Familienstrukturen sind der unbewusste Motor der Geschichte. Von dieser bahnbrechenden Erkenntnis aus erzählt Emmanuel Todd die Geschichte der Menschheit neu: Vom frühen Homo sapiens, der in Kleinfamilien lebte, über die großen Kulturen des Altertums mit ihren immer komplexeren Großfamilien bis zur Rückkehr des Homo americanus zur Kernfamilie der Steinzeit. Wer die Lage der Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstehen will, sollte dieses luzide Buch des großen französischen Querdenkers lesen.
Westliche Waren und Lebensstile dringen bis in die letzten Winkel der Welt vor, und doch sind wir von einer globalen Einheitskultur weit entfernt. Emmanuel Todd zeigt, wie sich seit der Steinzeit unterschiedliche Familiensysteme verbreitet haben, die bis heute die Mentalitäten zutiefst prägen. Er beschreibt die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft mit ihren primitiven Kleinfamilien und die Unbeweglichkeit von Kulturen mit hochkomplexen patriarchalischen Großfamilien, und er erklärt den europäischen Konflikt zwischen einer deutschen Stammfamiliengesellschaft und Gebieten mit egalitären Familienstrukturen.
Werden diese tief verankerten Unterschiede bei der Lösung der gegenwärtigen Krisen nicht berücksichtigt, gerät die Demokratie unter die Räder. «Unsere Moderne», so Todd, «erinnert an einen Marsch in die Knechtschaft.»
Westliche Waren und Lebensstile dringen bis in die letzten Winkel der Welt vor, und doch sind wir von einer globalen Einheitskultur weit entfernt. Emmanuel Todd zeigt, wie sich seit der Steinzeit unterschiedliche Familiensysteme verbreitet haben, die bis heute die Mentalitäten zutiefst prägen. Er beschreibt die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft mit ihren primitiven Kleinfamilien und die Unbeweglichkeit von Kulturen mit hochkomplexen patriarchalischen Großfamilien, und er erklärt den europäischen Konflikt zwischen einer deutschen Stammfamiliengesellschaft und Gebieten mit egalitären Familienstrukturen.
Werden diese tief verankerten Unterschiede bei der Lösung der gegenwärtigen Krisen nicht berücksichtigt, gerät die Demokratie unter die Räder. «Unsere Moderne», so Todd, «erinnert an einen Marsch in die Knechtschaft.»
Alles eine Frage der Familienbande
Mit Deutschland-Schelte: Emmanuel Todd nimmt für seine politischen Thesen Anlauf aus der Tiefe der Steinzeit
Wer dieses Buch in der Erwartung gekauft hat, die der Untertitel weckt, nämlich eine "Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus" zu lesen, wird enttäuscht sein. Geschichtsschreibung im üblichen Sinn, Sozial- und Strukturgeschichte eingeschlossen, bietet Emmanuel Todd nicht. Der Anthropologe, Historiker, Soziologe, Bevölkerungs-Theoretiker und Pamphletist Todd - ein prominenter Intellektueller der Art, wie es sie eigentlich nur in Frankreich gibt - glaubt in tiefliegenden Familienstrukturen den Schlüssel gefunden zu haben, der nahezu alle geschichtlichen Entwicklungen erschließt, bis hinein in die gegenwärtigen Konstellationen der Politik.
Todd unterscheidet mit einer Entlehnung aus der Psychoanalyse das Bewusste, das Unterbewusste und das Unbewusste einer Gesellschaft: Wirtschaft und Politik sind die sichtbaren, sich schnell verändernden Phänomene an der Oberfläche, Bildung ist das Unterbewusste, und darunter liegen die äußerst trägen unbewussten Phänomene von Religion und Familie.
Drei fundamentale Typen von Familie sieht Todd verwirklicht: Kernfamilie, Stammfamilie und kommunitäre Familie. Alle drei Typen existieren in verschiedenen Varianten auf allen Kontinenten. Für Todd ist das ursprünglichste Modell, das mit dem Homo sapiens aufkam, nicht die zusammenlebende Horde der Stammfamilie, sondern die Kernfamilie - womit er Ethnologen widerspricht. Die Kernfamilie, das sind ein Paar und seine Kinder, die als Erwachsene das Elternhaus verlassen und ihre eigenen Haushalte gründen. Der dritte Typus, die kommunitäre Familie, taucht nur im Schlussteil des Buchs auf, um Entwicklungen in Russland und China in Richtung Kommunismus zu entschlüsseln - und daraus etwa eine günstige Prognose für Russland abzuleiten, das unter Putin zu seinen in der Tiefenschicht lagernden Determinanten zurückkehrt.
Todds politische Grundthese besagt, dass die Kernfamilie sich in der "Anglosphäre", also in England, den Vereinigten Staaten und im englischsprachigen Kanada, dazu in Frankreich im Großraum des Pariser Beckens, erhalten habe. Dagegen seien Deutschland und Japan die herausragenden Beispiele für Gesellschaften auf der Grundlage von Stammfamilien. Warum das so ist, begründet Todd umfänglich. Verkürzt gesagt: Wo die Kinder erbrechtlich ungleich behandelt werden, entsteht eine Weltsicht, die hierarchisch und autoritär geprägt ist und die Menschen als ungleich ansieht. Wo dagegen egalitär vererbt wird, entsteht eine demokratische Weltsicht, in der die Menschen als Gleiche angesehen werden. Es sind für Todd also diese Familienstrukturen, die letztlich dazu führten, dass die Idee der Menschenrechte in der Anglosphäre und in Frankreich aufkam, während sich in der Geschichte der durch Stammfamilien bestimmten Gesellschaften, in Deutschland und Japan, autoritäre Ideen und Regime durchsetzten.
