»Man muss ihr zuhören und sie lesen, denn ihre Erzählung wird uns für immer verändern.« Beata Umubyeyi Mairesse
Das Buch, über das ganz Frankreich sprach, der Überraschungs-Bestseller, mit sechs Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. dem Prix Femina und dem Premio Strega Europeo 2024. »Dieses Buch macht Angst, bevor man es gelesen hat; wenn man es dann liest, verliert man die Angst sofort.« Aus der Begründung der Schüler:innen-Jury für den Prix Goncourt des lycéens
Eine in ihrer radikalen Ehrlichkeit außergewöhnliche Schriftstellerin. Als Kind immer wieder sexueller Gewalt ausgesetzt, erzählt Neige Sinno von einem Familienleben, das um Lügen und Täuschungen herum gebaut ist. Und von den vielen Facetten von Erinnerung, den vielen Gesichtern eines Menschen in Ungeheuerlichkeit und Banalität. Wie werden wir zu denen, die wir sind? Kommt vor Gericht zur Sprache, was in Familien ungesagt bleibt? Neige Sinno erzählt vielstimmig, nähert sich ohne Pathos der Wahrheit. Ein kristallklarer Stil, ein so kluges wie Mut machendes Buch, das in Frankreich die Herzen von Hunderttausenden von Leserinnen und Lesern eroberte.
Das Buch, über das ganz Frankreich sprach, der Überraschungs-Bestseller, mit sechs Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. dem Prix Femina und dem Premio Strega Europeo 2024. »Dieses Buch macht Angst, bevor man es gelesen hat; wenn man es dann liest, verliert man die Angst sofort.« Aus der Begründung der Schüler:innen-Jury für den Prix Goncourt des lycéens
Eine in ihrer radikalen Ehrlichkeit außergewöhnliche Schriftstellerin. Als Kind immer wieder sexueller Gewalt ausgesetzt, erzählt Neige Sinno von einem Familienleben, das um Lügen und Täuschungen herum gebaut ist. Und von den vielen Facetten von Erinnerung, den vielen Gesichtern eines Menschen in Ungeheuerlichkeit und Banalität. Wie werden wir zu denen, die wir sind? Kommt vor Gericht zur Sprache, was in Familien ungesagt bleibt? Neige Sinno erzählt vielstimmig, nähert sich ohne Pathos der Wahrheit. Ein kristallklarer Stil, ein so kluges wie Mut machendes Buch, das in Frankreich die Herzen von Hunderttausenden von Leserinnen und Lesern eroberte.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Für Rezensentin Livia Sarai Lergenmüller steht dieser Roman buchstäblich für die Erfindung einer literarischen Form, die den Missbrauch in seiner ganzen Gewalt offenbart. Neige Sinno erzählt, wie sie als junges Mädchen von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde. Um überhaupt Worte zu finden, greift die Autorin auf literarische Referenzen zurück, die dieses Thema behandeln, und Lergenmüller ist beeindruckt von der Kohärenz und Stärke des Textes. Dass Sinnos Prosa sich bis zum Schluss bewusst ist, die Wahrheit nicht ganz artikulieren zu können, diese Ohnmacht der Wörter angesichts der Gewalt, macht für die Rezensentin die Größe dieses "meisterhaften Stücks Literatur" aus, das dadurch zugleich zu einer "vielschichtigen Reflexion" über Gewalt und Macht werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.09.2024„Wir teilen
diese
Einsamkeit“
Neige Sinno hat ein
kühnes Buch über
Missbrauch geschrieben:
ihre eigene Geschichte.
Beim Treffen in Paris
spricht sie darüber, was man
Lesern zumuten kann.
VON JOHANNA ADORJÁN
Was vermag Literatur? Kann es gelingen, sich von grausamen Erfahrungen frei zu schreiben? Lässt sich Missbrauch, den man als Kind erlitten hat, wie man so sagt, von der Seele schreiben?
Nein, sagt Neige Sinno.
