Produktdetails
- Verlag: Eichborn
- Seitenzahl: 400
- Erscheinungstermin: August 2006
- Deutsch
- Abmessung: 221mm x 148mm x 39mm
- Gewicht: 675g
- ISBN-13: 9783821857893
- ISBN-10: 3821857897
- Artikelnr.: 20837898
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Gefangene werden nicht gemacht: Tobias O. Meißners Splatter-Gnosis / Von Lorenz Jäger
Brutal ist gar kein Ausdruck. Tobias O. Meißner ist vielmehr der unbestrittene deutsche Meister in einer künstlerischen Manier, die man eher aus dem Film kennt als aus der Literatur: in der Welt der Grausamkeit, dessen, was man "Splatter" nennt, von dem uns Quentin Tarantino oder David Cronenberg eine erste Ahnung gegeben haben. "Meister" will hier zweierlei besagen: Zum ersten, er beherrscht so viele Variationen des Blutrünstigen und des Phantastischen, daß man gleichsam gegen das eigene Gewissen mit wachsendem Genuß der Geschichte des Hiob Montag folgt, bei der man mit dem Zählen der Niedergemachten kaum nachkommt. Zum zweiten, Meißner hat ein so deutliches Empfinden für literarische Qualität und Tradition, daß man selbst dem Geschmackswidrigsten nicht wenig abgewinnen kann.
Also Vorsicht: Dies ist kein "guter Roman" im Sinne der netten, gebildeten Buchhändlerin, die uns auch nie im Leben wird versichern können, es "selbst gelesen" zu haben. Die Warnung steht ja schon auf dem Umschlag: "Explicit Lyrics" - aber das ist eine höfliche Untertreibung des Autors. Im zunehmend weiblich dominierten Betrieb der anerkannten höheren Literatur wird sich Meißner wohl nicht durchsetzen können, aber das kümmert ihn mit Recht sehr wenig. Er hat eine verschworene Gruppe von Lesern, die dem Buch den Weg bereiten werden.
Anders als im "Paradies der Schwerter", Meißners vorletztem, vielbewundertem Roman, sind hier alle, die übereinander herfallen und sich metzeln, sich durch wüste Hundemeuten und wiedergeborene Samurai, durch Schnee und Feuer und Schlamm mit Panzerfaust oder Taschenmesser hindurchkämpfen, Dämonen in die Flucht schlagen und Gefangene grundsätzlich nicht machen - Gotteskrieger. Krieger eines guten Gottes also, des "monotheistischen", von dem wir derzeit so viel hören?
Nein, ganz so ist es doch nicht. Meißner ist Gnostiker. Die antike Gnosis hatte ja zwischen den Vater und den Sohn, den Schöpfer und den Erlöser eine unübersteigbare Barriere gelegt: Der Vater konnte danach der gute, der gnädige Gott nicht sein. Die Kirche hat diese Lehren verurteilt, aber in religiösen Krisen und den darin gärenden Grübeleien erheben sie stets aufs neue, wie nach einem Naturgesetz, ihr Haupt. Zweifel am "guten" Gott hat schon der Hiob des Alten Testaments. Nicht ganz zu Unrecht - wird er doch zum Gegenstand eines Abkommens zwischen Gott und dem Widersacher.
Die antike Gnosis war Sache einer Elite, die neue ist ein Glaube der Unterschicht. Hiob Montag, ein junger Mann im Berlin der neunziger Jahre, sieht die Welt nicht versöhnt und von oben, sondern meist von sehr weit unten, wo die Junkies und die jungen Türkenbosse den Ton angeben. Beherrscht wird dieses Berlin von einer zweideutigen, heilig-unheiligen Sphäre, die sich "Wiedenfließ" nennt, ein bißchen an schöne deutsche Ortsnamen erinnernd. Das höchste Wesen aber trägt einen Namen, der aus fernen Comic- oder Mangawelten zu stammen scheint: NuNdUuN. Hiob läßt sich mit ihm auf ein Spiel ein, bei dem er meist vernichtend, seinerseits in Lebensgefahr, durch die Metropole zieht, damit aber "Punkte" im Spiel macht und so die großen Schläge NuNdUuNs gegen die Menschheit einstweilen aufhält.