Das ist im Einzelnen äußerst kompliziert, weil Todd immer wieder Varianten, Überlagerungen und Änderungen der Familienstruktur in sein Schema einpassen muss. Wobei er mit Relativierungen mittels "wahrscheinlich", "vermutlich", "es mag oder könnte sein" und so fort nicht spart. Wo wegen struktureller Veränderungen, etwa wie in Nordamerika durch Migration mit einem hohen Anteil an Einwanderern aus Regionen mit Stammfamilie, dennoch an der Priorität der Kernfamilie festgehalten wird, zaubert Todd ein "Gedächtnis der Orte" hervor. So nennt er kulturelle Prägungen, die trotz veränderter Familienstrukturen alle Zeitläufte untergründig überdauern.
Zerstört Deutschland die Wirtschaft der Länder des Südens?
Kompliziert wird es auch, wenn es um die Auswirkungen geht, die Bildungsschübe - etwa die Alphabetisierung im Gefolge des Buchdrucks - auf Gesellschaften haben. Todd führt da Daten an, über deren Aussagekraft und Interpretation man lange streiten könnte. Teilweise mysteriös wird es, wenn der untergründig wirkende Einfluss der Religion auf die Familienstrukturen und die gesellschaftliche Organisation behandelt wird. Man bekommt da manchmal den Eindruck, Todd selbst verliere den Überblick; dann erstickt er Zweifel in einer Fülle von Statistiken.
Die demokratisch-egalitäre Fundierung per Kernfamilie und die hierarchisch-autoritäre Prägung der von Stammfamilien dominierten Gesellschaften sind die Basis für Todds Gegenwartsanalyse. Die Differenz hat für ihn Auswirkungen auf die Organisationsfähigkeit gesellschaftlicher Subsysteme (etwa des Militärs oder der Wirtschaft), hat auch entscheidenden Einfluss auf den Status der Frauen in Hinsicht auf Bildung und Arbeit und deshalb auf die Geburtenrate einer Gesellschaft. Demographie ist überhaupt eine der entscheidenden Variablen in Todds Analyse.
Während die Geburtenrate in Frankreich und in der Anglosphäre relativ hoch ist, liegt sie in Japan und Deutschland unter dem Reproduktionsniveau. Weil Japan sich, folgt man Todd, mit einer schrumpfenden Bevölkerung abgefunden hat und aus kulturellen Gründen keine Einwanderung zulässt, hat es auch seine früheren geopolitischen Ambitionen aufgegeben. Anders Deutschland, und hier wird das Buch brisant. Todd knüpft an Pamphlete an, in denen er seit Jahren die deutsche Dominanz in Europa anprangert. Er glaubt, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einen Masterplan verfolgt habe, der darauf hinausläuft, mit ökonomischen Mitteln zu erreichen, was zuvor militärisch gescheitert war. Zwar bekenne sich Deutschland zum Freihandel, praktiziere aber tatsächlich Protektionismus. Wofür als Beweis staatlich gesteuerte, nämlich durch Drosselung von Importen erzielte, Handelsüberschüsse angeführt werden. Zudem habe Deutschland Frankreich den Wirtschaftskrieg erklärt und sei dabei, ihn auch zu gewinnen.
Dazu kommt die demographische Komponente: Die Suche nach Arbeitskräften habe sich in Deutschland für Arbeitgeber und Regierung "zu einer Art Obsession entwickelt", die auch die deutsche Außenpolitik bestimme, etwa in Gestalt der "Zerstörung der Wirtschaft der Länder des Südens", weil junge und gut qualifizierte Arbeitskräfte aus Spanien, Griechenland, Italien und Portugal nach Deutschland gelockt werden. Klar, dass da auch die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nicht als Ausfluss humanitärer Gesinnung gewertet, sondern als Ergebnis eines kalten demographischen Kalküls dargestellt wird.
Nicht der Krieg, sondern der Frieden soll das soziale Problem sein
Nicht nur der europäische Süden ist in Todds Augen ein Opfer des deutschen Wirtschaftsnationalismus und seiner anderen aufgezwungenen Austeritätspolitik. Auch die "Aufrechterhaltung der Unordnung" und der Zerfall der Ukraine gingen auf die deutsche Einmischung in die ukrainischen Angelegenheiten zurück. Denn von dort könnte eines Tages eine neue "Zufuhr von Arbeitskräften und Einwanderern" nach Deutschland kommen. Und dann kommt der Höhepunkt: Todd meint, es sei "Trumps Ruhmesblatt", dass er Deutschland als den wirtschaftlichen Feind erkannt habe, der "unter anderem auch das strategische Ziel hat, die von China geschwächte amerikanische Industrie zugrundezurichten".
Diese Diagnose zeigt Todds obsessives Festhalten an der Unterstellung, deutsche Politik verfolge - die Parteien übergreifend - perfide Pläne. Es ist eine Diagnose, die im politischen Spektrum Frankreichs (und nicht nur dort) tatsächlich Beachtung findet. Immerhin fast die Hälfte der Franzosen haben bei der letzten Präsidentenwahl für die Rechtspopulistin Marine Le Pen, den linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon und andere Radikale gestimmt, die in ihren Wahlkämpfen ähnliche Thesen verbreitet haben.
Der deterministische Ansatz Todds prägt auch seine Sicht der Moderne. Die Nation ist für ihn ein quasi naturwüchsiges Gebilde, das sich oberhalb der Familienstrukturen gebildet hat. Schon deshalb sei eine Europäische Union, die sich an der Abschaffung der Nationen versucht, ein Unding. Zum Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation gehöre auch - hier lässt Carl Schmitt grüßen -, dass sie einen Feind braucht. Das kann ein innerer Feind sein, wie es die schwarze Bevölkerung in Amerika nach Todds Diagnose immer noch ist; und es kann selbstverständlich auch ein äußerer Feind sein. Todd sieht, wenn auch bedauernd, die Fremdenfeindlichkeit der Nationen, auf die etwa der Brexit zurückgeht, als eine Art Naturgesetz an: Nicht Krieg, sondern der Frieden ist für ihn "ein soziales Problem", denn "jeder dramatische Rückgang an äußerer Gewalt bedroht letztlich die Moralität und den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe".
