Mit einer Geschichte aus alter Zeit eröffnet Khaled Hosseini seinen lang erwarteten neuen Roman. Das Märchen wird Leitmotiv des Buches werden, denn darin liefert ein armer Bauer einen seiner Söhne einem Dämon aus. Das Opfer hilft, all die anderen Kinder zu verschonen, doch die Entscheidung vergiftet fortan das Leben des Bauern. Nach Jahren beschließt er, seinen Sohn zu suchen, und nach mühsamer Wanderung findet er den Dämon. Was er sieht, lässt ihn allerdings allein zurückkehren, denn sein Sohn scheint fröhlich, wohlgenährt und lebt inmitten anderer glücklicher Kinder, einem Paradies. Er hätte ihm all das nicht bieten können.
Auch in „Traumsammler“ muss die kleine Pari mit vier Jahren ihre bitterarme Familie verlassen und wird von ihrem sie innig liebenden Bruder Abdullah getrennt. Die reiche Familie Wahdati in Kabul adoptiert sie Anfang der 1950er-Jahre. Die Idee dazu kam von Onkel Nabi. Der Schmerz, der Verlust, wird die Geschwister ihr Leben lang begleiten – auch wenn Pari nicht bewusst erinnert, was ihr widerfahren ist. Immer ist da eine schreckliche Leere in ihr …
Bis hierhin verfolgen wir die Geschichte von Pari und Abdullah linear, dann bricht Hosseini die Erzählstruktur auf, wechselt Zeiten und Orte und präsentiert weitere Figuren und ihre Geschichte. Zum Beispiel Onkel Nabi und sein Leben in Kabul als Chauffeur und Diener Suleiman Wahdatis und seine schöne Frau Nila, die Eltern von Pari. Nach einem Schlaganfall des Hausherrn flieht Nila aus der unglücklichen Ehe nach Frankreich, und wir folgen ihr – und Pari – ins Paris der 1970er-Jahre. Dort führt sie eine Buchhandlung, schreibt Lyrik und betäubt ihre Sehnsucht mit wechselnden Liebhabern und Alkohol. Pari erfährt erst nach dem Freitod der Mutter, dass sie adoptiert bzw. verkauft wurde, Nila also nicht ihre leibliche Mutter ist. Dass sie einen Bruder hat, davon wird Pari erst viel später hören.
Wir begegnen dem Exilafghanen Timur, der sich in seiner kalifornischen Heimat nach dem 11. September 2001 nur noch Tim nennt. Er ist zum ersten Mal nach fast 20 Jahren wieder in Afghanistan – angeblich, weil er dem Land etwas zurückgeben möchte, in Wirklichkeit aber will er den Besitz der Familie zurückfordern. „Er geht durch die Stadt, als wäre er hier zu Hause, klopft Einheimischen großspurig auf den Rücken, nennt sie Bruder, Schwester, Onkel, bläst sich mächtig auf, wenn er Bettlern Geld gibt, scherzt mit alten Frauen, die er mit Mutter anredet und dazu bringt, ihre Geschichte vor laufendem Camcorder zu erzählen, indem er sich betroffen gibt und so tut, als wäre er einer von ihnen, als hätte er das Land nie verlassen und nicht in San José im Fitnessstudio Gewichte gestemmt, während diese Menschen bombardiert, massakriert und vergewaltigt wurden.“ Dieses unsensible Auftreten von Timur in der ehemaligen Heimat ist ein wichtiges Thema bei Hosseini, genauso wie die Scham vieler Exilanten ob ihrer Unversehrtheit, ihres Wohlstandes im Westen und ihres Lebens dort in einer anderen Kultur. Was macht der Verlust der Heimat, die Zerstörung der Heimat, der Verlust von Traditionen mit Menschen? Welche Verwüstungen richtet die Entwurzelung an, welche Chancen birgt sie? Wie verändern sich Menschen im Krieg, durch den Krieg? Das sind die großen Fragen, die Hosseini in „Traumsammler“ anhand seiner Figuren erzählt und umkreist.