Die 1977 geborene französische Schriftstellerin wurde im Alter von sieben bis vierzehn Jahren von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. Sie hat über diese Erfahrung ein monumentales Buch geschrieben, „Trauriger Tiger“, das in Frankreich, wo es vergangenes Jahr erschien, viel Aufsehen erregte und wichtige Preise gewann. Sinno hatte zuvor schon zwei Bücher veröffentlicht, war aber vor „Trauriger Tiger“ auch in Frankreich unbekannt. Seit vielen Jahren lebt sie in Mexiko, ist Lehrbeauftrage für Interkulturelle Studien an der Escuela Nacional de Estudios Superiores in Morelia, im Bundesstaat Michoacán. Sie ist Mutter einer zehnjährigen Tochter, was noch eine Rolle spielen wird.
An einem verregneten Pariser Vormittag empfängt sie im Büro ihres französischen Verlegers zum Interview. Sie ist blass und schmal, trägt dunklen Pullover zu Jeans, die aschblonden langen Haare hat sie nachlässig hochgesteckt. Vor ihr auf dem Tisch liegt ihr Buch. „Ich habe es nicht geschrieben, um etwas zu verarbeiten“, sagt sie darüber. „Das lag längst hinter mir, das ist ja alles 30, 40 Jahre her. Nein, mir kam einfach irgendwann der Gedanke, dass das, was ich erlebt habe, literarisches Material sein könnte. Und das Ziel, mein einziges Ziel, war es, ein interessantes Buch darüber zu schreiben. Ein gutes Buch.“
„Trauriger Tiger“, ausdrücklich kein Roman, sondern ein Werk der Nonfiction, ist keine Betroffenheitsgeschichte, es will vom Leser kein Mitleid. Es ist ein elegant geschriebenes, kühn gedachtes intellektuelles Unterfangen, das dem Leser Gelegenheit bietet, die Gedanken einer Frau kennenzulernen, die als Kind Opfer von sexuellem Missbrauch war. Ihre persönliche Geschichte bettet Sinno dabei in einen Kontext, der weit über sie hinausweist, der voller philosophischer und literarischer Referenzen ist.
Gleich mit dem ersten Satz springt man mitten hinein in einen inneren Monolog. „Denn auch ich interessiere mich im Grunde vor allem für das, was im Kopf des Täters vor sich geht.“ So beginnt dieses Buch, das hauptsächlich von zwei Menschen handelt, die nur deshalb für immer miteinander verknüpft sind, weil der eine, ein erwachsener Mann, ein ihm schutzbefohlenes Kind zu vergewaltigen begann. Die Erzählung springt aber auch meisterlich mühelos zwischen Tonalitäten, Ebenen, Zeiten hin und her.
Die Fakten: Neige Sinno wuchs in der Region Hautes-Alpes im Südosten Frankreichs auf. Ihr Vater verunglückte früh, ihre Mutter heiratete neu. Als Sinno sechs Jahre alt war, begann ihr Stiefvater, ein allseits beliebter sportlicher Mann, mit dem ihre Mutter sehr glücklich war, sie zu vergewaltigen. Die Vergewaltigungen hörten erst auf, als sie ein Teenager war. Anschließend lebte man weiter unter einem Dach, der Rest der Familie ahnte nichts. Als ihre zwei jüngsten Geschwister dann in das Alter kamen, in dem er bei ihr angefangen hatte, entschied Sinno, ihren Stiefvater anzuzeigen, um die Geschwister zu schützen. Sie erzählte ihrer Mutter, was geschehen war. Die zögerte ein ganzes Jahr, dann trennte sie sich von ihrem Mann und unterstützte ihre Tochter. Es kam zu einem Prozess, der auf Neige Sinnos Wunsch hin öffentlich stattfand. Der Stiefvater gestand, wurde zu neun Jahren Haft verurteilt und nach fünf Jahren entlassen. Die Strafe gilt als verbüßt, er lebt heute irgendwo ein neues Leben. Sie hingegen, schreibt sie, sei dazu verurteilt, für immer Opfer zu sein.
