweckt: Wie in einer Ehe nach Jahren die Flamme unvermittelt aufflackert, hat sich die Leidenschaft für das Nachbarland neu belebt. Vergessen wird, dass sich in der deutsch-französischen Beziehung - wie in jeder Ehe - die Differenzen erst zeigen, wenn es hart auf hart kommt: in der Kindererziehung. Der Unterschied ist ein ähnlicher wie im Umgang mit der Natur. Zu einer geometrischen Parkanlage unterwerfen!, ruft der Franzose und greift zu Heckenschere oder schulischer Disziplin, und zwar so früh wie möglich. Das Mysterium des Lebens walten lassen, beruhigt der Deutsche; der Liebhaber des Landschaftsgartens hegt und pflegt das kindliche Eigenleben.
Das ist eine grobe Karikatur, die an vielen Enden nicht stimmt; einen wahren Kern hat sie dennoch. Die Auswirkungen der Erziehung jedenfalls kann man nicht überschätzen, denn sie begründet viele der kleinen Unterschiede, die für Anziehung oder Abstoßung sorgen. Ablesen kann man sie auch am Umgang der Erwachsenen mit der eigenen Kindheit: Wo viele Deutsche in Nostalgie schwelgen, ist die französische Rückschau oft nüchtern - handelt es sich doch um die Zeit, bevor man ein mündiger Bürger mit einer sozialen Situation war. Entsprechend unsentimental fallen manche Urteile aus: "Das Leben eines Kleinkindes ist buchstäblich von Angst umgeben, sie begrenzt den Raum, den es bewohnt." So Catherine Millet in "Traumhafte Kindheit": Zugegeben, sie treibt die Tendenz auf die Spitze.
Millet, Gründerin und Chefredakteurin von "Art Press", einer Kunstzeitschrift, die auf Französisch und Englisch erscheint, ist dem breiten Publikum in Deutschland 2001 bekannt geworden mit dem Bestseller "Das sexuelle Leben der Catherine M.". Der skandalumwitterte Text, der in seiner schonungslosen, reflektierten Offenheit weder pornographisch noch recht erotisch war, legt die vielseitige, paarungsfreudige Intimexistenz der Autorin ohne Scham frei. So sinnlich der Gegenstand, so rational die Organisation: Millet gliedert die Abschnitte nach Kriterien wie Zahl, Raum und so weiter Der Text zeigt eine eigenartige Mischung zwischen entfesselter Begierde und ordnender Ratio. Mit einem Fotoband und "Die Eifersucht" hat Millet das Thema vertieft und bis in paradoxen Wendungen hinein verfolgt.
"Traumhafte Kindheit" sammelt Millets Erinnerungen an Kindheit und Jugend. Die Offenheit hat sie bewahrt: So ungerührt, wie sie ihre reife Sexualität dargestellt hat, legt sie nun ihre Herkunft offen. Da ihre Familie eher einfachen Verhältnissen entstammt, zudem mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen hat - bitteres Zerwürfnis der Eltern sowie deren wechselnde Liebschaften, psychische Erkrankung der Mutter, beengte Wohnverhältnisse -, die stigmatisierend und langfristig belastend gewirkt haben dürften, überrascht die Gelassenheit der Autorin. Millet beweist erneut, dass sie ihrem Selbst mit einer gelungenen Mischung von Distanz und Empathie begegnet.
Auch wenn es wenig spektakulär ist: Zu erzählen hat Millet einiges. Ihre Eltern Louis und Simone, die sie mit ihren Vornamen benennt, sind Handelskorrespondent (später Autoverkäufer, dann Fahrlehrer) und Stenotypistin (später Sekretärin). Sie leben in wilder Ehe, heiraten 1939 und wohnen in Bois-Colombes, einer "kleinbürgerlichen Stadt nordwestlich von Paris", in wechselnden Mietwohnungen. Die durch den Krieg verursachte lange Abwesenheit des Vaters - er durchläuft diverse Gefangenenlager - lockert die Neigung erheblich. 1948 bekommen sie ein gemeinsames Kind, Catherine. Philippe, 1951 geboren, ist bereits die Frucht einer außerehelichen Affäre.
