Als 1926 die wohl vieldeutigste von Arthur Schnitzlers Erzählungen zum erstenmal erschien, durchlief die Wiener Gesellschaft ein Schauder. Die Gnadenlosigkeit, mit der Schnitzler darin den Seelengrund eines gesitteten Ehepaares bloßlegt, schockierte die Gemüter mehr noch, als dies sein Reigen getan hatte. Und doch ist es nicht der Blick in den Abgrund der Triebwelt, ist es nicht die Schilderung vorgestellter oder vielleicht gar gelebter Orgien, was an dieser Novelle bis heute so schockiert und fasziniert. Es sind auch nicht die Träume, die Albertine und ihr Mann Fridolin sich wechselseitig beichten. Es ist die Erkenntnis, daß kein Traum nur »völlig Traum« ist. Nicht allein Schnitzlers Ehepaar dürfte davon »erwacht« sein.
Die Traumnovelle diente Stanley Kubrick zu seinem letzten Film: dem Welterfolg »Eyes Wide Shut« (1999) - als literarische Vorlage.
Die Traumnovelle diente Stanley Kubrick zu seinem letzten Film: dem Welterfolg »Eyes Wide Shut« (1999) - als literarische Vorlage.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.06.2004 Band 12
Der unheimliche Reiz der Maske
Arthur Schnitzlers „Traumnovelle”
Am Anfang liest ein Kind sich selbst in den Schlaf. Ein orientalischer Prinz, den Galeerensklaven zum Palast des Kalifen rudern, liegt unter einem dunkelblauen, sternenübersäten Nachthimmel auf dem Verdeck. Was sein Blick dabei erfasst, erfährt der Leser nie, denn nach einem Gedankenstrich fallen dem Kind die Augen zu - die Eltern, der Arzt Fridolin und seine Frau Albertine, lächeln einander an, nehmen ihr Gespräch wieder auf und geraten dabei in heikle Gefilde.
Den geheimnisvollen Nachthimmel, der sich über abgebrochenen Abenteuern wölbt, wird in Arthur Schnitzlers „Traumnovelle” (1926) das halbmoderne Wien, in dem man schon Telefon hat, aber noch Kutsche fährt, nicht mehr los. Alles steht hier unter dem Gesetz der Zweideutigkeit. Nichts gewinnt den scharfen Umriss, den die Novellenform verspricht, an die Stelle der einen unerhörten Begebenheit treten Episoden, immer neue Unterbrechungen, Abschweifungen. Der Erzählfaden, an dem sie aufgereiht sind, führt immer tiefer in das Labyrinth der Nacht hinein.
Das beginnt mit der Erinnerung der Eheleute an jenen am Vorabend erlebten Ball, den Stanley Kubrick in seiner großartigen Verfilmung der Novelle („Eyes wide shut”, 1999) so opulent in Szene gesetzt hat. Durch rückhaltlose Aufrichtigkeit und wechselseitige Geständnisse des Spiels mit der Untreue wollen sie den unheimlichen Reiz der Verlockungen anonymer Liebesabenteuer bannen. Aber niemand legt in diesen Nächten am Ende der Faschingszeit ungestraft seine Maske ab.
Die Spannung, die aus dem Allheilmittel aller Eheberater, dem Gespräch, entsteht, bleibt unaufgelöst. Fridolin wird in das Haus eines Kranken gerufen, das sich bei seiner Ankunft bereits in ein Sterbehaus verwandelt hat. Den Avancen der Tochter des Toten folgen auf der Straße die einer jungen Prostituierten. So gleitet der bürgerliche Arzt und Ehemann, geleitet von einem zwielichtigen Musikanten, vorbei an zwei Altwienern, dem Tod und der Dirne, in die längste Episode der Nacht hinein, am Theaterbezirk und einem Kostümverleih vorbei, in schaukelnder Kutsche und Mönchsgewand stadtauswärts, hin zu der Villa, in der eine feudale Geheimgesellschaft strenge Rituale der Lust inszeniert. Was dem bald ertappten Eindringling auf diesem Maskenball wiederfährt, wie er am nächsten Tag dem Geheimnis der Nacht nachspürt und schließlich im Traum seiner Frau das eigene Abenteuer überboten findet, sei hier nicht verraten.
Arthur Schnitzler (1862 bis 1931) hat diesen Stoff seit der Jahrhundertwende mit sich herumgetragen, durch die Krisenjahre seiner Ehe hindurch. Erst nach der Scheidung im Jahre 1921 hat er ihn ausgearbeitet. Seine großen Obsessionen sind in dieses Spätwerk eingegangen: die Untreue, das Theater und die Literatur. Die Traumwelt, die alle drei verbindet, schreibt der Darstellung des Lebens die Gesetze vor. Aber es sind die Gesetze des Erzählers Arthur Schnitzler, nicht die des Traumdeuters Sigmund Freud, als dessen Doppelgänger die Nachwelt Schnitzler gerne sieht. Dieses Doppelgängertum war nur Maskerade, wie das Kostüm aus Schauerroman und Kolportage, das Schnitzler der „Traumnovelle” übergeworfen hat. Wenn die Eheleute am Enden wieder zusammenfinden, erschöpft ebenso sehr vom Erzählen der Träume wie vom Erleben des Traumhaften, bewundert der Leser, der ihrer Versöhnung kaum traut, die glanzvolle Selbstbehauptung der Literatur gegenüber der Psychoanalyse.
