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Produktdetails
  • Verlag: Reimer
  • Seitenzahl: 179
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 576g
  • ISBN-13: 9783496011774
  • Artikelnr.: 07390920
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.1999

Werkstatt des Wahns
Neue Traumvorstellungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts

Die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts hat mit größtem Nachdruck für sich in Anspruch genommen, den Traum in ganz neuer Weise in die bildende Kunst eingeführt zu haben. Dies ist in Manifesten immer wieder ausgesprochen worden. Im Ersten surrealistischen Manifest von 1924 erklärte André Breton: "Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traums, an das zweckfreie Spiel des Denkens." Jetzt hat Stefanie Heraeus in ihrer Untersuchung "Traumvorstellung und Bildidee. Surreale Strategien in der französischen Graphik des 19. Jahrhunderts" (Reimer Verlag, Berlin 1998) diesen Anspruch insofern untergraben, als sie für die empirische Psychologie in Frankreich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine bisher weitgehend verkannte Parallelität von traumtheoretischen Neuerungen und bildkünstlerischen Strategien vor allem bei Grandville, Charles Meryon, Victor Hugo und Odilon Redon nachweist.

Neu ist dabei nicht, daß sich diese Künstler dem Traum mit besonderer Intensität zuwandten, sondern daß sie es gleichzeitig mit einer neuen Traumvorstellung taten, die von empirischen Psychologen wie Alfred Maury, d'Hervey de Saint-Denis und anderen stammten. Die These der Autorin ist, daß die neue Traumvorstellung "gleichzeitig wissenschaftlich entfaltet und bildkünstlerisch erobert" wurde. Diese neue empirische Psychologie war bisher vor allem im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Psychoanalyse behandelt worden, nach dem Vorbild, das Freud selbst mit seiner Einleitung zur "Traumdeutung" (1899) über "Die wissenschaftliche Literatur der Traumprobleme" gegeben hatte. Dort hat beispielsweise Alfred Maury (Le sommeil et le rêve, 1861) seinen Auftritt, während "Le rêves et les moyens de les diriger" von d'Hervey de Saint-Denis (1867) nur indirekt zitiert wird.

In der Literatur zur Vorgeschichte der Psychoanalyse wird dabei jedoch, wie Stefanie Heraeus nachweist, übersehen, daß die meisten dieser Theorien in Zeitschriftenaufsätzen schon seit den vierziger Jahren publiziert waren. Damit rücken sie zeitlich an die Traumerkundungen der Künstler heran, wodurch ihre Zugehörigkeit zu einer übergreifenden wissenschaftlichen und künstlerischen Revision der Traumvorstellung allererst sichtbar wird. In diesem neuen "Traumdiskurs" liegen zentrale Begriffe der surrealistischen Traumauffassung bereits vor: "Automatismus", "Kombination", "Assemblage", "Überlagerung", "Inkohärenz der Wahrnehmung". Diese Merkmale des Traums spielen in Traumtheorien und künstlerischen Traumerkundungen eine Rolle. Für Maury ist der Traum ein "Theater der Widersprüchlichkeiten" oder auch "ein sich nicht bewußtes Bewußtsein". Er betont das Automatenhafte des Träumers und spricht von "Leidenschaften und verborgenen, häufig sexuellen Phantasien". Schon 1845 hatte Jules Baillarger eine "Theorie des Automatismus" vorgelegt.

Der Fall des Orientalisten und Sinologen d'Hervey ist besonders interessant, weil sein 1867 erschienenes Buch auf jahrzehntelangen schriftlichen und bildlichen Traumnotizen beruht. Zweitausend sollen es d'Hervey zufolge gewesen sein. Von den bildlichen Darstellungen hat sich nur das oben abgebildete Frontispiz seines Buches erhalten, in dessen oberer Hälfte ein Traum - der Künstler "D..." betritt mit seinem nackten Modell einen Salon - dargestellt wird, der an Manets "Frühstück im Grünen" (1863) erinnert. Die untere Hälfte gibt offenbar Einblick in die Werkstatt des Traums. Die Abbildungen zeigen organische Formen und kristalline Strukturen und haben, wie die Autorin überzeugend darlegt, Ähnlichkeit mit Nachbildern auf der Netzhaut oder mit graphischen Bewegungsdarstellungen, wie sie von Etienne Marey 1863 zuerst publiziert wurden. D'Hervey de Saint-Denis hat diese Bilder selbst als "noch embryonale Visionen" bezeichnet, die ihn an Feuerwerk erinnerten und die er beim Einschlafen beobachtet haben will. Ihm ging es darum, "la marche et le tissu des rêves" zu analysieren und auf den Vorgang des Träumens Einfluß zu gewinnen.

Die Zweiteilung des Blattes ist in der technisch-wissenschaftlichen Illustration, etwa in Diderots "Encyclopédie", vorgebildet, wo ebenfalls Einblicke in Werkstätten gegeben werden. Die Ähnlichkeit mit surrealistischen "Mehrfeldbildern" (Werner Hofmann) - exemplarisch hier Max Ernsts Gemälde "Vox angelica" (Abbildung unten) von 1943 - dürfte auf dieselbe Tradition zurückgehen und nicht etwa von d'Hervey angeregt sein. Max Ernsts großformatiges Bild hat autobiographische Züge und gibt ebenfalls Einblick in eine Werkstatt: die seiner Erfindungen und Obsessionen. Bewußte und unbewußte Vorgänge sind gleichrangig dargestellt.

Es handelt sich um ein spätes Stadium des Einbruchs von Traum und Unbewußtem in Kunst und Wissenschaft, dessen Anfänge in Frankreich seit den vierziger Jahren durch die Untersuchung von Stefanie Heraeus zum ersten Mal deutlichere Konturen gewinnen. Sie könnte Anstoß zu einer umfassenderen Vorgeschichte des Surrealismus geben, indem sie schon im neunzehnten Jahrhundert eine Nähe von wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen dokumentiert, die eine programmatische Forderung der Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts war.

HENNING RITTER

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