„Ja, na ja, das habe ich geschrieben“, sagt Sinno, „ein wenig pathetisch vielleicht. Es trifft zu, aber es macht nur einen Teil meiner Persönlichkeit aus.“ Im Vergnügen daran, sich selbst zu hinterfragen, zu korrigieren und gegebenenfalls zu widersprechen, besteht auch ein großer Reiz ihres Buches. „Ich bin eine 47-jährige Mutter, ich bin das kleine Mädchen, das vergewaltigt wurde, ich bin auch jemand, der Literatur studiert hat und es liebt, die Texte anderer Autoren zu analysieren.“ Sie habe lange darüber nachgedacht, ob sie das Buch in der Ich-Form schreiben solle, denn welches Ich spreche denn da, das heutige oder das frühere? Oder in der dritte Person Singular. Beides schien richtig, beides schien falsch zu sein. Sie hat sich für die Ich-Form entschieden, es ist aber kein um Empathie heischendes Ich, sondern kann so distanziert klingen, als benutze sie es zu reinen Forschungszwecken.
Sinno selbst würde, wie sie ihrem Leser gesteht, in Wahrheit lieber etwas lesen, das ihr Stiefvater geschrieben hätte, als noch einen Bericht eines Opfers, wie es sie ja zuhauf gebe. „In die Opfer können wir uns alle hineinversetzen, das ist leicht“, schreibt sie. „Auch wenn wir es nicht selbst erlebt haben – eine traumatische Amnesie, die Schockstarre, das Schweigen der Opfer – so können wir uns doch alle vorstellen, wie es ist, zumindest glauben wir das.“
Der Täter aber, das sei etwas anderes. Da sei noch so vieles unklar. Zum Beispiel: Was muss geschehen, damit ein erwachsener Mensch die Grenze überschreitet, die ihn vom liebevollen Vater zum Sexualstraftäter macht? Welche Verschiebung findet da innerlich statt? Warum entscheidet sich jemand für das Böse? Um diese Fragen kreist ihr Buch, dessen Subthema die Faszination des Bösen ist, der auch sie sich nicht entziehen kann. Sie, die französische, angelsächsische und lateinamerikanische Literatur studierte, hat die Weltliteratur nach Werken abgesucht, die aus Sicht eines Vergewaltigers erzählt sind, und nur ein einziges gefunden: Nabokovs „Lolita“. Sie nennt es ein „ungemütliches Buch“ und ein „Meisterwerk“, das lange verkannt worden sei, weil man die literarische Intention des Autors mit seiner Haltung verwechselte. „Man wird hier als Leser vom Erzähler manipuliert“, sagt sie. „Man entwickelt Empathie mit ihm. Das war eine bewusste Entscheidung von Nabokov. Wir sind im Kopf eines Kriminellen, der sein Netz spinnt und sich und uns Märchen erzählt, um uns auf seine Seite zu ziehen. Das ist hochinteressant.“
Und doch schütze Nabokov seinen Leser durch Ellipsen, Auslassungen. Er benenne zwar an einer Stelle ausdrücklich das Thema – „The word is incest“, lässt er Lolita sagen –, doch beschreibt er diesen Inzest nicht. Sinno hingegen, natürlich eine ganz andere Schriftstellergeneration, findet, dass ausbuchstabiert werden muss, worum es geht. Damit der Leser sich nicht darum herummogeln könne. Sie schreibt: „Solange man nicht den Penis des vierzigjährigen Mannes im kleinen Mund des Mädchens sieht, ihre tränenfeuchten Augen, da sie glaubt, gleich ersticken zu müssen, solange sieht man noch nichts, solange ist es noch möglich zu sagen, dass es sich um Liebe handelt, die Geschichte einer Amour fou.“
Immer wieder bricht die grausame Wahrheit jäh in den Text ein. Einmal betrachtet sie Kindheitsfotos. „Wenige Stunden nach diesen Fotos, oder davor, hat er mich beiseite genommen und in ein Zimmer gezerrt und ich habe ihm einen geblasen. Ich musste mich nicht bücken, er stand einfach da und ich vor ihm, denn ich reichte ihm gerade mal bis zur Taille.“ Sie sieht sich auf diesen Fotos und fragt: „Wie kann ein solches kleines Mädchen den Blick eines Mannes auf sich ziehen? Was sieht er in ihr, wenn er sie anschaut? Was kann erotisch sein an einem kleinen Wesen mit verkrusteten Knien, das noch nicht alle Milchzähne verloren hat und das über eine Stunde damit zubringen kann, nachmittags zwischen den heißen Steinen Eidechsen zu jagen?“
Sie wird nie erfahren, was im Kopf ihres Stiefvaters vorging, weiß nur, was er ihr ins Ohr flüsterte, während er auf ihr lag: wie sehr er sie liebe und dass er sich ihr auf diese Weise nähern müsse, da sie immer so distanziert zu ihm sei. Mit solchen Sätzen schob er ihr die Verantwortung dafür zu, sie zu vergewaltigen, gewissermaßen vergewaltigen zu müssen.