LOTHAR MÜLLER
Arthur Schnitzler
Foto: SV-Bilderdienst
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Der unheimliche Reiz der Maske
Arthur Schnitzlers „Traumnovelle”
Am Anfang liest ein Kind sich selbst in den Schlaf. Ein orientalischer Prinz, den Galeerensklaven zum Palast des Kalifen rudern, liegt unter einem dunkelblauen, sternenübersäten Nachthimmel auf dem Verdeck. Was sein Blick dabei erfasst, erfährt der Leser nie, denn nach einem Gedankenstrich fallen dem Kind die Augen zu - die Eltern, der Arzt Fridolin und seine Frau Albertine, lächeln einander an, nehmen ihr Gespräch wieder auf und geraten dabei in heikle Gefilde.
Den geheimnisvollen Nachthimmel, der sich über abgebrochenen Abenteuern wölbt, wird in Arthur Schnitzlers „Traumnovelle” (1926) das halbmoderne Wien, in dem man schon Telefon hat, aber noch Kutsche fährt, nicht mehr los. Alles steht hier unter dem Gesetz der Zweideutigkeit. Nichts gewinnt den scharfen Umriss, den die Novellenform verspricht, an die Stelle der einen unerhörten Begebenheit treten Episoden, immer neue Unterbrechungen, Abschweifungen. Der Erzählfaden, an dem sie aufgereiht sind, führt immer tiefer in das Labyrinth der Nacht hinein.
Das beginnt mit der Erinnerung der Eheleute an jenen am Vorabend erlebten Ball, den Stanley Kubrick in seiner großartigen Verfilmung der Novelle („Eyes wide shut”, 1999) so opulent in Szene gesetzt hat. Durch rückhaltlose Aufrichtigkeit und wechselseitige Geständnisse des Spiels mit der Untreue wollen sie den unheimlichen Reiz der Verlockungen anonymer Liebesabenteuer bannen. Aber niemand legt in diesen Nächten am Ende der Faschingszeit ungestraft seine Maske ab.
Die Spannung, die aus dem Allheilmittel aller Eheberater, dem Gespräch, entsteht, bleibt unaufgelöst. Fridolin wird in das Haus eines Kranken gerufen, das sich bei seiner Ankunft bereits in ein Sterbehaus verwandelt hat. Den Avancen der Tochter des Toten folgen auf der Straße die einer jungen Prostituierten. So gleitet der bürgerliche Arzt und Ehemann, geleitet von einem zwielichtigen Musikanten, vorbei an zwei Altwienern, dem Tod und der Dirne, in die längste Episode der Nacht hinein, am Theaterbezirk und einem Kostümverleih vorbei, in schaukelnder Kutsche und Mönchsgewand stadtauswärts, hin zu der Villa, in der eine feudale Geheimgesellschaft strenge Rituale der Lust inszeniert. Was dem bald ertappten Eindringling auf diesem Maskenball wiederfährt, wie er am nächsten Tag dem Geheimnis der Nacht nachspürt und schließlich im Traum seiner Frau das eigene Abenteuer überboten findet, sei hier nicht verraten.
Arthur Schnitzler (1862 bis 1931) hat diesen Stoff seit der Jahrhundertwende mit sich herumgetragen, durch die Krisenjahre seiner Ehe hindurch. Erst nach der Scheidung im Jahre 1921 hat er ihn ausgearbeitet. Seine großen Obsessionen sind in dieses Spätwerk eingegangen: die Untreue, das Theater und die Literatur. Die Traumwelt, die alle drei verbindet, schreibt der Darstellung des Lebens die Gesetze vor. Aber es sind die Gesetze des Erzählers Arthur Schnitzler, nicht die des Traumdeuters Sigmund Freud, als dessen Doppelgänger die Nachwelt Schnitzler gerne sieht. Dieses Doppelgängertum war nur Maskerade, wie das Kostüm aus Schauerroman und Kolportage, das Schnitzler der „Traumnovelle” übergeworfen hat. Wenn die Eheleute am Enden wieder zusammenfinden, erschöpft ebenso sehr vom Erzählen der Träume wie vom Erleben des Traumhaften, bewundert der Leser, der ihrer Versöhnung kaum traut, die glanzvolle Selbstbehauptung der Literatur gegenüber der Psychoanalyse.
LOTHAR MÜLLER
Arthur Schnitzler
Foto: SV-Bilderdienst
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