Idris, Arzt und Exilafghane, kämpft ebenso damit. Er kehrt von einem Besuch aus Kabul zu seiner Familie in die USA zurück und spürt, dass seine Söhne keine Verbindung mehr zu dem Land haben, in dem er geboren wurde. Sie spielen lieber Nintendo, als länger den Erzählungen ihres Vaters über zerbombte Schulen oder das zwischen Trümmern entstehende Fitnessstudio in Kabul zuzuhören. Eine neue Generation wird ein ganz anderes Leben führen – das ist gut so und hinterlässt doch eine Leerstelle, mit der umgegangen werden muss. Alle Figuren in „Traumsammler“ gehen unterschiedlich mit diesen Verletzungen um und alle sind auf irgendeine Weise miteinander verbunden. So wird auch das lose Band zwischen Pari und Abdullah nach 58 Jahren wieder fest geknüpft werden: Ein Brief – Vermächtnis und Lebensgeschichte Onkel Nabis – eröffnet Pari, dass sie einen Bruder hat. Überbringer der Nachricht: der griechische Arzt Dr. Markos Varvaris. Er gab seine Praxis in Athen auf, um sich um Kriegsverletzte in Kabul zu kümmern und lebt nun im Haus von Paris’ Eltern in Kabul. Bruder und Schwester schließen sich nach fast 60 Jahren wieder in die Arme und Pari weiß nun, dass ihr Gefühl, „dass in ihrem Leben irgendetwas oder irgendjemand von grundlegender Bedeutung fehlte“ all die Jahre richtig war. In „Traumsammler“ beweist Khaled Hosseini, was für ein wunderbarer Geschichtenerzähler er ist. Ein moderner, anrührender und packender Roman über das Leben – seine Verwüstungen, aber auch seine Wunder.
Auch in „Traumsammler“ muss die kleine Pari mit vier Jahren ihre bitterarme Familie verlassen und wird von ihrem sie innig liebenden Bruder Abdullah getrennt. Die reiche Familie Wahdati in Kabul adoptiert sie Anfang der 1950er-Jahre. Die Idee dazu kam von Onkel Nabi. Der Schmerz, der Verlust, wird die Geschwister ihr Leben lang begleiten – auch wenn Pari nicht bewusst erinnert, was ihr widerfahren ist. Immer ist da eine schreckliche Leere in ihr …
Bis hierhin verfolgen wir die Geschichte von Pari und Abdullah linear, dann bricht Hosseini die Erzählstruktur auf, wechselt Zeiten und Orte und präsentiert weitere Figuren und ihre Geschichte. Zum Beispiel Onkel Nabi und sein Leben in Kabul als Chauffeur und Diener Suleiman Wahdatis und seine schöne Frau Nila, die Eltern von Pari. Nach einem Schlaganfall des Hausherrn flieht Nila aus der unglücklichen Ehe nach Frankreich, und wir folgen ihr – und Pari – ins Paris der 1970er-Jahre. Dort führt sie eine Buchhandlung, schreibt Lyrik und betäubt ihre Sehnsucht mit wechselnden Liebhabern und Alkohol. Pari erfährt erst nach dem Freitod der Mutter, dass sie adoptiert bzw. verkauft wurde, Nila also nicht ihre leibliche Mutter ist. Dass sie einen Bruder hat, davon wird Pari erst viel später hören.
Wir begegnen dem Exilafghanen Timur, der sich in seiner kalifornischen Heimat nach dem 11. September 2001 nur noch Tim nennt. Er ist zum ersten Mal nach fast 20 Jahren wieder in Afghanistan – angeblich, weil er dem Land etwas zurückgeben möchte, in Wirklichkeit aber will er den Besitz der Familie zurückfordern. „Er geht durch die Stadt, als wäre er hier zu Hause, klopft Einheimischen großspurig auf den Rücken, nennt sie Bruder, Schwester, Onkel, bläst sich mächtig auf, wenn er Bettlern Geld gibt, scherzt mit alten Frauen, die er mit Mutter anredet und dazu bringt, ihre Geschichte vor laufendem Camcorder zu erzählen, indem er sich betroffen gibt und so tut, als wäre er einer von ihnen, als hätte er das Land nie verlassen und nicht in San José im Fitnessstudio Gewichte gestemmt, während diese Menschen bombardiert, massakriert und vergewaltigt wurden.“ Dieses unsensible Auftreten von Timur in der ehemaligen Heimat ist ein wichtiges Thema bei Hosseini, genauso wie die Scham vieler Exilanten ob ihrer Unversehrtheit, ihres Wohlstandes im Westen und ihres Lebens dort in einer anderen Kultur. Was macht der Verlust der Heimat, die Zerstörung der Heimat, der Verlust von Traditionen mit Menschen? Welche Verwüstungen richtet die Entwurzelung an, welche Chancen birgt sie? Wie verändern sich Menschen im Krieg, durch den Krieg? Das sind die großen Fragen, die Hosseini in „Traumsammler“ anhand seiner Figuren erzählt und umkreist.