In einer unerhört gewagten Szene sitzt sie am Bett ihrer schlafenden zehnjährigen Tochter und überlegt, wie es wäre, wenn sie selbst nun diese Grenze überschreiten würde. Was wäre, wenn sie ihrer Tochter nicht länger nur den Rücken kraulen, sondern die Hand in ihre Unterhose gleiten lassen würde? Sie könne die Grenze spüren, schreibt sie über diesen Moment, und bekomme allmählich eine Ahnung davon, was für einen wahnsinnigen Energieschub das Übertreten auslösen würde. Es ist keine sexuelle Erregung, die sie spürt, sondern dieser Kitzel, der mit Verbotenem einhergeht.
„Ich weiß, dass diese Stelle für den Leser heftig ist“, sagt sie in Paris. „Und eines Tages wird es auch für meine Tochter heftig, wenn sie liest, dass ich das geschrieben habe.“ Und doch sei ihr diese Szene wichtig. „Wenn man Opfer war, fürchtet man, selbst Täter werden zu können. Das kann man einfach so sagen. Ich wollte das anekdotisch erzählen, damit der Leser sich vorstellen kann, was da im Kopf vor sich geht. Ich wollte die haarscharfe Möglichkeit, zur Tat überzugehen, illustrieren.“ Was sie überzeugt habe, diese Passage im Buch zu lassen, war die Reaktion einer Freundin, selbst Opfer von sexuellem Missbrauch, die das Buch vorab las. „Sie rief mich an und sprach nur über diese Stelle. Sie hat eine kleine Tochter, und sie sagte, diese Passage zu lesen, habe ihr die Erlaubnis gegeben, ihre eigenen Gedanken nicht mehr zu verdrängen. Denn auch sie kennt sie. Und solche Gedanken zu haben, bedeutet nicht, dass man zum Täter werden wird. Das ist ganz wichtig zu verstehen. Dennoch gibt es diese Gedanken, viele Opfer haben sie. Deshalb habe ich das dringelassen.“
Sie erwähnt Untersuchungen, denen zufolge 20 Prozent aller Opfer sexueller Gewalt später selbst Täter werden. „Aber das heißt auch, 80 Prozent aller Opfer werden es nicht“, sagt sie. Dass der Umstand, Opfer gewesen zu sein, dennoch vor Gericht als strafmildernd gilt, findet sie fatal. „Man darf sich nicht darauf als Erklärung beschränken“, sagt sie. „Das würde ja bedeuten, ich wäre im Grunde dazu verdammt, solche Taten an anderen zu wiederholen. Dies nicht zu tun ist aber mein erklärtes Lebensziel. Ich will ein guter und beschützender Erwachsener sein.“ Ihre Hypothese: Es gibt einen Moment der Wahl, immer. „Das ist eine Hypothese, die es mir ermöglicht zu leben. Sie erlaubt mir, jeden Tag das Gefühl zu haben, dass ich die Wahl treffe, niemanden zu missbrauchen, nicht zu lügen. Und meine Theorie ist, dass auch er damals die Wahl hatte. Das ist schrecklich, denn es bedeutet, dass er es gewählt hat, das zu tun.“
„Trauriger Tiger“ ist eine Heldengeschichte. Die Heldin ist sie, Neige Sinno. Und deswegen endet ihr Buch nicht mit dem Ende des Missbrauchs und auch nicht mit der Verurteilung des Täters. Es geht noch weiter, denn sie lebt mit ihrer Geschichte. Und einer der Siege, die sie errungen hat, ist es, dem kleinen Mädchen, das sie einmal war, einen Platz in der Literatur zu verschaffen und damit all den anderen kleinen Mädchen und Jungen, denen man das Gleiche angetan hat, antut, wie ihr. Sinno glaubt nicht daran, dass Literatur diese Kinder oder sie selbst retten kann. Aber: „Ich schreibe, um ihnen zu sagen: nicht nur ihr seid allein, ich bin es auch. Wir teilen diese Einsamkeit. Wir sind zusammen in dieser Einsamkeit. Das wird uns nicht retten, aber es ist schonmal etwas.“