Hier schließt auch seine Analyse des (rechten oder linken) Populismus an. Er konstatiert den Bankrott des liberalen politischen Modells und sieht Populismus als "demokratischen Aufbruch, der sukzessiv in den einzelnen westlichen ,Demokratien' auftritt, die durch den Freihandel und die neue bildungsmäßige Schichtung der Gesellschaft beschädigt wurden". Letzteres zielt auf eine gebildete kosmopolitische "Oligarchie", die andere Interessen und Ziele verfolge als die Masse der Bevölkerung, also auf eine öfters schon diagnostizierte Spaltung der Gesellschaft.
Man fragt sich, ob diese politischen Thesen noch irgendetwas mit der Unterscheidung von Kern- und Stammfamilie zu tun haben. Jedenfalls sind andere Autoren, die ähnliche Beschreibungen der Gegenwart geliefert haben, auf ganz anderen Wegen zu ihren Behauptungen gekommen. Was den wissenschaftlichen Anspruch dieses Buches angeht, weiß man nicht recht, worüber man sich mehr ärgern soll: über den Determinismus von Todds Herleitungen oder über die Determiniertheit seiner Prognosen. Dass Bücher wie dieses in Frankreich Erfolg haben und ihre Thesen in ernsthaften Debatten angeführt werden, ist für sich genommen schon ein Krisensymptom: Zeichen der verbreiteten Ratlosigkeit in der Politik.
GÜNTHER NONNENMACHER
Emmanuel Todd:
"Traurige Moderne". Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus.
Aus dem Französischen von W. Damson und E. Heinemann. C. H. Beck, München 2018. 550 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Deutschland-Schelte: Emmanuel Todd nimmt für seine politischen Thesen Anlauf aus der Tiefe der Steinzeit
Wer dieses Buch in der Erwartung gekauft hat, die der Untertitel weckt, nämlich eine "Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus" zu lesen, wird enttäuscht sein. Geschichtsschreibung im üblichen Sinn, Sozial- und Strukturgeschichte eingeschlossen, bietet Emmanuel Todd nicht. Der Anthropologe, Historiker, Soziologe, Bevölkerungs-Theoretiker und Pamphletist Todd - ein prominenter Intellektueller der Art, wie es sie eigentlich nur in Frankreich gibt - glaubt in tiefliegenden Familienstrukturen den Schlüssel gefunden zu haben, der nahezu alle geschichtlichen Entwicklungen erschließt, bis hinein in die gegenwärtigen Konstellationen der Politik.
Todd unterscheidet mit einer Entlehnung aus der Psychoanalyse das Bewusste, das Unterbewusste und das Unbewusste einer Gesellschaft: Wirtschaft und Politik sind die sichtbaren, sich schnell verändernden Phänomene an der Oberfläche, Bildung ist das Unterbewusste, und darunter liegen die äußerst trägen unbewussten Phänomene von Religion und Familie.
Drei fundamentale Typen von Familie sieht Todd verwirklicht: Kernfamilie, Stammfamilie und kommunitäre Familie. Alle drei Typen existieren in verschiedenen Varianten auf allen Kontinenten. Für Todd ist das ursprünglichste Modell, das mit dem Homo sapiens aufkam, nicht die zusammenlebende Horde der Stammfamilie, sondern die Kernfamilie - womit er Ethnologen widerspricht. Die Kernfamilie, das sind ein Paar und seine Kinder, die als Erwachsene das Elternhaus verlassen und ihre eigenen Haushalte gründen. Der dritte Typus, die kommunitäre Familie, taucht nur im Schlussteil des Buchs auf, um Entwicklungen in Russland und China in Richtung Kommunismus zu entschlüsseln - und daraus etwa eine günstige Prognose für Russland abzuleiten, das unter Putin zu seinen in der Tiefenschicht lagernden Determinanten zurückkehrt.
Todds politische Grundthese besagt, dass die Kernfamilie sich in der "Anglosphäre", also in England, den Vereinigten Staaten und im englischsprachigen Kanada, dazu in Frankreich im Großraum des Pariser Beckens, erhalten habe. Dagegen seien Deutschland und Japan die herausragenden Beispiele für Gesellschaften auf der Grundlage von Stammfamilien. Warum das so ist, begründet Todd umfänglich. Verkürzt gesagt: Wo die Kinder erbrechtlich ungleich behandelt werden, entsteht eine Weltsicht, die hierarchisch und autoritär geprägt ist und die Menschen als ungleich ansieht. Wo dagegen egalitär vererbt wird, entsteht eine demokratische Weltsicht, in der die Menschen als Gleiche angesehen werden. Es sind für Todd also diese Familienstrukturen, die letztlich dazu führten, dass die Idee der Menschenrechte in der Anglosphäre und in Frankreich aufkam, während sich in der Geschichte der durch Stammfamilien bestimmten Gesellschaften, in Deutschland und Japan, autoritäre Ideen und Regime durchsetzten.
Das ist im Einzelnen äußerst kompliziert, weil Todd immer wieder Varianten, Überlagerungen und Änderungen der Familienstruktur in sein Schema einpassen muss. Wobei er mit Relativierungen mittels "wahrscheinlich", "vermutlich", "es mag oder könnte sein" und so fort nicht spart. Wo wegen struktureller Veränderungen, etwa wie in Nordamerika durch Migration mit einem hohen Anteil an Einwanderern aus Regionen mit Stammfamilie, dennoch an der Priorität der Kernfamilie festgehalten wird, zaubert Todd ein "Gedächtnis der Orte" hervor. So nennt er kulturelle Prägungen, die trotz veränderter Familienstrukturen alle Zeitläufte untergründig überdauern.
Zerstört Deutschland die Wirtschaft der Länder des Südens?