Idris, Arzt und Exilafghane, kämpft ebenso damit. Er kehrt von einem Besuch aus Kabul zu seiner Familie in die USA zurück und spürt, dass seine Söhne keine Verbindung mehr zu dem Land haben, in dem er geboren wurde. Sie spielen lieber Nintendo, als länger den Erzählungen ihres Vaters über zerbombte Schulen oder das zwischen Trümmern entstehende Fitnessstudio in Kabul zuzuhören. Eine neue Generation wird ein ganz anderes Leben führen – das ist gut so und hinterlässt doch eine Leerstelle, mit der umgegangen werden muss. Alle Figuren in „Traumsammler“ gehen unterschiedlich mit diesen Verletzungen um und alle sind auf irgendeine Weise miteinander verbunden. So wird auch das lose Band zwischen Pari und Abdullah nach 58 Jahren wieder fest geknüpft werden: Ein Brief – Vermächtnis und Lebensgeschichte Onkel Nabis – eröffnet Pari, dass sie einen Bruder hat. Überbringer der Nachricht: der griechische Arzt Dr. Markos Varvaris. Er gab seine Praxis in Athen auf, um sich um Kriegsverletzte in Kabul zu kümmern und lebt nun im Haus von Paris’ Eltern in Kabul. Bruder und Schwester schließen sich nach fast 60 Jahren wieder in die Arme und Pari weiß nun, dass ihr Gefühl, „dass in ihrem Leben irgendetwas oder irgendjemand von grundlegender Bedeutung fehlte“ all die Jahre richtig war. In „Traumsammler“ beweist Khaled Hosseini, was für ein wunderbarer Geschichtenerzähler er ist. Ein moderner, anrührender und packender Roman über das Leben – seine Verwüstungen, aber auch seine Wunder.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2013Dieses süße Gift des Vergessens
Khaled Hosseini ist durch "Drachenläufer" weltberühmt geworden. Jetzt erscheint sein neuer Roman "Traumsammler", und er ist noch besser.
Von Anja Hirsch
Der Weg nach Kabul ist beschwerlich für den Vater mit seinen beiden Kindern. Immer ferner rückt ihr Heimatdorf, wo man Brot im Tandoor backt, wo man im Lehmziegelhaus wohnt und die harten Winter kaum übersteht. Vor kurzem erst ist ein anderes Mitglied der Familie gestorben, Omar, noch ein Baby. Jetzt sitzt die vierjährige Pari in einem Karren, ihr älterer Bruder Abdullah läuft nebenher, der Vater zieht. Am Abend noch hat er den Kindern eine Geschichte erzählt, der Vater erzählt wunderbar. Aber es liegt ein Schatten über der kleinen Karawane, die ihren Weg fortsetzt durch die Wüste, vorbei an kupferroten Schluchten und Sandsteinklippen, winzige Menschen, hingegossen wie auf Großleinwand.
Wanderungen in ein anderes Leben sind die Grundbewegung der Romane von Khaled Hosseini, der vom großen Erfolg seines Debüts "Drachenläufer" (2003) selbst überrascht war. Nach "Tausend strahlende Sonnen" legt er jetzt seinen dritten Roman vor, "Traumsammler", noch eindringlicher erzählt. Auch hier kann man nicht anders, als sofort Schritt zu halten mit den Figuren, mit den Kindern, die bald die Stadt erreichen.
Was für eine andere Welt. Sie besuchen eine angesehene Familie, die dem Vater Arbeit vermitteln soll. Sie bestaunen die vielen Kekssorten und die ovalen Manschettenknöpfe aus Lapislazuli. Dann nimmt sie die mondäne Frau des Hauses mit auf den Basar. Pari bekommt gelbe Schuhe, und Abdullah protestiert, obwohl alles verführerisch schön ist, aber auch falsch und verstörend unter dem Make-up dieser schlanken Frau. Er erinnert sich, wie er einmal sein einziges Paar Schuhe gegen eine schöne Feder eintauschte, die er Pari schenkte, und wie glücklich sie war. Niemand bereitet einen auf das vor, was der Autor schon weiß und der Junge ahnt: dass die kleine Pari an jenem Tag bei dieser Frau bleiben wird, weil es "das Beste" wäre. Und dass sie diesen älteren Bruder, der alles für sie tut, irgendwann vergessen haben wird. Ihr bleibt nur das unbestimmte Gefühl, dass etwas fehlt. Ein Leben vergeht, bis sie wieder aufeinandertreffen.