Der Stiefvater gestand
und wurde zu neun
Jahren Haft verurteilt
Was geschehen, wenn
ein erwachsener Mensch
die Grenze überschreitet?
Es gibt einen
Moment der
Wahl, immer
„Ich will ein guter
und beschützender
Erwachsener sein“, sagt
Neige Sinno über die
Lehre aus ihrer
Kindheitserfahrung.
Foto: JOEL SAGET / AFP
Neige Sinno:
Trauriger Tiger.
Aus dem Französischen
von Michaela Meßner.
dtv, München 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
diese
Einsamkeit“
Neige Sinno hat ein
kühnes Buch über
Missbrauch geschrieben:
ihre eigene Geschichte.
Beim Treffen in Paris
spricht sie darüber, was man
Lesern zumuten kann.
VON JOHANNA ADORJÁN
Was vermag Literatur? Kann es gelingen, sich von grausamen Erfahrungen frei zu schreiben? Lässt sich Missbrauch, den man als Kind erlitten hat, wie man so sagt, von der Seele schreiben?
Nein, sagt Neige Sinno.
Die 1977 geborene französische Schriftstellerin wurde im Alter von sieben bis vierzehn Jahren von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht. Sie hat über diese Erfahrung ein monumentales Buch geschrieben, „Trauriger Tiger“, das in Frankreich, wo es vergangenes Jahr erschien, viel Aufsehen erregte und wichtige Preise gewann. Sinno hatte zuvor schon zwei Bücher veröffentlicht, war aber vor „Trauriger Tiger“ auch in Frankreich unbekannt. Seit vielen Jahren lebt sie in Mexiko, ist Lehrbeauftrage für Interkulturelle Studien an der Escuela Nacional de Estudios Superiores in Morelia, im Bundesstaat Michoacán. Sie ist Mutter einer zehnjährigen Tochter, was noch eine Rolle spielen wird.
An einem verregneten Pariser Vormittag empfängt sie im Büro ihres französischen Verlegers zum Interview. Sie ist blass und schmal, trägt dunklen Pullover zu Jeans, die aschblonden langen Haare hat sie nachlässig hochgesteckt. Vor ihr auf dem Tisch liegt ihr Buch. „Ich habe es nicht geschrieben, um etwas zu verarbeiten“, sagt sie darüber. „Das lag längst hinter mir, das ist ja alles 30, 40 Jahre her. Nein, mir kam einfach irgendwann der Gedanke, dass das, was ich erlebt habe, literarisches Material sein könnte. Und das Ziel, mein einziges Ziel, war es, ein interessantes Buch darüber zu schreiben. Ein gutes Buch.“
„Trauriger Tiger“, ausdrücklich kein Roman, sondern ein Werk der Nonfiction, ist keine Betroffenheitsgeschichte, es will vom Leser kein Mitleid. Es ist ein elegant geschriebenes, kühn gedachtes intellektuelles Unterfangen, das dem Leser Gelegenheit bietet, die Gedanken einer Frau kennenzulernen, die als Kind Opfer von sexuellem Missbrauch war. Ihre persönliche Geschichte bettet Sinno dabei in einen Kontext, der weit über sie hinausweist, der voller philosophischer und literarischer Referenzen ist.