Den Konfliktzustand, der zur familiären Normalsituation wird, verwandelt die kleine Catherine von einer Schwäche in einer Stärke: "Wenn ich mich als ,ungewöhnlich' betrachten konnte, dann lag das daran, dass auch Simone und Louis Sonderlinge waren, und ich verdankte ihnen meine Besonderheit, die sich unter dem Einfluss ihres gegenseitigen Hasses herausgebildet hatte, wobei dieser Hass keineswegs die Liebe belastete, die beide ihren Kindern entgegenbrachten." Was an Leid darin steckt, merkt man in der Szene, als die Großmutter Catherine als Streitschlichter zwischen die sich prügelnden Eltern schiebt - der heimische Herd als "Glutofen der Hölle".
Nach außen macht Catherine sich interessant, weiß ihre Lebenserfahrung in soziales Kapital zu verwandeln und scheint das Mitleid Dritter dankend zu akzeptieren. Sie entkommt dem "Dauerdrama der Rue Philippe de Metz", indem sie sich bei ausgewogeneren, besser situierten Familien aufhält oder auf dem Pausenhof mit wilden Geschichten ein Publikum einnimmt. Bei einer intellektuell Begabten, die noch wenig von ihrem Talent weiß, entwickelt sich das, was sie als "Übertreibungen" und "Lügenmärchen" erkennt, untergründig zu einem Bewusstsein für die Macht der Sprache: "Wörter markieren den Mindestabstand, den man zwischen sich und dem Schmerz wahren darf."
Millet berichtet harte Stationen wie erste Erlebnisse von Einsamkeit und eine lebensgefährdende Verletzung. Der Ton des Buches wird davon nicht bestimmt, sie hat sich jene "Passivität" bewahrt, "die mich an der Oberfläche der Welt dahingleiten ließ". Beglückende Erfahrungen wie lange Ferien auf der bretonischen Halbinsel Quiberon und später im Süden, in Collioure und Guéthary, wirken nicht berauschend, aber befreiend. Selbiges gilt für die Beziehung zum Bruder: Philippe zeigt zuerst einen "tyrannischen und cholerischen" Charakter, übernimmt die Brutalität der Eltern; später jedoch machen die Geschwister gemeinsam Front. Er hält zu Catherine, als sie die familiäre Hölle vor dem Abitur mit einem großen Knall verlässt. Das Schicksal der anderen Familienmitglieder ist unerfreulich, viele sterben früh, allen voran Philippe, der keine 22 Jahre alt wird. Nur Catherine scheint (neben Talent) unerhörtes Glück gehabt zu haben. Rebellion kann auch eine Form von Selbsterhalt sein.
Zentral ist die Literatur: Verstreute Lektüren lassen bei der jungen Exzentrikerin eine Prätention reifen, mit der Catherine ihren Wundertier-Status weiterentwickelt. In den Fußstapfen von Jean-Paul Sartres "Die Wörter" untersucht Millet, wie die Attitüde dem Intellektuellendasein vorausgeht, wie aus jugendlicher Einbildung reale Begabung und Leidenschaft wurde; wie Sartre hat sie zugleich den Eindruck, zeit ihres Lebens durch das "rein geistige Leben", das ihre Existenz verdoppelt, "Chimären" aufgesessen zu sein.
Nun werden die Leser von "Das sexuelle Leben der Catherine M." fragen: und die Erotik? Tatsächlich berichtet Millet von ersten Lustempfindungen und Höschenspielen, die in den beengten Wohnverhältnissen nicht unbemerkt vonstatten gehen. Kommentar der Mutter, mit der sie das Bett teilt: "Hast du nicht bald genug, du kleines Luder!" Sie traumatisiert die Kleine, verhindert aber nicht die Geburt archetypischer Szenen, die Catherine jahre- und manchmal lebenslang in ihren Bann ziehen werden. Weiter gehen die Schilderungen nicht; die Entfaltung einer facettenreichen Sexualität beginnt später.