Kompliziert wird es auch, wenn es um die Auswirkungen geht, die Bildungsschübe - etwa die Alphabetisierung im Gefolge des Buchdrucks - auf Gesellschaften haben. Todd führt da Daten an, über deren Aussagekraft und Interpretation man lange streiten könnte. Teilweise mysteriös wird es, wenn der untergründig wirkende Einfluss der Religion auf die Familienstrukturen und die gesellschaftliche Organisation behandelt wird. Man bekommt da manchmal den Eindruck, Todd selbst verliere den Überblick; dann erstickt er Zweifel in einer Fülle von Statistiken.
Die demokratisch-egalitäre Fundierung per Kernfamilie und die hierarchisch-autoritäre Prägung der von Stammfamilien dominierten Gesellschaften sind die Basis für Todds Gegenwartsanalyse. Die Differenz hat für ihn Auswirkungen auf die Organisationsfähigkeit gesellschaftlicher Subsysteme (etwa des Militärs oder der Wirtschaft), hat auch entscheidenden Einfluss auf den Status der Frauen in Hinsicht auf Bildung und Arbeit und deshalb auf die Geburtenrate einer Gesellschaft. Demographie ist überhaupt eine der entscheidenden Variablen in Todds Analyse.
Während die Geburtenrate in Frankreich und in der Anglosphäre relativ hoch ist, liegt sie in Japan und Deutschland unter dem Reproduktionsniveau. Weil Japan sich, folgt man Todd, mit einer schrumpfenden Bevölkerung abgefunden hat und aus kulturellen Gründen keine Einwanderung zulässt, hat es auch seine früheren geopolitischen Ambitionen aufgegeben. Anders Deutschland, und hier wird das Buch brisant. Todd knüpft an Pamphlete an, in denen er seit Jahren die deutsche Dominanz in Europa anprangert. Er glaubt, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einen Masterplan verfolgt habe, der darauf hinausläuft, mit ökonomischen Mitteln zu erreichen, was zuvor militärisch gescheitert war. Zwar bekenne sich Deutschland zum Freihandel, praktiziere aber tatsächlich Protektionismus. Wofür als Beweis staatlich gesteuerte, nämlich durch Drosselung von Importen erzielte, Handelsüberschüsse angeführt werden. Zudem habe Deutschland Frankreich den Wirtschaftskrieg erklärt und sei dabei, ihn auch zu gewinnen.
Dazu kommt die demographische Komponente: Die Suche nach Arbeitskräften habe sich in Deutschland für Arbeitgeber und Regierung "zu einer Art Obsession entwickelt", die auch die deutsche Außenpolitik bestimme, etwa in Gestalt der "Zerstörung der Wirtschaft der Länder des Südens", weil junge und gut qualifizierte Arbeitskräfte aus Spanien, Griechenland, Italien und Portugal nach Deutschland gelockt werden. Klar, dass da auch die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nicht als Ausfluss humanitärer Gesinnung gewertet, sondern als Ergebnis eines kalten demographischen Kalküls dargestellt wird.
Nicht der Krieg, sondern der Frieden soll das soziale Problem sein
Nicht nur der europäische Süden ist in Todds Augen ein Opfer des deutschen Wirtschaftsnationalismus und seiner anderen aufgezwungenen Austeritätspolitik. Auch die "Aufrechterhaltung der Unordnung" und der Zerfall der Ukraine gingen auf die deutsche Einmischung in die ukrainischen Angelegenheiten zurück. Denn von dort könnte eines Tages eine neue "Zufuhr von Arbeitskräften und Einwanderern" nach Deutschland kommen. Und dann kommt der Höhepunkt: Todd meint, es sei "Trumps Ruhmesblatt", dass er Deutschland als den wirtschaftlichen Feind erkannt habe, der "unter anderem auch das strategische Ziel hat, die von China geschwächte amerikanische Industrie zugrundezurichten".
Diese Diagnose zeigt Todds obsessives Festhalten an der Unterstellung, deutsche Politik verfolge - die Parteien übergreifend - perfide Pläne. Es ist eine Diagnose, die im politischen Spektrum Frankreichs (und nicht nur dort) tatsächlich Beachtung findet. Immerhin fast die Hälfte der Franzosen haben bei der letzten Präsidentenwahl für die Rechtspopulistin Marine Le Pen, den linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon und andere Radikale gestimmt, die in ihren Wahlkämpfen ähnliche Thesen verbreitet haben.
Der deterministische Ansatz Todds prägt auch seine Sicht der Moderne. Die Nation ist für ihn ein quasi naturwüchsiges Gebilde, das sich oberhalb der Familienstrukturen gebildet hat. Schon deshalb sei eine Europäische Union, die sich an der Abschaffung der Nationen versucht, ein Unding. Zum Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation gehöre auch - hier lässt Carl Schmitt grüßen -, dass sie einen Feind braucht. Das kann ein innerer Feind sein, wie es die schwarze Bevölkerung in Amerika nach Todds Diagnose immer noch ist; und es kann selbstverständlich auch ein äußerer Feind sein. Todd sieht, wenn auch bedauernd, die Fremdenfeindlichkeit der Nationen, auf die etwa der Brexit zurückgeht, als eine Art Naturgesetz an: Nicht Krieg, sondern der Frieden ist für ihn "ein soziales Problem", denn "jeder dramatische Rückgang an äußerer Gewalt bedroht letztlich die Moralität und den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe".
Hier schließt auch seine Analyse des (rechten oder linken) Populismus an. Er konstatiert den Bankrott des liberalen politischen Modells und sieht Populismus als "demokratischen Aufbruch, der sukzessiv in den einzelnen westlichen ,Demokratien' auftritt, die durch den Freihandel und die neue bildungsmäßige Schichtung der Gesellschaft beschädigt wurden". Letzteres zielt auf eine gebildete kosmopolitische "Oligarchie", die andere Interessen und Ziele verfolge als die Masse der Bevölkerung, also auf eine öfters schon diagnostizierte Spaltung der Gesellschaft.