Das sind, zugegeben, ziemlich haarsträubende Voraussetzungen für einen Roman, und man würde sich kaum darauf einlassen, wenn nicht die Beobachtungen, die dabei abfallen, so überaus triftig wären. Schon seine eigene Rolle beschreibt der neue Hiob ja mit großer Einsicht, wenn er sich beklagt, wie privilegiert ein Dante sich dem Jenseits nähern konnte, mit Vergil als Führer, während er selbst wie ein Hartz-IV-Empfänger vor den Pforten der Einweihung steht: "Nach mir jedoch verlangte niemand dort drinnen. Ich war einer von denen, die ungebeten klopfen und auf Einlaß drängen und die rumpöbeln, wenn nicht gleich aufgemacht wird."
Der schiere Witz und Geist, den Meißner aufbietet, kann am Ende auch dem Leser einleuchten, der ansonsten den Sicherheitsabstand zur subkulturellen Ästhetik des Grausamen wahrt. Ist es nicht einfach gut beobachtet, wenn Hiob sich einmal fragt: "Und warum zum Jacob waren Transvestiten nur immer so einfallslos und bieder, so auf Konformität bedacht, so schleimig und beifallheischend? Warum imitierten sie nicht mal seine Louise" - gemeint ist Louise Brooks - "oder Clara Bow oder Pola Negri oder Ella Raines oder andere wirklich coole und interessante Frauen? Nein, sie scharwenzelten immer nur als Marlene herum oder Marilyn oder Madonna, und gaben dem ganzen vielschichtigen Frau-Sein damit einen schalen und oberflächlichen Namen."
Tobias O. Meißner hat in den vergangenen Jahren alles darangesetzt, die Splatter-Welt, wie sie uns vor allem aus den Vereinigten Staaten bekannt ist, ins Deutsche zu bringen - sie auf deutsche Schauplätze, Geschichten, Mentalitäten, Gesichter oder, wie Meißner vielleicht sagen würde, Fressen zu projizieren. Dabei fallen Sätze ab, in denen das Idiom des kürzlich verstorbenen Mickey Spillane eine kongeniale Entsprechung in der Muttersprache findet: "Der Inspektor lächelte wieder. Hiob wußte jetzt, an wen ihn dieses Lächeln erinnerte: an Volker Rühe. Hiob hatte plötzlich Lust, den Bullen zu töten."
Für den Sex sorgt naturgemäß ein Succubus, genannt "Widder" nach dem Tierkreiszeichen. Die eine Schöne kann Hiob für alle stehen, denn sie verwandelt sich in das jeweils gewünschte Traumbild (manchmal aber auch, wenn sie allein zu Hause ist, in schleimiges Viehzeug à la Lovecraft). Ihr Gebrauch ist Teil des Paktes, den Hiob mit dem Gottesteufel, dem "Architekten des Leidens", geschlossen hat.
Das Buch ist der zweite Band von "Hiobs Spiel", einem auf unbestimmt viele Bände angelegten Werk. Aber auch ein Leser, der den ersten nicht kennt, findet ohne große Mühe in die eigentümliche dichterische Welt hinein, die Meißner ihm eröffnet. Er wird reichlich belohnt, nicht nur mit dem größten denkbaren Erfindungsreichtum in puncto Schundkunst, sondern auch mit einer kaum endenden Kaskade von Bildern aus der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, die an die Gegenwart heranreichen. So lauten die Schlußsätze des Buches: "Der Kinderspielplatz steht verlassen. Denn dieses Land, so heißt es oft, stirbt aus."
Tobias O. Meißner: "Hiobs Spiel. Zweites Buch - Traumtänzer". Eichborn Berlin, Frankfurt am Main 2006. 412 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zarte Gemüter warnt der Rezensent vor diesem Buch, ihm selbst aber hat es prächtig gefallen. Zu raffiniert erscheint Lorenz Jäger das Blurünstige hier in Szene gesetzt, zu scharf der literarische Sachverstand des Autors Tobias Meißner. Wer einen Gnostiker der Unterschicht im Berlin der 90er zum Helden eines Splatter-Romans macht, gibt der Rezensent zu verstehen, der hat was auf dem Kasten. Nicht weniger als das Verdienst, das Splatter-Genre in der deutschen Literatur heimisch zu machen, spricht Lorenz dem Autor zu. Und "Witz und Geist" solcher Güte, dass selbst der weniger dem Dämonischen zugetane Leser neugierig werden muss.
© Perlentaucher Medien GmbH
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