Im Zentrum von "Traumhafte Kindheit" - ein Titel, der wie im Original "Une enfance de rêve" eine ironische Nuance hat - steht die Geburt einer literarisch-künstlerischen Sensibilität. Die Befreiung ist zwar anfangs auch eine von der Literatur: "Von dem Moment an, in dem ich mein Schicksal, soweit möglich, selbst in die Hand nahm, hatte ich Freude daran, aktiv zu sein, mich in die konkrete Wirklichkeit zu stürzen, obwohl sie mir in mancher Hinsicht große Angst machte, und Leute kennenzulernen, Milieus und Lebensarten, von denen ich nichts geahnt hatte; all diese Dinge erlaubten es mir, meine Bedürfnisse und Ambitionen zum Teil umzusetzen, ohne dass ich meine kindlichen Träumereien anpassen musste, und ließen das Leben in den Romanen nichtig erscheinen." Doch als Ambitionen und Begierden gestillt sind, wird Millet zu literarischen Mitteln greifen, um sie zu verarbeiten - unprätentiös, elegant, zum größten Vergnügen der Leser.
NIKLAS BENDER
Catherine Millet:
"Traumhafte Kindheit".
Aus dem Französischen von Paul Sourzac. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2017. 240 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ebenso ungerührt, wie sie vor Jahren ihre reife Sexualität dargestellt hat, legt Catherine Millet nun ihre Herkunft offen mit dem Buch "Traumhafte Kindheit"
Der französische Bücherherbst hat eine alte Faszination wiedergeweckt: Wie in einer Ehe nach Jahren die Flamme unvermittelt aufflackert, hat sich die Leidenschaft für das Nachbarland neu belebt. Vergessen wird, dass sich in der deutsch-französischen Beziehung - wie in jeder Ehe - die Differenzen erst zeigen, wenn es hart auf hart kommt: in der Kindererziehung. Der Unterschied ist ein ähnlicher wie im Umgang mit der Natur. Zu einer geometrischen Parkanlage unterwerfen!, ruft der Franzose und greift zu Heckenschere oder schulischer Disziplin, und zwar so früh wie möglich. Das Mysterium des Lebens walten lassen, beruhigt der Deutsche; der Liebhaber des Landschaftsgartens hegt und pflegt das kindliche Eigenleben.
Das ist eine grobe Karikatur, die an vielen Enden nicht stimmt; einen wahren Kern hat sie dennoch. Die Auswirkungen der Erziehung jedenfalls kann man nicht überschätzen, denn sie begründet viele der kleinen Unterschiede, die für Anziehung oder Abstoßung sorgen. Ablesen kann man sie auch am Umgang der Erwachsenen mit der eigenen Kindheit: Wo viele Deutsche in Nostalgie schwelgen, ist die französische Rückschau oft nüchtern - handelt es sich doch um die Zeit, bevor man ein mündiger Bürger mit einer sozialen Situation war. Entsprechend unsentimental fallen manche Urteile aus: "Das Leben eines Kleinkindes ist buchstäblich von Angst umgeben, sie begrenzt den Raum, den es bewohnt." So Catherine Millet in "Traumhafte Kindheit": Zugegeben, sie treibt die Tendenz auf die Spitze.
Millet, Gründerin und Chefredakteurin von "Art Press", einer Kunstzeitschrift, die auf Französisch und Englisch erscheint, ist dem breiten Publikum in Deutschland 2001 bekannt geworden mit dem Bestseller "Das sexuelle Leben der Catherine M.". Der skandalumwitterte Text, der in seiner schonungslosen, reflektierten Offenheit weder pornographisch noch recht erotisch war, legt die vielseitige, paarungsfreudige Intimexistenz der Autorin ohne Scham frei. So sinnlich der Gegenstand, so rational die Organisation: Millet gliedert die Abschnitte nach Kriterien wie Zahl, Raum und so weiter Der Text zeigt eine eigenartige Mischung zwischen entfesselter Begierde und ordnender Ratio. Mit einem Fotoband und "Die Eifersucht" hat Millet das Thema vertieft und bis in paradoxen Wendungen hinein verfolgt.