Man fragt sich, ob diese politischen Thesen noch irgendetwas mit der Unterscheidung von Kern- und Stammfamilie zu tun haben. Jedenfalls sind andere Autoren, die ähnliche Beschreibungen der Gegenwart geliefert haben, auf ganz anderen Wegen zu ihren Behauptungen gekommen. Was den wissenschaftlichen Anspruch dieses Buches angeht, weiß man nicht recht, worüber man sich mehr ärgern soll: über den Determinismus von Todds Herleitungen oder über die Determiniertheit seiner Prognosen. Dass Bücher wie dieses in Frankreich Erfolg haben und ihre Thesen in ernsthaften Debatten angeführt werden, ist für sich genommen schon ein Krisensymptom: Zeichen der verbreiteten Ratlosigkeit in der Politik.
GÜNTHER NONNENMACHER
Emmanuel Todd:
"Traurige Moderne". Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus.
Aus dem Französischen von W. Damson und E. Heinemann. C. H. Beck, München 2018. 550 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2018Alles eine Frage der Familienbande
Mit Deutschland-Schelte: Emmanuel Todd nimmt für seine politischen Thesen Anlauf aus der Tiefe der Steinzeit
Wer dieses Buch in der Erwartung gekauft hat, die der Untertitel weckt, nämlich eine "Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus" zu lesen, wird enttäuscht sein. Geschichtsschreibung im üblichen Sinn, Sozial- und Strukturgeschichte eingeschlossen, bietet Emmanuel Todd nicht. Der Anthropologe, Historiker, Soziologe, Bevölkerungs-Theoretiker und Pamphletist Todd - ein prominenter Intellektueller der Art, wie es sie eigentlich nur in Frankreich gibt - glaubt in tiefliegenden Familienstrukturen den Schlüssel gefunden zu haben, der nahezu alle geschichtlichen Entwicklungen erschließt, bis hinein in die gegenwärtigen Konstellationen der Politik.
Todd unterscheidet mit einer Entlehnung aus der Psychoanalyse das Bewusste, das Unterbewusste und das Unbewusste einer Gesellschaft: Wirtschaft und Politik sind die sichtbaren, sich schnell verändernden Phänomene an der Oberfläche, Bildung ist das Unterbewusste, und darunter liegen die äußerst trägen unbewussten Phänomene von Religion und Familie.
Drei fundamentale Typen von Familie sieht Todd verwirklicht: Kernfamilie, Stammfamilie und kommunitäre Familie. Alle drei Typen existieren in verschiedenen Varianten auf allen Kontinenten. Für Todd ist das ursprünglichste Modell, das mit dem Homo sapiens aufkam, nicht die zusammenlebende Horde der Stammfamilie, sondern die Kernfamilie - womit er Ethnologen widerspricht. Die Kernfamilie, das sind ein Paar und seine Kinder, die als Erwachsene das Elternhaus verlassen und ihre eigenen Haushalte gründen. Der dritte Typus, die kommunitäre Familie, taucht nur im Schlussteil des Buchs auf, um Entwicklungen in Russland und China in Richtung Kommunismus zu entschlüsseln - und daraus etwa eine günstige Prognose für Russland abzuleiten, das unter Putin zu seinen in der Tiefenschicht lagernden Determinanten zurückkehrt.
Todds politische Grundthese besagt, dass die Kernfamilie sich in der "Anglosphäre", also in England, den Vereinigten Staaten und im englischsprachigen Kanada, dazu in Frankreich im Großraum des Pariser Beckens, erhalten habe. Dagegen seien Deutschland und Japan die herausragenden Beispiele für Gesellschaften auf der Grundlage von Stammfamilien. Warum das so ist, begründet Todd umfänglich. Verkürzt gesagt: Wo die Kinder erbrechtlich ungleich behandelt werden, entsteht eine Weltsicht, die hierarchisch und autoritär geprägt ist und die Menschen als ungleich ansieht. Wo dagegen egalitär vererbt wird, entsteht eine demokratische Weltsicht, in der die Menschen als Gleiche angesehen werden. Es sind für Todd also diese Familienstrukturen, die letztlich dazu führten, dass die Idee der Menschenrechte in der Anglosphäre und in Frankreich aufkam, während sich in der Geschichte der durch Stammfamilien bestimmten Gesellschaften, in Deutschland und Japan, autoritäre Ideen und Regime durchsetzten.
Das ist im Einzelnen äußerst kompliziert, weil Todd immer wieder Varianten, Überlagerungen und Änderungen der Familienstruktur in sein Schema einpassen muss. Wobei er mit Relativierungen mittels "wahrscheinlich", "vermutlich", "es mag oder könnte sein" und so fort nicht spart. Wo wegen struktureller Veränderungen, etwa wie in Nordamerika durch Migration mit einem hohen Anteil an Einwanderern aus Regionen mit Stammfamilie, dennoch an der Priorität der Kernfamilie festgehalten wird, zaubert Todd ein "Gedächtnis der Orte" hervor. So nennt er kulturelle Prägungen, die trotz veränderter Familienstrukturen alle Zeitläufte untergründig überdauern.
Zerstört Deutschland die Wirtschaft der Länder des Südens?
Kompliziert wird es auch, wenn es um die Auswirkungen geht, die Bildungsschübe - etwa die Alphabetisierung im Gefolge des Buchdrucks - auf Gesellschaften haben. Todd führt da Daten an, über deren Aussagekraft und Interpretation man lange streiten könnte. Teilweise mysteriös wird es, wenn der untergründig wirkende Einfluss der Religion auf die Familienstrukturen und die gesellschaftliche Organisation behandelt wird. Man bekommt da manchmal den Eindruck, Todd selbst verliere den Überblick; dann erstickt er Zweifel in einer Fülle von Statistiken.