Gleich mit dem ersten Satz springt man mitten hinein in einen inneren Monolog. „Denn auch ich interessiere mich im Grunde vor allem für das, was im Kopf des Täters vor sich geht.“ So beginnt dieses Buch, das hauptsächlich von zwei Menschen handelt, die nur deshalb für immer miteinander verknüpft sind, weil der eine, ein erwachsener Mann, ein ihm schutzbefohlenes Kind zu vergewaltigen begann. Die Erzählung springt aber auch meisterlich mühelos zwischen Tonalitäten, Ebenen, Zeiten hin und her.
Die Fakten: Neige Sinno wuchs in der Region Hautes-Alpes im Südosten Frankreichs auf. Ihr Vater verunglückte früh, ihre Mutter heiratete neu. Als Sinno sechs Jahre alt war, begann ihr Stiefvater, ein allseits beliebter sportlicher Mann, mit dem ihre Mutter sehr glücklich war, sie zu vergewaltigen. Die Vergewaltigungen hörten erst auf, als sie ein Teenager war. Anschließend lebte man weiter unter einem Dach, der Rest der Familie ahnte nichts. Als ihre zwei jüngsten Geschwister dann in das Alter kamen, in dem er bei ihr angefangen hatte, entschied Sinno, ihren Stiefvater anzuzeigen, um die Geschwister zu schützen. Sie erzählte ihrer Mutter, was geschehen war. Die zögerte ein ganzes Jahr, dann trennte sie sich von ihrem Mann und unterstützte ihre Tochter. Es kam zu einem Prozess, der auf Neige Sinnos Wunsch hin öffentlich stattfand. Der Stiefvater gestand, wurde zu neun Jahren Haft verurteilt und nach fünf Jahren entlassen. Die Strafe gilt als verbüßt, er lebt heute irgendwo ein neues Leben. Sie hingegen, schreibt sie, sei dazu verurteilt, für immer Opfer zu sein.
„Ja, na ja, das habe ich geschrieben“, sagt Sinno, „ein wenig pathetisch vielleicht. Es trifft zu, aber es macht nur einen Teil meiner Persönlichkeit aus.“ Im Vergnügen daran, sich selbst zu hinterfragen, zu korrigieren und gegebenenfalls zu widersprechen, besteht auch ein großer Reiz ihres Buches. „Ich bin eine 47-jährige Mutter, ich bin das kleine Mädchen, das vergewaltigt wurde, ich bin auch jemand, der Literatur studiert hat und es liebt, die Texte anderer Autoren zu analysieren.“ Sie habe lange darüber nachgedacht, ob sie das Buch in der Ich-Form schreiben solle, denn welches Ich spreche denn da, das heutige oder das frühere? Oder in der dritte Person Singular. Beides schien richtig, beides schien falsch zu sein. Sie hat sich für die Ich-Form entschieden, es ist aber kein um Empathie heischendes Ich, sondern kann so distanziert klingen, als benutze sie es zu reinen Forschungszwecken.