"Traumhafte Kindheit" sammelt Millets Erinnerungen an Kindheit und Jugend. Die Offenheit hat sie bewahrt: So ungerührt, wie sie ihre reife Sexualität dargestellt hat, legt sie nun ihre Herkunft offen. Da ihre Familie eher einfachen Verhältnissen entstammt, zudem mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen hat - bitteres Zerwürfnis der Eltern sowie deren wechselnde Liebschaften, psychische Erkrankung der Mutter, beengte Wohnverhältnisse -, die stigmatisierend und langfristig belastend gewirkt haben dürften, überrascht die Gelassenheit der Autorin. Millet beweist erneut, dass sie ihrem Selbst mit einer gelungenen Mischung von Distanz und Empathie begegnet.
Auch wenn es wenig spektakulär ist: Zu erzählen hat Millet einiges. Ihre Eltern Louis und Simone, die sie mit ihren Vornamen benennt, sind Handelskorrespondent (später Autoverkäufer, dann Fahrlehrer) und Stenotypistin (später Sekretärin). Sie leben in wilder Ehe, heiraten 1939 und wohnen in Bois-Colombes, einer "kleinbürgerlichen Stadt nordwestlich von Paris", in wechselnden Mietwohnungen. Die durch den Krieg verursachte lange Abwesenheit des Vaters - er durchläuft diverse Gefangenenlager - lockert die Neigung erheblich. 1948 bekommen sie ein gemeinsames Kind, Catherine. Philippe, 1951 geboren, ist bereits die Frucht einer außerehelichen Affäre.
Den Konfliktzustand, der zur familiären Normalsituation wird, verwandelt die kleine Catherine von einer Schwäche in einer Stärke: "Wenn ich mich als ,ungewöhnlich' betrachten konnte, dann lag das daran, dass auch Simone und Louis Sonderlinge waren, und ich verdankte ihnen meine Besonderheit, die sich unter dem Einfluss ihres gegenseitigen Hasses herausgebildet hatte, wobei dieser Hass keineswegs die Liebe belastete, die beide ihren Kindern entgegenbrachten." Was an Leid darin steckt, merkt man in der Szene, als die Großmutter Catherine als Streitschlichter zwischen die sich prügelnden Eltern schiebt - der heimische Herd als "Glutofen der Hölle".
Nach außen macht Catherine sich interessant, weiß ihre Lebenserfahrung in soziales Kapital zu verwandeln und scheint das Mitleid Dritter dankend zu akzeptieren. Sie entkommt dem "Dauerdrama der Rue Philippe de Metz", indem sie sich bei ausgewogeneren, besser situierten Familien aufhält oder auf dem Pausenhof mit wilden Geschichten ein Publikum einnimmt. Bei einer intellektuell Begabten, die noch wenig von ihrem Talent weiß, entwickelt sich das, was sie als "Übertreibungen" und "Lügenmärchen" erkennt, untergründig zu einem Bewusstsein für die Macht der Sprache: "Wörter markieren den Mindestabstand, den man zwischen sich und dem Schmerz wahren darf."
Millet berichtet harte Stationen wie erste Erlebnisse von Einsamkeit und eine lebensgefährdende Verletzung. Der Ton des Buches wird davon nicht bestimmt, sie hat sich jene "Passivität" bewahrt, "die mich an der Oberfläche der Welt dahingleiten ließ". Beglückende Erfahrungen wie lange Ferien auf der bretonischen Halbinsel Quiberon und später im Süden, in Collioure und Guéthary, wirken nicht berauschend, aber befreiend. Selbiges gilt für die Beziehung zum Bruder: Philippe zeigt zuerst einen "tyrannischen und cholerischen" Charakter, übernimmt die Brutalität der Eltern; später jedoch machen die Geschwister gemeinsam Front. Er hält zu Catherine, als sie die familiäre Hölle vor dem Abitur mit einem großen Knall verlässt. Das Schicksal der anderen Familienmitglieder ist unerfreulich, viele sterben früh, allen voran Philippe, der keine 22 Jahre alt wird. Nur Catherine scheint (neben Talent) unerhörtes Glück gehabt zu haben. Rebellion kann auch eine Form von Selbsterhalt sein.