Die demokratisch-egalitäre Fundierung per Kernfamilie und die hierarchisch-autoritäre Prägung der von Stammfamilien dominierten Gesellschaften sind die Basis für Todds Gegenwartsanalyse. Die Differenz hat für ihn Auswirkungen auf die Organisationsfähigkeit gesellschaftlicher Subsysteme (etwa des Militärs oder der Wirtschaft), hat auch entscheidenden Einfluss auf den Status der Frauen in Hinsicht auf Bildung und Arbeit und deshalb auf die Geburtenrate einer Gesellschaft. Demographie ist überhaupt eine der entscheidenden Variablen in Todds Analyse.
Während die Geburtenrate in Frankreich und in der Anglosphäre relativ hoch ist, liegt sie in Japan und Deutschland unter dem Reproduktionsniveau. Weil Japan sich, folgt man Todd, mit einer schrumpfenden Bevölkerung abgefunden hat und aus kulturellen Gründen keine Einwanderung zulässt, hat es auch seine früheren geopolitischen Ambitionen aufgegeben. Anders Deutschland, und hier wird das Buch brisant. Todd knüpft an Pamphlete an, in denen er seit Jahren die deutsche Dominanz in Europa anprangert. Er glaubt, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einen Masterplan verfolgt habe, der darauf hinausläuft, mit ökonomischen Mitteln zu erreichen, was zuvor militärisch gescheitert war. Zwar bekenne sich Deutschland zum Freihandel, praktiziere aber tatsächlich Protektionismus. Wofür als Beweis staatlich gesteuerte, nämlich durch Drosselung von Importen erzielte, Handelsüberschüsse angeführt werden. Zudem habe Deutschland Frankreich den Wirtschaftskrieg erklärt und sei dabei, ihn auch zu gewinnen.
Dazu kommt die demographische Komponente: Die Suche nach Arbeitskräften habe sich in Deutschland für Arbeitgeber und Regierung "zu einer Art Obsession entwickelt", die auch die deutsche Außenpolitik bestimme, etwa in Gestalt der "Zerstörung der Wirtschaft der Länder des Südens", weil junge und gut qualifizierte Arbeitskräfte aus Spanien, Griechenland, Italien und Portugal nach Deutschland gelockt werden. Klar, dass da auch die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nicht als Ausfluss humanitärer Gesinnung gewertet, sondern als Ergebnis eines kalten demographischen Kalküls dargestellt wird.
Nicht der Krieg, sondern der Frieden soll das soziale Problem sein
Nicht nur der europäische Süden ist in Todds Augen ein Opfer des deutschen Wirtschaftsnationalismus und seiner anderen aufgezwungenen Austeritätspolitik. Auch die "Aufrechterhaltung der Unordnung" und der Zerfall der Ukraine gingen auf die deutsche Einmischung in die ukrainischen Angelegenheiten zurück. Denn von dort könnte eines Tages eine neue "Zufuhr von Arbeitskräften und Einwanderern" nach Deutschland kommen. Und dann kommt der Höhepunkt: Todd meint, es sei "Trumps Ruhmesblatt", dass er Deutschland als den wirtschaftlichen Feind erkannt habe, der "unter anderem auch das strategische Ziel hat, die von China geschwächte amerikanische Industrie zugrundezurichten".
Diese Diagnose zeigt Todds obsessives Festhalten an der Unterstellung, deutsche Politik verfolge - die Parteien übergreifend - perfide Pläne. Es ist eine Diagnose, die im politischen Spektrum Frankreichs (und nicht nur dort) tatsächlich Beachtung findet. Immerhin fast die Hälfte der Franzosen haben bei der letzten Präsidentenwahl für die Rechtspopulistin Marine Le Pen, den linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon und andere Radikale gestimmt, die in ihren Wahlkämpfen ähnliche Thesen verbreitet haben.
Der deterministische Ansatz Todds prägt auch seine Sicht der Moderne. Die Nation ist für ihn ein quasi naturwüchsiges Gebilde, das sich oberhalb der Familienstrukturen gebildet hat. Schon deshalb sei eine Europäische Union, die sich an der Abschaffung der Nationen versucht, ein Unding. Zum Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation gehöre auch - hier lässt Carl Schmitt grüßen -, dass sie einen Feind braucht. Das kann ein innerer Feind sein, wie es die schwarze Bevölkerung in Amerika nach Todds Diagnose immer noch ist; und es kann selbstverständlich auch ein äußerer Feind sein. Todd sieht, wenn auch bedauernd, die Fremdenfeindlichkeit der Nationen, auf die etwa der Brexit zurückgeht, als eine Art Naturgesetz an: Nicht Krieg, sondern der Frieden ist für ihn "ein soziales Problem", denn "jeder dramatische Rückgang an äußerer Gewalt bedroht letztlich die Moralität und den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe".
Hier schließt auch seine Analyse des (rechten oder linken) Populismus an. Er konstatiert den Bankrott des liberalen politischen Modells und sieht Populismus als "demokratischen Aufbruch, der sukzessiv in den einzelnen westlichen ,Demokratien' auftritt, die durch den Freihandel und die neue bildungsmäßige Schichtung der Gesellschaft beschädigt wurden". Letzteres zielt auf eine gebildete kosmopolitische "Oligarchie", die andere Interessen und Ziele verfolge als die Masse der Bevölkerung, also auf eine öfters schon diagnostizierte Spaltung der Gesellschaft.
Man fragt sich, ob diese politischen Thesen noch irgendetwas mit der Unterscheidung von Kern- und Stammfamilie zu tun haben. Jedenfalls sind andere Autoren, die ähnliche Beschreibungen der Gegenwart geliefert haben, auf ganz anderen Wegen zu ihren Behauptungen gekommen. Was den wissenschaftlichen Anspruch dieses Buches angeht, weiß man nicht recht, worüber man sich mehr ärgern soll: über den Determinismus von Todds Herleitungen oder über die Determiniertheit seiner Prognosen. Dass Bücher wie dieses in Frankreich Erfolg haben und ihre Thesen in ernsthaften Debatten angeführt werden, ist für sich genommen schon ein Krisensymptom: Zeichen der verbreiteten Ratlosigkeit in der Politik.