Sinno selbst würde, wie sie ihrem Leser gesteht, in Wahrheit lieber etwas lesen, das ihr Stiefvater geschrieben hätte, als noch einen Bericht eines Opfers, wie es sie ja zuhauf gebe. „In die Opfer können wir uns alle hineinversetzen, das ist leicht“, schreibt sie. „Auch wenn wir es nicht selbst erlebt haben – eine traumatische Amnesie, die Schockstarre, das Schweigen der Opfer – so können wir uns doch alle vorstellen, wie es ist, zumindest glauben wir das.“
Der Täter aber, das sei etwas anderes. Da sei noch so vieles unklar. Zum Beispiel: Was muss geschehen, damit ein erwachsener Mensch die Grenze überschreitet, die ihn vom liebevollen Vater zum Sexualstraftäter macht? Welche Verschiebung findet da innerlich statt? Warum entscheidet sich jemand für das Böse? Um diese Fragen kreist ihr Buch, dessen Subthema die Faszination des Bösen ist, der auch sie sich nicht entziehen kann. Sie, die französische, angelsächsische und lateinamerikanische Literatur studierte, hat die Weltliteratur nach Werken abgesucht, die aus Sicht eines Vergewaltigers erzählt sind, und nur ein einziges gefunden: Nabokovs „Lolita“. Sie nennt es ein „ungemütliches Buch“ und ein „Meisterwerk“, das lange verkannt worden sei, weil man die literarische Intention des Autors mit seiner Haltung verwechselte. „Man wird hier als Leser vom Erzähler manipuliert“, sagt sie. „Man entwickelt Empathie mit ihm. Das war eine bewusste Entscheidung von Nabokov. Wir sind im Kopf eines Kriminellen, der sein Netz spinnt und sich und uns Märchen erzählt, um uns auf seine Seite zu ziehen. Das ist hochinteressant.“
Und doch schütze Nabokov seinen Leser durch Ellipsen, Auslassungen. Er benenne zwar an einer Stelle ausdrücklich das Thema – „The word is incest“, lässt er Lolita sagen –, doch beschreibt er diesen Inzest nicht. Sinno hingegen, natürlich eine ganz andere Schriftstellergeneration, findet, dass ausbuchstabiert werden muss, worum es geht. Damit der Leser sich nicht darum herummogeln könne. Sie schreibt: „Solange man nicht den Penis des vierzigjährigen Mannes im kleinen Mund des Mädchens sieht, ihre tränenfeuchten Augen, da sie glaubt, gleich ersticken zu müssen, solange sieht man noch nichts, solange ist es noch möglich zu sagen, dass es sich um Liebe handelt, die Geschichte einer Amour fou.“
Immer wieder bricht die grausame Wahrheit jäh in den Text ein. Einmal betrachtet sie Kindheitsfotos. „Wenige Stunden nach diesen Fotos, oder davor, hat er mich beiseite genommen und in ein Zimmer gezerrt und ich habe ihm einen geblasen. Ich musste mich nicht bücken, er stand einfach da und ich vor ihm, denn ich reichte ihm gerade mal bis zur Taille.“ Sie sieht sich auf diesen Fotos und fragt: „Wie kann ein solches kleines Mädchen den Blick eines Mannes auf sich ziehen? Was sieht er in ihr, wenn er sie anschaut? Was kann erotisch sein an einem kleinen Wesen mit verkrusteten Knien, das noch nicht alle Milchzähne verloren hat und das über eine Stunde damit zubringen kann, nachmittags zwischen den heißen Steinen Eidechsen zu jagen?“
Sie wird nie erfahren, was im Kopf ihres Stiefvaters vorging, weiß nur, was er ihr ins Ohr flüsterte, während er auf ihr lag: wie sehr er sie liebe und dass er sich ihr auf diese Weise nähern müsse, da sie immer so distanziert zu ihm sei. Mit solchen Sätzen schob er ihr die Verantwortung dafür zu, sie zu vergewaltigen, gewissermaßen vergewaltigen zu müssen.
In einer unerhört gewagten Szene sitzt sie am Bett ihrer schlafenden zehnjährigen Tochter und überlegt, wie es wäre, wenn sie selbst nun diese Grenze überschreiten würde. Was wäre, wenn sie ihrer Tochter nicht länger nur den Rücken kraulen, sondern die Hand in ihre Unterhose gleiten lassen würde? Sie könne die Grenze spüren, schreibt sie über diesen Moment, und bekomme allmählich eine Ahnung davon, was für einen wahnsinnigen Energieschub das Übertreten auslösen würde. Es ist keine sexuelle Erregung, die sie spürt, sondern dieser Kitzel, der mit Verbotenem einhergeht.