Das Überlebenmüssen, das immer mitschwingt, bewahrt diese Prosa davor, ins Sentimentale abzugleiten. Sie handelt vom Verlieren und Wiederfinden und erzählt die beklemmende Geschichte von Krieg und Frieden, so schön und schrecklich und wechselhaft sie ist. Hosseini, 1965 in Kabul geboren, verließ Afghanistan mit der Familie 1976, und zog zunächst nach Paris. Als sein Vater in Amerika um politisches Asyl ersuchte, war er fünfzehn. Er wurde Internist und schrieb morgens vor der Arbeit. "Drachenläufer" erschien in siebzig Ländern und wurde millionenfach verkauft. Inzwischen hat Hosseini eine Stiftung ins Leben gerufen. Als Sonderbotschafter der Vereinten Nationen spricht er für Flüchtlinge und reist viel. Die Wirklichkeit hat sich in seine Literatur eingegraben.
Pari, das verkaufte Mädchen, verlieren wir lange aus den Augen. Khaled Hosseini interessiert sich für alle Akteure, für die innere Architektur dieser kriegsgeschüttelten Welt. Da ist ein griechischer Arzt, der nach Kabul geht und dort Jahre bleibt - warum eigentlich? Oder zwei Cousins, die fliehen mussten und in Amerika ein neues Leben haben. Die Neugier, die Sehnsucht, die Ohnmacht und vielleicht noch ein paar andere unbestimmte Motive treiben sie nach Kabul zurück, wo sie ein Krankenhaus besichtigen - der eine schon mit einem Bein wieder im Westen, der andere ganz im Bann des Erlebten.
Da liegt Roshi mit der Kopfwunde, ein kleines Mädchen. Der Onkel hatte wegen Grundbesitzstreitigkeiten nach der Axt gegriffen und ihre Familie getötet. Roshi überlebte. Eine Operation könnte sie retten. Aber Roshis Gesicht, ihr Lachen, ihre Zuneigung zum neu gewonnenen Freund, der sie täglich besucht, verblassen, als der wieder in Kalifornien ist. "Im Laufe eines Monats ist Roshi für ihn so abstrakt geworden wie die Figur eines Theaterstücks." Wie ein beruhigendes Gift legt sich das Vergessen in den gefüllten Tag.
Manchmal verliert sich eine Spur, und man ertappt sich dabei, wie man nach einer dieser Figuren sucht. Obwohl Hosseini so lebendig erzählt, bleibt im Nachhall vor allem das Nicht-Erzählte, das Abgerissene. Man will wissen, wie es diesem und jenem geht. Man muss aber ständig loslassen und seine Meinung neu justieren. Nali zum Beispiel, die neue Mutter von Pari, "das Beste" fürs afghanische Dorfmädchen, erweist sich als ziemlich erdrückend. Die Freiheit, die sie predigt und schenkt, erkauft sie durch emotionalen Druck. Aber dann blendet Hosseini ein langes, berührendes Interview ein, das die alkoholkranke Lyrikerin einer Zeitschrift gibt. Sie erzählt, was ihr vor Jahrzehnten zugefügt wurde, und alles ist wieder anders, als man denkt. "Jenseits unserer Vorstellungen / Von guten und schlechten Taten / Erstreckt sich ein Feld. / Dort werde ich dich treffen." Diese Verse des Dichters Dschalaluddin Rumi aus dem dreizehnten Jahrhundert stellt Khaled Hosseini seinem Roman voran. Ebendies ist das Feld, das er selbst hier bestellt.
Die Eröffnungsgeschichte ist dabei wie ein geheimer Schlüssel, den man immer wieder dreht und wendet. Sie handelt von einem Dämon, der jedes Jahr aus einer Familie ein Kind wegholt. Man spürt den unendlichen Schmerz eines Vaters, der seinen Jüngsten ziehen lässt, sein Lieblingskind, weil es das Los so entschied. Irgendwann folgt er dem Dämon nach. Er will mit ihm kämpfen. Aber der Dämon zeigt ihm den Sohn, spielend und glücklich inmitten eines Paradieses. Der Vater könnte ihn sofort mitnehmen, zurück in das arme Dorf, aber das Kind dürfte nie mehr ins Paradies. Der Vater zerbricht abermals über dieser Entscheidung, aber er lässt den Sohn dort. Einen Trank, um zu vergessen, den der Dämon ihm dann gnädigerweise gibt, hätten einige der Figuren in Hosseinis Roman bitter nötig.