GÜNTHER NONNENMACHER
Emmanuel Todd:
"Traurige Moderne". Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus.
Aus dem Französischen von W. Damson und E. Heinemann. C. H. Beck, München 2018. 550 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Deutschland-Schelte: Emmanuel Todd nimmt für seine politischen Thesen Anlauf aus der Tiefe der Steinzeit
Wer dieses Buch in der Erwartung gekauft hat, die der Untertitel weckt, nämlich eine "Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus" zu lesen, wird enttäuscht sein. Geschichtsschreibung im üblichen Sinn, Sozial- und Strukturgeschichte eingeschlossen, bietet Emmanuel Todd nicht. Der Anthropologe, Historiker, Soziologe, Bevölkerungs-Theoretiker und Pamphletist Todd - ein prominenter Intellektueller der Art, wie es sie eigentlich nur in Frankreich gibt - glaubt in tiefliegenden Familienstrukturen den Schlüssel gefunden zu haben, der nahezu alle geschichtlichen Entwicklungen erschließt, bis hinein in die gegenwärtigen Konstellationen der Politik.
Todd unterscheidet mit einer Entlehnung aus der Psychoanalyse das Bewusste, das Unterbewusste und das Unbewusste einer Gesellschaft: Wirtschaft und Politik sind die sichtbaren, sich schnell verändernden Phänomene an der Oberfläche, Bildung ist das Unterbewusste, und darunter liegen die äußerst trägen unbewussten Phänomene von Religion und Familie.
Drei fundamentale Typen von Familie sieht Todd verwirklicht: Kernfamilie, Stammfamilie und kommunitäre Familie. Alle drei Typen existieren in verschiedenen Varianten auf allen Kontinenten. Für Todd ist das ursprünglichste Modell, das mit dem Homo sapiens aufkam, nicht die zusammenlebende Horde der Stammfamilie, sondern die Kernfamilie - womit er Ethnologen widerspricht. Die Kernfamilie, das sind ein Paar und seine Kinder, die als Erwachsene das Elternhaus verlassen und ihre eigenen Haushalte gründen. Der dritte Typus, die kommunitäre Familie, taucht nur im Schlussteil des Buchs auf, um Entwicklungen in Russland und China in Richtung Kommunismus zu entschlüsseln - und daraus etwa eine günstige Prognose für Russland abzuleiten, das unter Putin zu seinen in der Tiefenschicht lagernden Determinanten zurückkehrt.
Todds politische Grundthese besagt, dass die Kernfamilie sich in der "Anglosphäre", also in England, den Vereinigten Staaten und im englischsprachigen Kanada, dazu in Frankreich im Großraum des Pariser Beckens, erhalten habe. Dagegen seien Deutschland und Japan die herausragenden Beispiele für Gesellschaften auf der Grundlage von Stammfamilien. Warum das so ist, begründet Todd umfänglich. Verkürzt gesagt: Wo die Kinder erbrechtlich ungleich behandelt werden, entsteht eine Weltsicht, die hierarchisch und autoritär geprägt ist und die Menschen als ungleich ansieht. Wo dagegen egalitär vererbt wird, entsteht eine demokratische Weltsicht, in der die Menschen als Gleiche angesehen werden. Es sind für Todd also diese Familienstrukturen, die letztlich dazu führten, dass die Idee der Menschenrechte in der Anglosphäre und in Frankreich aufkam, während sich in der Geschichte der durch Stammfamilien bestimmten Gesellschaften, in Deutschland und Japan, autoritäre Ideen und Regime durchsetzten.
Das ist im Einzelnen äußerst kompliziert, weil Todd immer wieder Varianten, Überlagerungen und Änderungen der Familienstruktur in sein Schema einpassen muss. Wobei er mit Relativierungen mittels "wahrscheinlich", "vermutlich", "es mag oder könnte sein" und so fort nicht spart. Wo wegen struktureller Veränderungen, etwa wie in Nordamerika durch Migration mit einem hohen Anteil an Einwanderern aus Regionen mit Stammfamilie, dennoch an der Priorität der Kernfamilie festgehalten wird, zaubert Todd ein "Gedächtnis der Orte" hervor. So nennt er kulturelle Prägungen, die trotz veränderter Familienstrukturen alle Zeitläufte untergründig überdauern.
Zerstört Deutschland die Wirtschaft der Länder des Südens?
Kompliziert wird es auch, wenn es um die Auswirkungen geht, die Bildungsschübe - etwa die Alphabetisierung im Gefolge des Buchdrucks - auf Gesellschaften haben. Todd führt da Daten an, über deren Aussagekraft und Interpretation man lange streiten könnte. Teilweise mysteriös wird es, wenn der untergründig wirkende Einfluss der Religion auf die Familienstrukturen und die gesellschaftliche Organisation behandelt wird. Man bekommt da manchmal den Eindruck, Todd selbst verliere den Überblick; dann erstickt er Zweifel in einer Fülle von Statistiken.
Die demokratisch-egalitäre Fundierung per Kernfamilie und die hierarchisch-autoritäre Prägung der von Stammfamilien dominierten Gesellschaften sind die Basis für Todds Gegenwartsanalyse. Die Differenz hat für ihn Auswirkungen auf die Organisationsfähigkeit gesellschaftlicher Subsysteme (etwa des Militärs oder der Wirtschaft), hat auch entscheidenden Einfluss auf den Status der Frauen in Hinsicht auf Bildung und Arbeit und deshalb auf die Geburtenrate einer Gesellschaft. Demographie ist überhaupt eine der entscheidenden Variablen in Todds Analyse.