„Ich weiß, dass diese Stelle für den Leser heftig ist“, sagt sie in Paris. „Und eines Tages wird es auch für meine Tochter heftig, wenn sie liest, dass ich das geschrieben habe.“ Und doch sei ihr diese Szene wichtig. „Wenn man Opfer war, fürchtet man, selbst Täter werden zu können. Das kann man einfach so sagen. Ich wollte das anekdotisch erzählen, damit der Leser sich vorstellen kann, was da im Kopf vor sich geht. Ich wollte die haarscharfe Möglichkeit, zur Tat überzugehen, illustrieren.“ Was sie überzeugt habe, diese Passage im Buch zu lassen, war die Reaktion einer Freundin, selbst Opfer von sexuellem Missbrauch, die das Buch vorab las. „Sie rief mich an und sprach nur über diese Stelle. Sie hat eine kleine Tochter, und sie sagte, diese Passage zu lesen, habe ihr die Erlaubnis gegeben, ihre eigenen Gedanken nicht mehr zu verdrängen. Denn auch sie kennt sie. Und solche Gedanken zu haben, bedeutet nicht, dass man zum Täter werden wird. Das ist ganz wichtig zu verstehen. Dennoch gibt es diese Gedanken, viele Opfer haben sie. Deshalb habe ich das dringelassen.“
Sie erwähnt Untersuchungen, denen zufolge 20 Prozent aller Opfer sexueller Gewalt später selbst Täter werden. „Aber das heißt auch, 80 Prozent aller Opfer werden es nicht“, sagt sie. Dass der Umstand, Opfer gewesen zu sein, dennoch vor Gericht als strafmildernd gilt, findet sie fatal. „Man darf sich nicht darauf als Erklärung beschränken“, sagt sie. „Das würde ja bedeuten, ich wäre im Grunde dazu verdammt, solche Taten an anderen zu wiederholen. Dies nicht zu tun ist aber mein erklärtes Lebensziel. Ich will ein guter und beschützender Erwachsener sein.“ Ihre Hypothese: Es gibt einen Moment der Wahl, immer. „Das ist eine Hypothese, die es mir ermöglicht zu leben. Sie erlaubt mir, jeden Tag das Gefühl zu haben, dass ich die Wahl treffe, niemanden zu missbrauchen, nicht zu lügen. Und meine Theorie ist, dass auch er damals die Wahl hatte. Das ist schrecklich, denn es bedeutet, dass er es gewählt hat, das zu tun.“
„Trauriger Tiger“ ist eine Heldengeschichte. Die Heldin ist sie, Neige Sinno. Und deswegen endet ihr Buch nicht mit dem Ende des Missbrauchs und auch nicht mit der Verurteilung des Täters. Es geht noch weiter, denn sie lebt mit ihrer Geschichte. Und einer der Siege, die sie errungen hat, ist es, dem kleinen Mädchen, das sie einmal war, einen Platz in der Literatur zu verschaffen und damit all den anderen kleinen Mädchen und Jungen, denen man das Gleiche angetan hat, antut, wie ihr. Sinno glaubt nicht daran, dass Literatur diese Kinder oder sie selbst retten kann. Aber: „Ich schreibe, um ihnen zu sagen: nicht nur ihr seid allein, ich bin es auch. Wir teilen diese Einsamkeit. Wir sind zusammen in dieser Einsamkeit. Das wird uns nicht retten, aber es ist schonmal etwas.“
Der Stiefvater gestand
und wurde zu neun
Jahren Haft verurteilt
Was geschehen, wenn
ein erwachsener Mensch
die Grenze überschreitet?
Es gibt einen
Moment der
Wahl, immer
„Ich will ein guter
und beschützender
Erwachsener sein“, sagt
Neige Sinno über die
Lehre aus ihrer
Kindheitserfahrung.
Foto: JOEL SAGET / AFP
Neige Sinno:
Trauriger Tiger.
Aus dem Französischen
von Michaela Meßner.
dtv, München 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
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Ein erschütternd eindringliches und wichtiges Buch. Elke Heidenreich Spiegel online 20241006