Stattdessen müssen sie wachsen und kämpfen und manchmal eben sehr kompliziert lieben. Khaled Hosseini hat ein aufklärerisches und zutiefst menschliches Buch geschrieben, klangprächtig wie eine große Partitur, die man lesend erweckt. Nur zu.
Khaled Hosseini: "Traumsammler". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 443 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Khaled Hosseini ist durch "Drachenläufer" weltberühmt geworden. Jetzt erscheint sein neuer Roman "Traumsammler", und er ist noch besser.
Von Anja Hirsch
Der Weg nach Kabul ist beschwerlich für den Vater mit seinen beiden Kindern. Immer ferner rückt ihr Heimatdorf, wo man Brot im Tandoor backt, wo man im Lehmziegelhaus wohnt und die harten Winter kaum übersteht. Vor kurzem erst ist ein anderes Mitglied der Familie gestorben, Omar, noch ein Baby. Jetzt sitzt die vierjährige Pari in einem Karren, ihr älterer Bruder Abdullah läuft nebenher, der Vater zieht. Am Abend noch hat er den Kindern eine Geschichte erzählt, der Vater erzählt wunderbar. Aber es liegt ein Schatten über der kleinen Karawane, die ihren Weg fortsetzt durch die Wüste, vorbei an kupferroten Schluchten und Sandsteinklippen, winzige Menschen, hingegossen wie auf Großleinwand.
Wanderungen in ein anderes Leben sind die Grundbewegung der Romane von Khaled Hosseini, der vom großen Erfolg seines Debüts "Drachenläufer" (2003) selbst überrascht war. Nach "Tausend strahlende Sonnen" legt er jetzt seinen dritten Roman vor, "Traumsammler", noch eindringlicher erzählt. Auch hier kann man nicht anders, als sofort Schritt zu halten mit den Figuren, mit den Kindern, die bald die Stadt erreichen.
Was für eine andere Welt. Sie besuchen eine angesehene Familie, die dem Vater Arbeit vermitteln soll. Sie bestaunen die vielen Kekssorten und die ovalen Manschettenknöpfe aus Lapislazuli. Dann nimmt sie die mondäne Frau des Hauses mit auf den Basar. Pari bekommt gelbe Schuhe, und Abdullah protestiert, obwohl alles verführerisch schön ist, aber auch falsch und verstörend unter dem Make-up dieser schlanken Frau. Er erinnert sich, wie er einmal sein einziges Paar Schuhe gegen eine schöne Feder eintauschte, die er Pari schenkte, und wie glücklich sie war. Niemand bereitet einen auf das vor, was der Autor schon weiß und der Junge ahnt: dass die kleine Pari an jenem Tag bei dieser Frau bleiben wird, weil es "das Beste" wäre. Und dass sie diesen älteren Bruder, der alles für sie tut, irgendwann vergessen haben wird. Ihr bleibt nur das unbestimmte Gefühl, dass etwas fehlt. Ein Leben vergeht, bis sie wieder aufeinandertreffen.
Das Überlebenmüssen, das immer mitschwingt, bewahrt diese Prosa davor, ins Sentimentale abzugleiten. Sie handelt vom Verlieren und Wiederfinden und erzählt die beklemmende Geschichte von Krieg und Frieden, so schön und schrecklich und wechselhaft sie ist. Hosseini, 1965 in Kabul geboren, verließ Afghanistan mit der Familie 1976, und zog zunächst nach Paris. Als sein Vater in Amerika um politisches Asyl ersuchte, war er fünfzehn. Er wurde Internist und schrieb morgens vor der Arbeit. "Drachenläufer" erschien in siebzig Ländern und wurde millionenfach verkauft. Inzwischen hat Hosseini eine Stiftung ins Leben gerufen. Als Sonderbotschafter der Vereinten Nationen spricht er für Flüchtlinge und reist viel. Die Wirklichkeit hat sich in seine Literatur eingegraben.
Pari, das verkaufte Mädchen, verlieren wir lange aus den Augen. Khaled Hosseini interessiert sich für alle Akteure, für die innere Architektur dieser kriegsgeschüttelten Welt. Da ist ein griechischer Arzt, der nach Kabul geht und dort Jahre bleibt - warum eigentlich? Oder zwei Cousins, die fliehen mussten und in Amerika ein neues Leben haben. Die Neugier, die Sehnsucht, die Ohnmacht und vielleicht noch ein paar andere unbestimmte Motive treiben sie nach Kabul zurück, wo sie ein Krankenhaus besichtigen - der eine schon mit einem Bein wieder im Westen, der andere ganz im Bann des Erlebten.