Während die Geburtenrate in Frankreich und in der Anglosphäre relativ hoch ist, liegt sie in Japan und Deutschland unter dem Reproduktionsniveau. Weil Japan sich, folgt man Todd, mit einer schrumpfenden Bevölkerung abgefunden hat und aus kulturellen Gründen keine Einwanderung zulässt, hat es auch seine früheren geopolitischen Ambitionen aufgegeben. Anders Deutschland, und hier wird das Buch brisant. Todd knüpft an Pamphlete an, in denen er seit Jahren die deutsche Dominanz in Europa anprangert. Er glaubt, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einen Masterplan verfolgt habe, der darauf hinausläuft, mit ökonomischen Mitteln zu erreichen, was zuvor militärisch gescheitert war. Zwar bekenne sich Deutschland zum Freihandel, praktiziere aber tatsächlich Protektionismus. Wofür als Beweis staatlich gesteuerte, nämlich durch Drosselung von Importen erzielte, Handelsüberschüsse angeführt werden. Zudem habe Deutschland Frankreich den Wirtschaftskrieg erklärt und sei dabei, ihn auch zu gewinnen.
Dazu kommt die demographische Komponente: Die Suche nach Arbeitskräften habe sich in Deutschland für Arbeitgeber und Regierung "zu einer Art Obsession entwickelt", die auch die deutsche Außenpolitik bestimme, etwa in Gestalt der "Zerstörung der Wirtschaft der Länder des Südens", weil junge und gut qualifizierte Arbeitskräfte aus Spanien, Griechenland, Italien und Portugal nach Deutschland gelockt werden. Klar, dass da auch die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel nicht als Ausfluss humanitärer Gesinnung gewertet, sondern als Ergebnis eines kalten demographischen Kalküls dargestellt wird.
Nicht der Krieg, sondern der Frieden soll das soziale Problem sein
Nicht nur der europäische Süden ist in Todds Augen ein Opfer des deutschen Wirtschaftsnationalismus und seiner anderen aufgezwungenen Austeritätspolitik. Auch die "Aufrechterhaltung der Unordnung" und der Zerfall der Ukraine gingen auf die deutsche Einmischung in die ukrainischen Angelegenheiten zurück. Denn von dort könnte eines Tages eine neue "Zufuhr von Arbeitskräften und Einwanderern" nach Deutschland kommen. Und dann kommt der Höhepunkt: Todd meint, es sei "Trumps Ruhmesblatt", dass er Deutschland als den wirtschaftlichen Feind erkannt habe, der "unter anderem auch das strategische Ziel hat, die von China geschwächte amerikanische Industrie zugrundezurichten".
Diese Diagnose zeigt Todds obsessives Festhalten an der Unterstellung, deutsche Politik verfolge - die Parteien übergreifend - perfide Pläne. Es ist eine Diagnose, die im politischen Spektrum Frankreichs (und nicht nur dort) tatsächlich Beachtung findet. Immerhin fast die Hälfte der Franzosen haben bei der letzten Präsidentenwahl für die Rechtspopulistin Marine Le Pen, den linken Volkstribun Jean-Luc Mélenchon und andere Radikale gestimmt, die in ihren Wahlkämpfen ähnliche Thesen verbreitet haben.
Der deterministische Ansatz Todds prägt auch seine Sicht der Moderne. Die Nation ist für ihn ein quasi naturwüchsiges Gebilde, das sich oberhalb der Familienstrukturen gebildet hat. Schon deshalb sei eine Europäische Union, die sich an der Abschaffung der Nationen versucht, ein Unding. Zum Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation gehöre auch - hier lässt Carl Schmitt grüßen -, dass sie einen Feind braucht. Das kann ein innerer Feind sein, wie es die schwarze Bevölkerung in Amerika nach Todds Diagnose immer noch ist; und es kann selbstverständlich auch ein äußerer Feind sein. Todd sieht, wenn auch bedauernd, die Fremdenfeindlichkeit der Nationen, auf die etwa der Brexit zurückgeht, als eine Art Naturgesetz an: Nicht Krieg, sondern der Frieden ist für ihn "ein soziales Problem", denn "jeder dramatische Rückgang an äußerer Gewalt bedroht letztlich die Moralität und den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe".
Hier schließt auch seine Analyse des (rechten oder linken) Populismus an. Er konstatiert den Bankrott des liberalen politischen Modells und sieht Populismus als "demokratischen Aufbruch, der sukzessiv in den einzelnen westlichen ,Demokratien' auftritt, die durch den Freihandel und die neue bildungsmäßige Schichtung der Gesellschaft beschädigt wurden". Letzteres zielt auf eine gebildete kosmopolitische "Oligarchie", die andere Interessen und Ziele verfolge als die Masse der Bevölkerung, also auf eine öfters schon diagnostizierte Spaltung der Gesellschaft.
Man fragt sich, ob diese politischen Thesen noch irgendetwas mit der Unterscheidung von Kern- und Stammfamilie zu tun haben. Jedenfalls sind andere Autoren, die ähnliche Beschreibungen der Gegenwart geliefert haben, auf ganz anderen Wegen zu ihren Behauptungen gekommen. Was den wissenschaftlichen Anspruch dieses Buches angeht, weiß man nicht recht, worüber man sich mehr ärgern soll: über den Determinismus von Todds Herleitungen oder über die Determiniertheit seiner Prognosen. Dass Bücher wie dieses in Frankreich Erfolg haben und ihre Thesen in ernsthaften Debatten angeführt werden, ist für sich genommen schon ein Krisensymptom: Zeichen der verbreiteten Ratlosigkeit in der Politik.
GÜNTHER NONNENMACHER
Emmanuel Todd:
"Traurige Moderne". Eine Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zum Homo americanus.
Aus dem Französischen von W. Damson und E. Heinemann. C. H. Beck, München 2018. 550 S., geb., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein aufregendes und provokantes Buch."
Neues Deutschland, Wolfgang M. Schmitt
Neues Deutschland, Wolfgang M. Schmitt