Zentral ist die Literatur: Verstreute Lektüren lassen bei der jungen Exzentrikerin eine Prätention reifen, mit der Catherine ihren Wundertier-Status weiterentwickelt. In den Fußstapfen von Jean-Paul Sartres "Die Wörter" untersucht Millet, wie die Attitüde dem Intellektuellendasein vorausgeht, wie aus jugendlicher Einbildung reale Begabung und Leidenschaft wurde; wie Sartre hat sie zugleich den Eindruck, zeit ihres Lebens durch das "rein geistige Leben", das ihre Existenz verdoppelt, "Chimären" aufgesessen zu sein.
Nun werden die Leser von "Das sexuelle Leben der Catherine M." fragen: und die Erotik? Tatsächlich berichtet Millet von ersten Lustempfindungen und Höschenspielen, die in den beengten Wohnverhältnissen nicht unbemerkt vonstatten gehen. Kommentar der Mutter, mit der sie das Bett teilt: "Hast du nicht bald genug, du kleines Luder!" Sie traumatisiert die Kleine, verhindert aber nicht die Geburt archetypischer Szenen, die Catherine jahre- und manchmal lebenslang in ihren Bann ziehen werden. Weiter gehen die Schilderungen nicht; die Entfaltung einer facettenreichen Sexualität beginnt später.
Im Zentrum von "Traumhafte Kindheit" - ein Titel, der wie im Original "Une enfance de rêve" eine ironische Nuance hat - steht die Geburt einer literarisch-künstlerischen Sensibilität. Die Befreiung ist zwar anfangs auch eine von der Literatur: "Von dem Moment an, in dem ich mein Schicksal, soweit möglich, selbst in die Hand nahm, hatte ich Freude daran, aktiv zu sein, mich in die konkrete Wirklichkeit zu stürzen, obwohl sie mir in mancher Hinsicht große Angst machte, und Leute kennenzulernen, Milieus und Lebensarten, von denen ich nichts geahnt hatte; all diese Dinge erlaubten es mir, meine Bedürfnisse und Ambitionen zum Teil umzusetzen, ohne dass ich meine kindlichen Träumereien anpassen musste, und ließen das Leben in den Romanen nichtig erscheinen." Doch als Ambitionen und Begierden gestillt sind, wird Millet zu literarischen Mitteln greifen, um sie zu verarbeiten - unprätentiös, elegant, zum größten Vergnügen der Leser.
NIKLAS BENDER
Catherine Millet:
"Traumhafte Kindheit".
Aus dem Französischen von Paul Sourzac. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2017. 240 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensentin Julia Dettke mag die Offenheit der französischen Schriftstellerin Catherine Millet. Dass es in der nun auch auf Deutsch vorliegenden Geschichte ihrer Kindheit weniger skandalös zugeht als in den Vorgängerromanen, ist für die Kritikerin dennoch kein Verlust: Mit "Traumhafte Kindheit" hält sie das ihrer Meinung nach "schönste" Buch der Autorin in den Händen, denn wenngleich Millet ihr hier von der psychischen Erkrankung ihrer Mutter, den ständigen Streitereien ihrer Eltern und den brutalen Gewaltausbrüchen ihres Vaters erzählt, besticht das Buch doch durch Einfühlungsvermögen und eine "rhythmische" und bildreiche Sprache, schwärmt die Rezensentin, die Millets Erzählkunst eine "universelle" Größe attestiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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