Da liegt Roshi mit der Kopfwunde, ein kleines Mädchen. Der Onkel hatte wegen Grundbesitzstreitigkeiten nach der Axt gegriffen und ihre Familie getötet. Roshi überlebte. Eine Operation könnte sie retten. Aber Roshis Gesicht, ihr Lachen, ihre Zuneigung zum neu gewonnenen Freund, der sie täglich besucht, verblassen, als der wieder in Kalifornien ist. "Im Laufe eines Monats ist Roshi für ihn so abstrakt geworden wie die Figur eines Theaterstücks." Wie ein beruhigendes Gift legt sich das Vergessen in den gefüllten Tag.
Manchmal verliert sich eine Spur, und man ertappt sich dabei, wie man nach einer dieser Figuren sucht. Obwohl Hosseini so lebendig erzählt, bleibt im Nachhall vor allem das Nicht-Erzählte, das Abgerissene. Man will wissen, wie es diesem und jenem geht. Man muss aber ständig loslassen und seine Meinung neu justieren. Nali zum Beispiel, die neue Mutter von Pari, "das Beste" fürs afghanische Dorfmädchen, erweist sich als ziemlich erdrückend. Die Freiheit, die sie predigt und schenkt, erkauft sie durch emotionalen Druck. Aber dann blendet Hosseini ein langes, berührendes Interview ein, das die alkoholkranke Lyrikerin einer Zeitschrift gibt. Sie erzählt, was ihr vor Jahrzehnten zugefügt wurde, und alles ist wieder anders, als man denkt. "Jenseits unserer Vorstellungen / Von guten und schlechten Taten / Erstreckt sich ein Feld. / Dort werde ich dich treffen." Diese Verse des Dichters Dschalaluddin Rumi aus dem dreizehnten Jahrhundert stellt Khaled Hosseini seinem Roman voran. Ebendies ist das Feld, das er selbst hier bestellt.
Die Eröffnungsgeschichte ist dabei wie ein geheimer Schlüssel, den man immer wieder dreht und wendet. Sie handelt von einem Dämon, der jedes Jahr aus einer Familie ein Kind wegholt. Man spürt den unendlichen Schmerz eines Vaters, der seinen Jüngsten ziehen lässt, sein Lieblingskind, weil es das Los so entschied. Irgendwann folgt er dem Dämon nach. Er will mit ihm kämpfen. Aber der Dämon zeigt ihm den Sohn, spielend und glücklich inmitten eines Paradieses. Der Vater könnte ihn sofort mitnehmen, zurück in das arme Dorf, aber das Kind dürfte nie mehr ins Paradies. Der Vater zerbricht abermals über dieser Entscheidung, aber er lässt den Sohn dort. Einen Trank, um zu vergessen, den der Dämon ihm dann gnädigerweise gibt, hätten einige der Figuren in Hosseinis Roman bitter nötig.
Stattdessen müssen sie wachsen und kämpfen und manchmal eben sehr kompliziert lieben. Khaled Hosseini hat ein aufklärerisches und zutiefst menschliches Buch geschrieben, klangprächtig wie eine große Partitur, die man lesend erweckt. Nur zu.
Khaled Hosseini: "Traumsammler". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 443 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit viel Lob bedenkt Rezensentin Irene Binal den neuen Roman von Khaled Hosseini. Sie beschreibt "Traumsammler" als überbordendes Werk voller Geschichten, die der Autor zu einem großen Familien-Epos zusammenführt. Trotz zahlreicher Figuren und Lebensläufe, Zeiten und Schauplätze wie Kabul, San Francisco, Paris oder Griechenland scheint ihr der Roman nie auseinanderzufallen. Die ausladende, dramaturgisch gekonnt zusammengehaltene Handlung steht für Binal in einem reizvollen Kontrast zur "eleganten Schlichtheit des Stils". Die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln findet sie ebenso thematisiert wie die Idee, dass eine einzige Entscheidung das Leben von vielen Menschen über Generationen hinweg beeinflussen kann. Das Fazit der Rezensentin: ein großartiger, bewegender und mitunter melancholischer Roman.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Khaled Hosseini hat ein aufklärerisches und zutiefst menschliches Buch geschrieben, klangprächtig wie eine große Partitur, die man lesend erweckt. Anja Hirsch Frankfurter Allgemeine Zeitung (Messebeilage) 20131005